Читать книгу Das Geheimnis von Valmy - Raimund Lauber - Страница 6

3. Kapitel Was Martin Kruttenschnitt über die Revolution
und die minervische Eule zu sagen weiß
und Wendelin das Gewissen schlägt.

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Ich wartete bis Poggibonsi hinter dem Holztor verschwunden war, erst dann nahm ich sein Abschiedsgeschenk genauer in Augenschein. Es war keine gewöhnliche Börse, die er mir zugedacht hatte, sondern eine Wickelbörse, einer kleinen Mappe nicht unähnlich, wie man sie manchmal bei Reisenden finden kann. Sie war aus rötlichem gehämmertem Leder gearbeitet und wurde von zwei geschmeidigen, fest mit ihr verbunden Lederbändchen zusammengehalten. Als ich die Schleife löste und behutsam die Börse aufklappte, leuchtete mir golden ein kunstvoll ineinander verschlungenes Monogramm mit den Buchstaben WFV entgegen. So etwas Schönes hatte ich noch nie gesehen, geschweige denn besessen. Ich hob das Leder an die Nase und schnupperte daran. Es roch neu und kostbar. In drei Fächern steckten Zahlungsanweisungen von unterschiedlicher Höhe auf meinen Namen und in einem eingearbeiteten Täschchen klimperten Münzen. Poggibonsi hatte sich nicht lumpen lassen. Alles zusammengerechnet ergab es für einen armen Studenten ein nettes Sümmchen. „Sorgen ade! Bis wir uns wieder sehen wird viel Wasser den Rhein hinunter fließen“, jubelte ich und beschloss zur Feier des Tages meinem immer hungrigen Zimmergenossen eine kleine Überraschung zu bereiten. Die allgemeine Teuerung, unter der die Stadt durch die Flut der französischen Gäste litt, schreckte mich nicht davon ab, einen zweipfündigen Laib Brot, einen Ring geräucherter Wurst, eine dicke Scheibe haltbaren Käses und einen Liter vom heimischen Wein einzukaufen. Während ich die zwei Stockwerke zu unserer Bude hinaufkletterte, freute ich mich schon darauf, was Martin für Augen machen würde, wenn ich meine Köstlichkeiten, eine nach der anderen, vor ihm ausbreiten würde. Aber Martin war ausgeflogen und da es traurig ist alleine zu essen, beschloss ich zu warten, bis er zurück käme. Die geschenkte Zeit bis dahin nutzte ich, um die Börse genauer zu untersuchen. Außer den Zahlungsanweisungen fand ich noch eine handgeschriebene Anleitung, wie man einen Brief oder ähnliches, wenn es nicht zu voluminös war, in der Börse unauffindbar machen konnte. Meine Neugierde war geweckt. Mit Hilfe des Zettels machte ich mich Schritt für Schritt daran, das Versteck zu finden. Das forderte mir viel Geduld und noch mehr Fingergeschicklichkeit ab. Als ich das Geheimnis der raffiniert ineinander gehenden Klappen, Fächer und Falten durchschaut hatte, wurde ein Schlitz sichtbar, dessen Öffnung gerade groß genug war, um mit drei Fingern hineingreifen zu können. Ich brachte einen gefalteten Bogen zu Tage, ohne dass er Schaden genommen hatte. Als ich meinen Fund sorgfältig ausbreitete, lag ein Kupferstich des kurfürstlichen Lustschlosses Favorite zu Mainz vor mir auf dem Tisch. Le Rouge, der Künstler, hatte sich der Vogelperspektive bedient, um die verschwenderisch schöne Schlossanlage darzustellen. Auf der linken Seite war der Plan mit einer Legende versehen und eine freie Stelle am rechten, oberen Teil des Blattes enthielt eine Beschreibung der Gesamtansicht, alles in französischer Sprache. Ich vertiefte mich in die Ansicht, ging ein wenig in den Anlagen vor dem Rheinschlösschen spazieren, vorbei an der Thetis-Grotte und zur Orangerie hinauf. Raffiniert wechselnde Blickachsen boten immer neue Aussichten auf Brunnen, Grotten und Wasserspiele, liebevoll eingebettet in feinste französische Gartenkunst. Hier müsste man verweilen dürfen mit einem geliebten Menschen am Arm, in der Abenddämmerung eines Sommertages vielleicht. Stunden hätte ich so verträumen können, aber die Neugierde trieb mich den Bogen zu wenden. Da glotzte mir aus kugelrunden Augen eine kleine, nach antikem Muster stilisierte Eule entgegen. Die Abbildung maß nicht mehr als das letzten Gliedes meines Zeigefingers, war aber zweifelsfrei als die ‚minervische Eule‘, ein uraltes Weisheits-Symbol, zu erkennen, wie sie auf antiken, griechischen Münzen zu finden ist. Ich liebe Eulen. Selbst hier wo ich mir nicht erklären konnte, wie sich der geheimnisvolle Rufer der Nacht auf das Blatt verirrt haben mochte, galt ihm meine ganze Sympathie. Ich kann nicht sagen warum, aber so, wie sich diese Eule vor mir produzierte, fesselte sie meinen Blick in ganz besonderer Weise. Sie erwiderte meine Indiskretion mit einem herausfordernden, ja fast unverschämten Blick aus ihren übergroßen Telleraugen. So starrten wir uns gegenseitig an, bis der Lärm, den Martin üblicherweise veranstaltete, wenn er mit seinem Theologenwanst die steile Treppe herauf schnaufte, den Bann brach. Die Börse konnte ich gerade noch im Bett verschwinden lassen, aber mit dem Kupferstich wusste ich so schnell nicht wohin damit und legte ihn, so gefaltet, dass die minervische Eule unsichtbar war, auf meine Bettdecke, eben noch rechtzeitig, bevor Martin, wieder einmal mit Holzscheiten beladen, zur Türe herein polterte. Ich hatte einfach keine Lust ihm lang und breit zu erklären, wie ich zu diesen Dingen gekommen war. Martin warf demonstrativ laut seine Scheite neben dem Ofen auf den Boden und sah mich vorwurfsvoll an. „Immer muss ich das Holz herauftragen, vom Beschaffen will ich gar nicht reden“, beschwerte er sich. „Ich weiß schon, bin dir auch dankbar dafür. Zum Ausgleich habe ich heute auch etwas herauf geschleppt und Martin, es wird dir gefallen, sogar sehr“, erwiderte ich grinsend und packte nacheinander Brot, Wurst, Käse und Wein aus, genau so, wie ich es mir vorgenommen hatte. Martin sah mir mit ungläubigem Staunen dabei zu. „Wo hast du das alles her?