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Die Polis und das Meer

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Mehrere Ackersleute und andere Handwerker brauchen wir in unserer Stadt. (. . .) Und wenn der Handel zur See geführt wird, werden wir noch mancher andern bedürfen, die wissen, was zum Seewesen gehört.

SOKRATES IN PLATONS POLITEIA 571 A –B

Odysseus war nicht nur ein mutiger und listenreicher Mann – stets kämpfte er auch mit seinen Gefühlen und schalt das hartherzige Schicksal. Alle Helden des Epos taten das und öffneten ihre Seele vorzugsweise an einem magischen Ort, wo sich die Begrenztheit des Landes mit der Weite des Meeres traf: Achilles lässt am Gestade von Troja seinem Zorn über den arroganten Agamemnon freien Lauf, Theseus ringt mit sich am Strand von Naxos, ob er Ariadne verlassen soll, und Odysseus „weinte, am Gestade sitzend, wo er von jeher (. . .) immer auf das Meer, das unfruchtbare, blickte, Tränen vergießend.“1 Schon über sieben Jahre lebte er auf der Insel der Kalypso, im fernen Okeanos ohne seine Gefährten und von der Heimat getrennt durch das endlose Meer. Endlich rafft er sich auf, zimmert ein Floß und verlässt die traurige Nymphe, die noch schnell die günstigste Route offenbart. Doch dann kommt der gewaltige Sturm, von Poseidon entfesselt, und droht Odysseus zu verschlingen. Die Nereide Leukothea rettet ihn und lässt ihn an die Küste des sagenumwobenen Eilandes der Phäaken treiben.

Als Einzige unter den am Strande spielenden Töchtern der Phäaken wagt es die Prinzessin Nausikaa, sich dem schlickbedeckten Fremden zu nähern. Sie nimmt sich seiner an und verspricht, ihn in ihre Heimatstadt zu führen. Damit der Fremde vorbereitet ist, gibt Nausikaa einen Vorgeschmack:

Wir betreten die Stadt, um die eine Umwallung ist, / eine hohe, und ein schöner Hafen ist beiderseits der Stadt; / schmal ist der Zugang und beiderseits geschweifte Schiffe sind den Weg entlang / hinaufgezogen, denn alle haben, jeder für sich, dort für die Schiffe ihren Standplatz. / Und dort ist ihnen auch der Markt zu beiden Seiten des schönen Poseidontempels, / mit herbeigeschleppten Steinen eingefasst, die in die Erde eingegraben sind.2

Was Nausikaa beschreibt, unterscheidet sich von den Fürstenhöfen der homerischen Helden. Während diese fast ausschließlich auf Hügeln im Landesinneren liegen, haben die Phäaken ihre Siedlung direkt am Meer angelegt, mit einem doppelten Hafen versehen sowie mit einer Mauer umgürtet, sogar ein stattlicher Tempel schmückt die Stadt. Odysseus kennt solche Siedlungen – einige haben er und seine Mannschaft geplündert –, Homer nennt sie Poleis, wir können sie als Kleinstädte mit agrarischem Umland bezeichnen. Einige hat der Spaten der Archäologen an der kleinasiatischen Küste ausgegraben, also dort, wo Homer seine Lieder sang. Die bekannteste ist Alt-Smyrna in Ionien. Diese Polis weist alle Merkmale der Phäakenstadt auf, sie verfügte über einen Hafen (allerdings außerhalb der Stadt), beherbergte neben den eng gebauten Häusern große Getreidesilos und war (seit ca. 850 v. Chr.) von einem Wall umgeben.3

Entstehung der Polis

Die Polis war ein autonomer Staat mit einem städtischen Zentrum und agrarischem Hinterland, eigenen Kulten und politischen Institutionen. Wie es zur Entstehung dieser frühen Poleis gekommen ist, gehört zu den großen Rätseln der Altertumswissenschaft. Eine entscheidende Rolle dürfte die rapide wachsende Bevölkerung im 8. Jahrhundert v. Chr. gespielt haben.4 Die kargen Felder an den Berghängen reichten bald nicht mehr aus, um den Menschen Nahrung zu geben. Viele verließen ihre Höhensiedlungen und zogen in die Fruchtebenen in Küstennähe oder an der Mündung eines Flusses, also dort, wo auch Odysseus auf Nausikaa traf. Hier gab es größere Ackerflächen, und hier bot sich auch ein leichterer Zugang zum Meer.

Mit der Zunahme der Bevölkerung, dem Wechsel des Siedlungstyps und der Konzentration der Einwohner auf eine küstennahe Fläche fruchtbaren Alluviallandes war über kurz oder lang auch eine Umstellung der Wirtschaftsweise verbunden: Die homerischen Helden priesen die Größe ihrer Herden. Der König der Phäaken verfügte bereits über einen sorgsam gepflegten Gemüsegarten, und die frühen Poleis verlegten sich auf den Getreideanbau, um ihre Bevölkerung zu ernähren. Die vereinzelt liegenden oikoi der homerischen Helden wichen allmählich dörflichen Siedlungen mit dazugehörigem landwirtschaftlich nutzbarem Umland.5

Bei allen Vorteilen der neuen Siedlung waren die Risiken und Probleme nicht zu übersehen. Früher hatten die Anhöhe im Landesinneren und ein Burgberg Schutz vor Plünderern geboten. Die neuen Siedlungen an der Küste boten dagegen eine größere Angriffsfläche. Doch auch im Innern wuchsen die Aufgaben. Erfahrungsgemäß kommt es bei einer schnell wachsenden Bevölkerung