“, fragte er überwältigt, beugte sich über die Speisen und sog genießerisch deren Duft mit geweiteten Nasenflügeln ein. „Gekauft natürlich, was denkst denn du?“ „Bei den Preisen? Woher hast du denn das Geld?“ „Das erzähle ich dir später, jetzt setz dich her und lass uns essen.“ Das ließ sich Martin nicht zweimal sagen, zog sein Messer aus dem Gürtel und teilte, wie weiland sein Namenspatron den Mantel, Brot, Wurst und Käse in zwei einigermaßen gleiche Teile, schob uns jedem eine Hälfte zu, schenkte die Becher randvoll mit Wein, sprach ein kurzes Tischgebet und machte sich heißhungrig über die Gaben Gottes her. Seine unbändige Essenslust hatte manches Mal dazu geführt, dass er schon den Löwenanteil unserer ohnehin nicht üppigen gemeinsamen Speisen in sich hineingestopft hatte, bevor ich überhaupt richtig angefangen hatte zu essen. Das war mir derart gegen den Strich gegangen, dass ich darauf bestand, das Essen vor Beginn der Mahlzeit gerecht zu teilen. Martin gab sich gekränkt, stimmte schließlich widerwillig aber doch zu. Geteilt wurde abwechselnd, gleichgültig, wer für das Essen gesorgt hatte. Meistens beschwerte sich Martin über Ungerechtigkeiten, wenn ich geteilt hatte, vor allem dann, wenn er bereits vor leergegessenem Brett saß und ich noch etwas zu kauen hatte. Am liebsten hätte er die ganze Übereinkunft rückgängig gemacht, was ich natürlich ablehnte. Darauf schlug Martin vor, um unchristlichen Streit zu vermeiden, wie er sagte, dass er die Aufgabe des gerechten Teilens zukünftig ganz übernehme. Ich willigte ein, aus dem gleichen Grund.

Als Martin seinen gröbsten Hunger gestillt hatte, wiederholte er seine Frage über die Herkunft des Geldes, mit dem ich die Kosten für das Festmahl bestritten hatte. Ich konnte mir schon vorstellen, warum er so penetrant auf meinen Finanzen herumritt. Er sorgte sich um die Miete, genauer gesagt, um meinen Anteil der Summe, die für unsere windige Dachkammer fällig war. Während wir es uns schmecken ließen, hatte ich mir etwas zurecht gelegt, von dem ich annahm, dass es seine Sorge zerstreuen würde. Keinesfalls aber würde ich ihm die volle Wahrheit anvertrauen. Ich hatte es mir zur Regel gemacht, wenn ich schon nicht ganz bei den Tatsachen bleiben wollte, wenigsten nichts Neues zu erfinden. Lieber hangelte ich mich möglichst nahe an der Wahrheit entlang, um eventuelle Nachfragen leichter beantworten zu können. Also erzählte ich ihm von dem Vorfall beim „Schwanen“ und dass der Fremde, dem ich geholfen hatte, mich anschließend in den Gasthof eingeladen habe. „Wir unterhielten uns beim Wein, aber nach einiger Zeit hatte es der Fremde plötzlich sehr eilig aufzubrechen. So schnell wollte er fort, dass er nicht einmal auf das Zahlen warten wollte. Das Geld das er mir zur Begleichung der Zeche dagelassen hat, war so reichlich bemessen, dass es auch noch für das Essen reichte, das wir eben vertilgt haben.“ Punktum. Alles andere ging ihn nichts an. Martin senkte seinen fleischigen Kopf dorthin wo sein fetter Hals ohne erkennbaren Übergang in die Brust überging. Ich glaubte schon, das sei der Beginn eines Verdauungsschläfchens, da schaute mir Martin voll ins Gesicht und fragte, „worüber habt ihr euch denn unterhalten, du und der Fremde?“ „Über was wohl? Über das, worüber überall geredet wird, über die Revolution und was sie für uns bedeuten könnte“, warf ich ihm hin. „Und was könnte sie für uns bedeuten, nach Meinung des Fremden“, lauerte Martin. „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit für uns und die ganze Welt“, gab ich ihm zur Antwort. Er sah mich bedauernd an, „du bist also auch auf diese ‚Schwamschlawos‘ hereingefallen.“ Abkürzungen waren sein Steckenpferd, diese war mir aber neu. „Schwamschlawos? Was soll denn das wieder heißen?“, fragte ich irritiert. „Schwammige Schlagworte“, verriet er stolz. „Oder wie gefällt dir ‚Schwamasanda‘ für ‚schwammige Massenpropaganda‘? Was meinst du, welche meiner beiden Schöpfungen ist zutreffender?“, stichelte er. „Beide sind falsch, antwortete ich brüsk. „Die Ziele der Revolution sind keineswegs schwammig, sonder rein und klar.“ „Aber warum denn so heftig“, höhnte Martin mit zuckersüßer Stimme, „nimm doch nur einmal die so heiß begehrte Freiheit, die Feindin aller Ordnung, die Hure, derer sich vom Hitzkopf bis zum Säufer jeder Unzufriedene bedient.“ „Sie ist aber auch die Freundin der Erneuerung“, widersprach ich ihm wieder ruhig. „Der Wandel ist ein Phänomen der Zeit und nicht der Freiheit. Die ist lediglich eine Fiktion, unter der jeder etwas anderes versteht.“ Damit war es vorbei mit meiner Zurückhaltung. „Die Forderung nach Freiheit von Bevormundung und Hunger ist weder schwammig noch fiktiv, sonders etwas sehr Reales. Gerade du solltest, wenigstens was den Hunger anbelangt, Verständnis haben.“ Tatsächlich räumte er ein, „was den Hunger betrifft, stimme ich dir zu, mit der Bevormundung ist es etwas anderes. Du studierst doch Geschichte, da solltest du wissen, dass die Masse weder zur Freiheit begabt ist, noch sie wirklich will. Sie führt die Freiheit zwar gerne im Mund, weil sie sich allerlei von ihr erwartet, oft nichts Gutes, nur eines will sie nicht, Verantwortung, die unbequeme Schwester der Freiheit, zu tragen. Die Masse lechzt nach Autorität, zu der sie empor blicken und auf die sie alle Verantwortung abwälzen kann. Ihr folgen sie klag- und fraglos, vorausgesetzt es wird für sie gesorgt.

Der französische Ludwig hat das versäumt und damit seine Untertanen für umstürzlerische Agitatoren anfällig gemacht. Jetzt tanzt das Volk nach deren Pfeife und glaubt in seinem schlichten Gemüt auch noch, dass es selbst den Takt angebe. Mit Freiheit hat das nichts zu tun. Die Masse ist unheilbar blöde. Sie läuft jeder Fahne hinterher, wenn nur die Musik, die dazu spielt, ihren Ohren schmeichelt“, dozierte Martin. „Für einen Teil der Bevölkerung mag das zutreffen“, gab ich zu, „aber der größere und bessere Teil strebt edlen Zielen zu und ist begeistert bereit die Verantwortung dafür zu tragen.“ „Sich ‚anzumaßen‘ solltest du besser sagen“, hakte Martin unversöhnlich ein. „Die neuen Herren verfolgen die Kirche und deren Diener, setzen an Stelle der Gesetze Gottes ihre erbärmliche Vernunft als Maßstab allen Tuns und…“ Martin riss seine fettgepolsterten Äuglein weit auf, heftete sie hypnotisch auf mich und rief in ehrfürchtigem Entsetzen, „sie wollen sein wie Gott!“ Er machte eine wirkungsvolle Pause bevor er düster prophezeite, „was da entstanden ist, mein armer, unbedarfter Wendelin, wird dir noch den roten Haarschopf zu Berge stehen lassen, dessen kannst du gewiss sein. Es ist etwas in die Welt gekommen, an dem die Menschheit schwer zu tragen haben wird“. Das war zu viel. Aber was durfte ich von einem angehenden Priester anderes erwarten als Eifersucht und Hass auf die erwachsende Konkurrenz. Mag sein, dass er glaubte meine gefährdete Seele retten zu müssen, aber ich sah in der penetranten Selbstgerechtigkeit seines Urteils nur die Unfähigkeit die Schranken wahrzunehmen, die ihm die Sicht der Welt verengten und erwiderte trotzig, „ja, du hast recht, es ist tatsächlich etwas Neues in die Welt gekommen, aber nichts, was sie verdirbt, sondern etwas, das der Menschheit das Heil bringen wird“, worauf er, nun außer sich, schrie, „das ist Gotteslästerung, du Heide! Aber merk dir, es gibt Mächte mit denen man sich besser nicht anlegt.“ Ich fragte mich aus wie vielen Verfolgungen die Kirche in ihrer langen Geschichte als Siegerin hervorgegangen ist und gab mir selbst die Antwort: Aus allen! Plötzlich fröstelte es mich.

Ich stand auf und machte mich am Ofen zu schaffen. Nachdem ich Papier hinein gestopft hatte, spaltete ich mit Hilfe eines alten Hackmessers ein paar Späne von einem Holzscheit und schlichtete sie sorgfältig über das Papier, damit das Feuer jederzeit angezündet werden konnte. Im März wird es noch früh dunkel und mit dem Licht geht auch die Wärme. Als ich mich wieder aufrichtete, fand ich Martin wie er über mein Bett gebeugt, fasziniert die minervische Eule auf der Rückseite meines Kupferstiches anstarrte. Als er in unsere Bude geplatzt war, hatte ich den Plan nur flüchtig gefaltet und ihn hastig auf mein Bett geworfen, wo er so zu liegen gekommen war, dass die Eule nicht zu sehen war. Jetzt lag das Blatt so, dass sie uns aus unergründlichen Augen voll ins Gesicht schaute. Das unruhige Flackern der Talgkerze weckte sie zu unheimlichem Leben und ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie uns die ganze Zeit beobachtet hatte. Martin riss sich, mühsam wie mir schien, von ihren Augen los und murmelte irgendetwas, das ich nicht verstand. Er wandte mir sein Mondgesicht zu und schimpfte aufgewühlt, „hast du den Verstand verloren, Wendelin? Willst du dich mit aller Macht zu Grunde richten? Liebst du denn deine Eltern nicht mehr?“ Ich wusste nicht gleich was ihn derart aus der Fassung brachte und fragte, „was ist mit der Eule?“ Da fuhr er mich an, „verschone mich mit deiner Heuchelei, du weißt ganz genau um ihre besondere Bedeutung und auch um die gefährliche Macht, die von ihr ausgeht.“ „Was redest du! Sie ist vollkommen harmlos. Es handelt sich lediglich um die Abbildung der ‚minervischen Eule‘, des heiligen Vogels der Weisheit. Auf Tetradrachmen, den gängigen Münzen aus dem alten Griechenland, findet man sie häufig“, versuchte ich ihn zu beruhigen. Vergeblich. Wie ein Lehrer, der sich einen widerborstigen Schüler vorknöpft, bohrte er, „das ist noch längst nicht alles“. „Nun, er ist auch der Vogel des drohenden Unheils und des Todes“, ergänzte ich folgsam, konnte mir allerdings nicht verkneifen anzufügen, „aber dir, als studiertem Christen, steht der Volksaberglaube schlecht zu Gesicht.“ „Tu nicht so überheblich. Da ist noch etwas ganz anderes um die Eule und du weißt ganz genau wovon ich spreche.“ „Nein, das weiß ich wirklich nicht, Martin.“ Er wedelte mit seinem runden Zeigefinger nervös in Richtung der Angeklagten und erklärte scharf, „genau diese Eule ist das Symbolon der Illuminaten.“ „Was du nicht sagst, das ist mir neu.“ „Von wegen neu! Du hast dich diesen Verbrechern angeschlossen. Wie sonst kämst du an Dokumente mit ihrem Siegel?“ Der Vorwurf war ernst. So duldsam unser Kurfürst mit den Freimaurern umging, weil er sie für unpolitisch hielt, so abgrundtief verhasst waren ihm die Illuminaten. Wollte ich nicht riskieren von der Universität verwiesen zu werden oder noch Schlimmeres zu erleiden, musste ich den Vorwurf Illuminat zu sein, schleunigst aus der Welt schaffen. „Erstens ist das kein Dokument, sondern ein Kupferstich“, argumentierte ich. Martin nahm den Bogen zur Hand, drehte ihn um. Als er in dem Stich den Plan des kurfürstlichen Lustschlosses erkannte, stutzte er überrascht, schwieg aber. „Zweitens handelt es sich bei der Eule um kein Siegel, allenfalls um einen Stempel in der Bedeutung eines ‚ex libris‘ und drittens sind die Illuminaten schon seit 1785 aufgelöst“, trumpfte ich auf und hoffte, damit seiner Anschuldigung den Garaus gemachen zu haben. Die Hoffnung trog. Martin war von meiner Harmlosigkeit noch nicht überzeugt. „Wie kam dann der eulenstigmatisierte Plan in deine Hände“, forschte er. Möglicherweise stamme der Kupferstich aus dem Nachlass der Illuminaten, denn ich hätte ihn für wenig Geld von einem fahrenden Trödler erstanden, tischte ich ihm auf, fühlte aber deutlich, dass mir Martin nicht glaubt. Der Fremde, das Geld, das Symbol der Illuminaten, alles zusammen fügte sich bei ihm in ein anderes Bild, gefährlich und umstürzlerisch. Ich sah mit wachsendem Unbehagen, wie er mit in sich gekehrtem Blick seine feuchte Unterlippe nach außen stülpte, ein sicheres Zeichen, dass es schwer in ihm arbeitete. Schließlich wendete er sich ab. Er besuche eine Andacht im Dom. Sie würde von den exilierten, französischen Priestern8 zelebriert, ließ er mich mit bedeutungsschwerem Blick wissen. Bei diesen glaubensstarken Männern suchte Martin Beispiel und Bestätigung.

Endlich allein! Mit einem Seufzer warf ich mich aufs Bett und überdachte die Lage, in die mich unversehens die Eule verstrickt hatte. Unter anderen Umständen hätte es mir geschmeichelt, mit Goethe, Herder, Montgelas und Nicolai in einem Bund zu sein, aber im Augenblick war mir das ganz entschieden zu viel der Ehre. Die Illuminaten galten, wie in Wien, auch bei unserem Kurfürsten als die Urheber der großen Revolution. Das leuchtete mir zwar nicht ein, da sich der Orden auf das Reichsgebiet beschränkte, aber, wie auch immer, der Verdacht, ich könnte ihm angehören, zöge mit Sicherheit harte Verfolgung durch die kurfürstliche Polizei nach sich. Eingebrockt hatte mir das Ganze Poggibonsi und ich fragte mich warum er sich dazu verstiegen hatte, mich während seiner Abwesenheit mit einem Rätsel zu beschäftigen. Er kannte mich inzwischen gut genug, um zu wissen, dass ich mir die Frage stellen würde, was der Kupferstich im Geheimfach der Börse zu bedeuten habe und was für einen Zusammenhang es möglicherweise zwischen Geheimfach, Plan und meiner Person geben könnte. War das eine Eignungsprüfung für zukünftige Aufgaben oder schon der Beginn einer Ausbildung? Die drei Komponenten zu einem sinnvollen Ganzen zu vereinen erwies sich als schwierig. Bald musste ich mir eingestehen, dass dem Rätsel mit zielloser Grübelei nicht beizukommen ist, es sei denn, Zufall oder Intuition kämen mir zu Hilfe. Auf dieses unzuverlässige Gespann zu warten, hatte ich weder Zeit noch Lust und um Erleuchtung zu beten, war ich nicht verzweifelt genug. Aber ich erinnerte mich einer Methode, mit der ich der Lösung des Rätsels näher kommen könnte. Man sagt, die Antwort auf eine Frage ziehe 1000 neue nach sich. Es kam nun darauf an, mit möglichst intelligenten Fragestellungen neue Fragen zu provozieren, von denen ich dann diejenigen, die nicht völlig abwegig waren, wieder beantworten wollte und so weiter, bis mich die Fragerei letztlich zu einem Ergebnis führen würde, mit dem ich vor dem Meister bestehen konnte. Die erste Frage, die ich mir eigentlich nur der Gründlichkeit halber stellte, war, wer hat den Stich des Lustschlosses Favorite in die Börse praktiziert? Die Börse war nagelneu. Was lag da näher, als dass Poggibonsi den Plan selbst in dem Geheimfach versteckt hatte? Ich war mir durchaus bewusst, dass das Papier auch auf einem anderen Weg dorthin gelangt sein konnte. Zum Beispiel hätte auch der Täschner den Plan dort hinstecken können, vielleicht um die Tauglichkeit des Geheimfaches zu erproben und dann vergessen haben, ihn wieder heraus zu nehmen. Gegen diese Annahme spricht unter anderem der Plan selbst. Einen Gegenstand wie ihn vermutet man nicht so ohne weiteres in der Werkstatt eines Täschners. Er war in gutem Zustand und repräsentiert einen Wert, der ihn davor bewahrt haben würde, als gewöhnliches Stück Papier missbraucht zu werden, es sei denn, der Täschner verfolge, indem er sich von ihm trennte, einen bestimmten Zweck. Aber warum in aller Welt sollte er das tun? Und angenommen, der Plan stamme tatsächlich aus der Werkstatt des Täschners, wie erklärte es sich dann, dass Poggibonsi ihn nicht entfernt hatte. Denn außer Frage steht, dass es der Handwerkerstolz des Täschners nicht versäumt hatte, seinen Auftraggeber auf das Geheimfach hinzuweisen und trotzdem verblieb der Plan im Versteck bis ich ihn hervorholte. Wohin führen derartige Spekulationen? Ins Nichts! Wenn ich mich nicht heillos verlaufen wollte, musste ich den Weg des Wahrscheinlichen gehen. Ich blieb also bei der Hypothese, dass mein Gönner den Plan dort verstaut hatte. Daraus folgte zwingend, dass auch er es war, der durch die Suchanleitung sicher stellen wollte, dass ich das Geheimfach und damit auch den Plan fände, immer vorausgesetzt, ich würde die Suchanleitung als Köder schlucken. „Aber warum das ganze Versteckspiel?“, fragte ich mich und kam zu dem Ergebnis, dass Poggibonsi einerseits meine Aufmerksamkeit auf die Favorite lenken, mir aber gleichzeitig signalisieren wollte, dass sein Interesse an dem Lustschloss geheim bleiben müsse. So weit so gut. Aber was war es, das seine Neugierde ausgerechnet auf den Ort der Lustbarkeiten unseres Kurfürsten lenkte? Es musste mit „unserer Sache“ zu tun haben, denn sie war es, die mich mit Poggibonsi verband. Welchen Zusammenhang könnte es zwischen dem kurfürstlichen Lustschloss und der Revolution jenseits des Rheins geben? Abgesehen davon, dass Kunstwerke wie die Favorite Symbole dessen sind, wogegen die Revolution anrannte, konnte die Antwort im Ehrgeiz unseres Kurfürsten liegen, seine Residenzstadt zum Zentrum der Gegenrevolution zu machen. Zu diesem Zweck gab er für die bourbonischen Prinzen in der Favorite rauschende Feste, bei denen die Fäden für die Politik gegen das revolutionäre Frankreich gesponnen wurden. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen: Ich stand vor meiner ersten Bewährungsprobe. An Hand des Planes sollte ich mich mit den dortigen Gegebenheiten vertraut machen! Mit gemischten Gefühlen fragte ich mich, um dort was zu tun? Jetzt glaubte ich auch zu wissen, warum er mir den Plan nicht einfach in die Hand gedrückt und eröffnet hatte, was er von mir erwartet. Als uomo d’onore wollte er es mir ersparen, ihm, meinem Gönner, einen Wunsch abzuschlagen, weil er mich in Gefahr bringen würde. Er wollte, dass ich meine Entscheidung ohne Rücksichtnahme treffen würde und stellte es mir deshalb frei, mich zum Fund des Planes zu bekennen oder auch nicht. Im letzteren Fall wäre ich zwar aus dem Schneider, aber unsere Wege würden sich für immer trennen. Anderen Falls ginge ich aufregenden Zeiten entgegen. So schätzte ich meine Lage ein. Zum Glück musste ich mich nicht sofort entscheiden, das hatte Zeit bis Poggibonsi von seiner Reise zurückkehrte. Während ich mir noch das Für und Wider durch den Kopf gehen ließ, fielen mir die Augen zu.

Als ich mich am nächsten Morgen fürs Kolleg fertig machte schlief Martin noch. Unschlüssig ob ich ihn nicht wecken solle, warf ich im Hinausgehen noch einen Blick auf ihn, brachte es aber nicht über mich, seinen Schlaf zu stören. Leise zog ich die Türe hinter mir zu. Das Wetter hatte sich eingetrübt und ein kalter Wind jagte die Leute in ihre Häuser. Nach den Vorlesungen verschob ich meinen üblichen Abstecher zu den Rheinschiffern und machte mich gleich auf den Heimweg. Martin war nicht da.

Zunächst fiel mir nichts Ungewöhnliches auf. Ich entzündete eine der Kerzen, die ich von Poggibonsis Geld gekauft hatte und stellte sie in die Mitte des Tisches, den wir, um das Tageslicht besser ausnutzen zu können, der Länge nach unter die Dachluke gerückt hatten. Der Gerechtigkeit halber hatte Martin darauf bestanden, dass jeder von uns an einer der beiden Schmalseiten des Tisches seinen Platz zum arbeiten haben solle. Der beste Platz direkt vor dem Fenster blieb somit frei. Genau in der Mitte des Tisches verlief eine unsichtbare, aber von Martin eifersüchtig gehütete Grenze, die unsere jeweiligen Anteile am Tisch voneinander trennte. Damals habe ich es mir angewöhnt, diejenigen Bücher, die ich gerade bearbeitete, so anzuordnen, dass sie aufgeschlagen, leicht gegeneinander verschoben, eines über dem anderen zu liegen kamen. Auf diese Weise sparte ich Platz und hatte die einzelnen Werke dennoch griffbereit. Bei wichtigen Passagen, auf die ich später noch zurückkommen wollte, hatte ich Papierstreifen als Einmerker zwischen die Seiten gesteckt. Wenn ich ausging, ließ ich alles so liegen und stehen wie es war. Kehrte ich zu den Büchern zurück, konnte ich auf diese Weise ohne langes Suchen da weiter arbeiten, wo ich aufgehört hatte. Martin handhabte das etwas anders. Wenn er seine Studien unterbrach, rückte er alle Arbeitsutensilien, Papier, Feder, Federspitzer, Tintenfass und Streusandbüchse fein säuberlich auf die Plätze, die er für sie vorgesehen hatte, schloss die Bücher und stapelte sie zu einem ordentlichen Turm.

Ich setzte mich an meinen Platz und als ich zu studieren begann, bemerkte ich, dass die Seiten des Buches, das ich gerade bearbeitete, verblättert waren. Bei der Suche nach der Seite, bei der ich vor meinem Weggang aufgehört hatte zu lesen, stieß ich auf einen Einmerker, den ich an dieser Stelle nicht eingelegt hatte. Die Sache fing an mich zu ärgern und ich untersuchte meine Bücher genauer. Dabei stellte sich heraus, dass die Reihenfolge der Bücher, wie ich sie übereinander gelegt hatte, verändert worden war. Einer meiner Einmerker lag auf dem Boden. Irgendjemand hatte sich an meinen Büchern zu schaffen gemacht, so viel stand fest. Ich inspizierte Martins Platz, fand dort aber alles in der gewohnten peniblen Ordnung, außer, dass aus Martins Bücherturm zwei kleinere, aber genau so akkurat gebaute, geworden waren. Ich überlegte, was ich von der Sache zu halten habe. Gewöhnlich kam niemand zu uns herauf, nur der Hauswirt machte sich ab und zu die Mühe in unseres Daches Höhen zu klettern, wenn wir mit der Miete im Verzug waren. Allerdings wusste er auf geheimnisvolle Weise immer, wann er wenigstens einen von uns antreffen würde, um ihn in die Zange zu nehmen, also auch, wenn wir beide ausgeflogen waren. Andererseits konnte ich es mir beim besten Willen nicht vorstellen, was den biederen Mann dazu veranlassen sollte, auf der Suche nach eingelegten Zetteln meine Bücher auszuschütteln. Aber genau das vermutete ich, dass geschehen war. Ich schloss das aus dem Umstand, dass einer meiner Einmerker auf dem Boden lag und andere willkürlich in den Büchern verteilt worden waren. Misstrauisch geworden untersuchte ich meine anderen Sachen, ohne aber auf irgendwelche Auffälligkeiten zu stoßen, bis ich unter meinem Bettsack nach dem Plan der Favorite tastete, wo ich ihn, einem Impuls folgend, versteckt hatte. Er war fort. Es half auch nichts, dass ich in erstem Schrecken den ganzen Bettsack aus dem Gestell riss. Es staubte fürchterlich, aber der Plan blieb unauffindbar. Nur gut, dass ich Poggibonsis Börse immer bei mir trug. Ich starrte noch immer in mein leeres Bettgestell, als Martin nach Hause kam. „Bist’ wohl auf Läusejagd“, spöttelte er grinsend. Mir war nicht nach Scherzen zumute. Mit unverhohlenem Ärger fragte ich zurück, „ich vermisse meinen Kupferstich, den von der Favorite, du weißt schon. Wo ist er?“ „Suchst‘ ihn wohl in deiner Bettstatt?“, höhnte er, wurde dann aber ernst und versicherte mir mit einem treuherzigen Blick aus seinen braunen Augen, „ich habe wirklich keine Ahnung, wo er sein könnte, Wendelin.“ Es war mir unmöglich ihm zu glauben. Schließlich war er der einzige, der von dem Plan in unserer Kammer wusste. Martin hatte mich in eine Lage gebracht, auf die ich gut und gerne verzichtet hätte. Wie sollte ich, der ich drauf und dran war mich auf Poggibonsis hochbrisante Affären einzulassen, mit jemandem zusammenleben, den ich verdächtigte, auf der Suche nach Beweisen gegen mich, meine Sachen durchsucht und mich obendrein auch noch bestohlen zu haben? Ich beschloss, unsere Wohngemeinschaft aufzugeben, Martin aber nichts davon zu sagen, bis ich eine neue Bleibe gefunden hätte. Das stellte sich als schwierig heraus. Durch die vielen Fremden war die Stadt überfüllt und obwohl ich dank Poggibonsis Großzügigkeit mit der Miete nicht knausern musste, hatte ich bei meiner Budensuche keinen Erfolg. Die Möglichkeit, mich an den Jakobiner André Patocki um Hilfe zu wenden, wie es mir Poggibonsi für den Fall, dass ich in Schwierigkeiten geraten sollte, zum Abschied anempfohlen hatte, hob ich mir bis zum Schluss auf. Erst als klar war, dass auf dem üblichen Weg kein Zimmer zu finden sei und ich vor der Alternative stand, entweder zu bleiben wo ich war, oder Patocki um Hilfe zu bitten, machte ich mich auf den Weg zur Holzstraße, wo der Kaufmann sein Geschäft betrieb. Ungefähr auf halbem Weg zum Holztor entdeckte ich an einem schmalbrüstigen Bürgerhaus ein schwarzmetallenes Schild, an dem mit goldenen Lettern zu lesen stand: „A. Patocki. Neue und alte Bücher jeder Art“. Beim Öffnen der Ladentüre erklang ein helles Glockenspiel, das den Eintritt der Kundschaft verriet. An einem Stehpult arbeitete ein junger Mann. Er blickte auf, legte die Feder beiseite und fragte höflich, womit er dienen könne. „Ist Herr Patocki zu sprechen?“, fragte ich bescheiden. „Sie haben Glück. Er ist seit gestern zurück. Wen darf ich melden?“ „Mein Name ist Vogelsang, Wendelin Francois Vogelsang und sagen Sie Herrn Patocki, ich sei ein Freund von Signor Poggibonsi.“ Wie auf ein Stichwort trat ein dunkel gekleideter, schlanker Mann mittleren Alters aus dem Dämmerlicht des rückwärtigen Ladenareals. „Sie wollen mich sprechen?“, fragte er kühl und ohne meine Antwort abzuwarten, forderte er mich auf, ihm in sein Büro hinter dem Laden zu folgen. Sorgfältig schloss er die Türe hinter uns. „Aus den Erzählungen unseres gemeinsamen Freundes bist du mir nicht ganz unbekannt“, begrüßte er mich und reichte mir die Hand. Sei mir willkommen, Francois. Aber wir müssen vorsichtig sein. Überall lauern Albinis9 Spitzel. Nach dem Attentat auf den schwedischen König wird das noch viel schlimmer werden“, warnte er. „Ein Attentat auf den schwedischen König? Davon weiß ich ja gar nichts!“, rief ich erstaunt. „Pssst“, zischte Patocki indem er mahnend den Zeigefinger an die Lippen legte, „nicht so laut! Davon konntest du auch noch nichts wissen. Erst morgen oder übermorgen wird es in den Zeitungen stehen“, erklärte er mit gedämpfter Stimme. „Wann war das?“, fragte ich ebenso leise. „In der Nacht vom 16. auf 17. dieses Monats. Während eines Maskenballs wurde auf den Schwedenkönig geschossen. Er hatte die Führung der alliierten Truppen bei der Niederschlagung der großen Revolution für sich beansprucht und erhalten. Man wird also uns Jakobinern den Mordanschlag in die Schuhe schieben. Dabei sind wir gar nicht von Nöten, um diesen königlichen Kriegshetzer zu beseitigen. Er hat auch ohne uns genügend Feinde im Land, die ihm ans Leben wollen.“ Er fiel in nachdenkliches Schweigen. „Sprechen Sie weiter“, forderte ich gespannt. „Einer unserer Freunde in Schweden, Thomas Thorild, der streitbare Dichter-Philosoph, bereitete mit seinen furchtlosen Publikationen den Boden für die Tat.“ Aus einer der Schubladen seines Schreibtisches entnahm er ein handgeschriebenes Papier und las daraus vor: „In seinem Wochenblatt ‚Die Weltrepublik‘ vertritt Thorild vehement die Ansicht, dass die Französische Revolution von Gott käme und sie das größte Ereignis zwischen der Sintflut und dem Jüngsten Gericht sei. Wörtlich sagt er: Wenn jetzt einer, der im Besitze der Macht ist, Gott nicht gehorcht und ihn betrügt, so gelte ihm der Spruch: Feriendus“.10 Patocki ließ die Hand sinken und sah mich erwartungsvoll an. Das war mir höchst unangenehm und weil mir nichts Gescheites einfiel, flüchtete ich mich dazu, im Brustton vollkommener Überzeugung zu sagen, „dem ist nichts hinzuzufügen.“ Patocki schien das zu gefallen, denn er nickte zustimmend. „Thorild steht mit dieser Meinung nicht alleine, nicht in Schweden und auch nicht anderswo in Europa. Der Attentäter, ein schwedischer Hauptmann namens Jakob von Ankarström, soll im Auftrag einer Adelsverschwörung gehandelt haben. Im Gedränge des Maskenballs schoss er den König unter die linke Niere und floh, aber neun seiner adeligen Mitverschworenen umstanden den angeschossenen König - keiner von ihnen brachte die Tat zu Ende. Findest du das nicht auch sehr merkwürdig?“ Merkwürdig sei das schon, pflichtete ich ihm bei. „Gustav ist zwar schwer verletzt, aber er lebt immer noch“, bedauerte der Jakobiner. „Wenn er stirbt, wird ein anderer seine Aufgabe übernehmen“, warf ich ein. „Ja so wird es kommen, aber nutzlos wäre sein Tod trotzdem nicht, ganz im Gegenteil, denn stirbt der König, verlässt Schweden die Allianz gegen Frankreich, und Russland wird ihr erst gar nicht mehr beitreten.“ Da ritt mich ein Teufel und ich strahlte wie ein Schmierenkomödiant, „vive la France, vive la republique“. Patocki musterte mich nachdenklich. Langsam sagte er, „die Frage ist nun, wer wandelt Gustavs in Gänze überflüssiges Leben in einen höchst nützlichen Tod?“ Seine Worte fielen wie plötzlicher Hagel in mein Sonntagsgemüt. Seine Brutalität traf mich unvorbereitet und ich schäme mich nicht zu gestehen, dass mich die ungeschminkte Wirklichkeit eines revolutionären Komplotts ängstigte. Es fing an mich zu frösteln, wie immer, wenn ich unvorbereitet mit Unfassbarem konfrontiert werde. Beklommen fragte ich mich, ob es das war, worauf mich mein Meister vorbereiten wollte. „Wissen Sie wo er sich gerade befindet?“ „Wer?“ fragte Patocki hart zurück, obwohl er genau wissen musste, von wem ich sprach. Irgendetwas passte ihm nicht. „Wo ist Poggibonsi“, wiederholte ich meine Frage. Patocki schüttelte den Kopf. „Zuletzt hörte ich von unserem gemeinsamen Freund aus Wien. Er traf sich dort mit dem allmächtigen Fürsten Kaunitz.“ „Sie wissen also nicht, ob Poggibonsi gerade auf dem Weg nach Schweden ist?“, bohrte ich. Wieder schüttelte der Buchhändler den Kopf. Er tat dies in der Art, wie man einem begriffsstutzigen Schüler sein Missfallen zeigt. „Ich glaube nicht, dass das nötig sein wird“, belehrte er mich herablassend während er das Thorild-Papier zurück in die Schublade legte. Offenbar war ihm die Lust am Gespräch mit mir vergangen, denn unvermittelt fragte er nach dem eigentlichen Grund meines Besuches. Ich erzählte ihm vom Verlust des Favorite-Planes und warum ich meinen Mitbewohner verdächtigte der Dieb zu sein. Er hörte interessiert zu und stellte zu Martin einige Fragen. „Bei dem Plan kann ich dir helfen. Im Laden müsste noch ein Exemplar davon zu finden sein“, machte er mir Hoffnung und öffnete die Türe. Ich hatte mein Hauptanliegen noch nicht zur Sprache gebracht. „Einen Moment noch“, bat ich, „da ist noch etwas.“ Patocki schloss wieder die Türe und sah mich erwartungsvoll an. „Es geht um meine Bleibe. Ich kann doch unmöglich weiter mit dem Schnüffler zusammen wohnen“, erklärte ich. „Da hast du allerdings recht.“ „Aber eine andere Bude finde ich nicht. Ich habe alles probiert“, versicherte ich ihm lebhaft. „Ich verstehe. Komm in zwei oder drei Tagen wieder, bis dahin sollte ich etwas Geeignetes für dich gefunden haben.“ Damit öffnete er wieder die Türe und wir gingen zusammen in den Laden. Der Gehilfe stand immer noch über sein Stehpult gebeugt. Patocki zog ein paar flache Schubfächer aus einem Regal, bis er gefunden hatte, was er suchte. „Hier habe ich eine Gesamtansicht der Favorite“, sagte er in geschäftsmäßigem Ton. „Allerdings leider nicht den von Ihnen gewünschten von Le Rouge, sondern einen älteren von Salomon Kleiner. Auch sehr reizvoll, wie Sie sehen. Wenn Sie wollen, nehmen Sie ihn zur Ansicht mit. Inzwischen werde ich mich um den Stich von Le Rouge bemühen.“ Er führte mich zum Ausgang. „Ich danke Ihnen, dass Sie uns beehrt haben. In zwei bis drei Tagen also“, verabschiedete er mich.

Ich stand auf der Straße und wusste nicht wohin mit mir. Das Gespräch mit dem Buchhändler hatte mir mehr zu schaffen gemacht, als mir lieb sein konnte. Es hatte mich, und ich sage dies ohne jede Übertreibung, derart beunruhigt, dass ich mich schwer tat, meine Gedanken zu ordnen. Ein Kommilitone auf dem Weg zu den „Drei Mohren“ in der nahen Augustinerstraße, versuchte mich zu überreden, ihm beim Dämmerschoppen Gesellschaft zu leisten, aber ich winkte ab. Manchmal hilft es, sich jemandem anzuvertrauen, wenn man in Schwierigkeiten steckt und in einem guten Gespräch den Dingen wieder das rechte Maß zu geben, vielleicht auch einen guten Rat zu bekommen oder doch wenigstens ein paar tröstende Worte zu erhalten, aber dieser Weg war mir versperrt. Jedes Wort, das über die Ungeheuerlichkeiten bekannt würde, in die mich der Jakobiner eingeweiht hatte, zöge unabsehbare Folgen nach sich. Der einzige Mensch, dem ich mich hätte öffnen können, wäre Poggibonsi gewesen und der reiste, weiß Gott wo, in der Welt herum. Plötzlich fühlte ich mich sehr einsam. Im letzten Licht des Tages ging ich zum Rhein hinunter und starrte in das Wasser, bis es in der anbrechenden Finsternis langsam schwarz wurde. ‚Schwarz wie der Tod‘, ging es mir durch den Kopf. ‚Nimm dich zusammen, du Narr‘, meldete sich die Vernunft, ‚schließlich ist schwarz die Bedingung für Licht, so wie es nichts Gutes ohne das Böse, es keinen Gott ohne Teufel geben kann und Leben ohne den Tod nicht denkbar ist.‘ Das leuchtete mir ein und ich ging den Schritt, den mir die Vernunft gewiesen hatte. Demnach war der Mord am schwedischen König die Bedingung für die Rettung vieler tausender Soldatenleben, sowohl auf schwedischer wie auf französischer Seite. Der eine Tod gegen das Leben vieler Söhne, Brüder und Männer. Das war die klare Rechnung, die mir die Vernunft aufgemacht hatte und sie fügte noch ein weiteres, zwingendes Argument für den Mord an. Wenn ich die Perspektive wechselte und die Tat aus höherer, weltgeschichtlicher Warte betrachtete, wie man das schließlich von einem vernunftgeschulten, historisch denkenden Menschen erwarten durfte, dann würde der Meuchelmord an dem schwer verletzten schwedischen König zur Rettungstat für die große Revolution. Ruhm und Ehre warten auf den Vollstrecker, dient er doch dem Wohle der ganzen Menschheit. So drang die Vernunft in mich. Nur, aus meinen Nöten half sie mir nicht. In mir wohnte noch ein Anderes außer der Vernunft, das die älteren Rechte beanspruchte mich zu lenken. Ich nenne es meinen inneren Kompass, weil ich mir nicht sicher bin, ob Begriffe wie Gewissen, Herkommen oder Prägung es ganz umfassen. Jedenfalls hing mir mein frommes Elternhaus mit seiner bürgerlichen Weinstube zu sehr an, als dass ich der Vernunft hätte reuelos in die Kälte folgen können. Der hasszerfressene Sansculotte, der in der aufgehetzten Masse wollüstig seinen Rachedurst befriedigt, kennt keine hinderlichen Skrupel, für mich aber wäre die Verleugnung meines innersten Wesens ein tödliches Opfer. Besorgt fragte ich mich, was die Revolution wohl noch fordern mag. Vielleicht die vorsorgliche Auslöschung noch weiterer Menschen oder ganzer Gruppen, die, wie der Schwedenkönig, der Revolution gefährlich werden könnten. ‚Und wenn schon! Kleinigkeiten sind das, Nebensächlichkeiten in Hinblick auf das große Ziel alle Menschen in eine glückliche Zukunft zu führen‘, wies mich die Vernunft zurecht und höhnte, wären Alle so kleinmütig wie du, nichts würde sich zum Besseren wenden für deine Mitmenschen.‘ Das saß. Ich wusste nicht mehr ein noch aus. Wo war Poggibonsi? Nie hätte ich es mir träumen lassen, dass ich einmal solche Sehnsucht nach dem alten Mann haben würde.

Das Geheimnis von Valmy

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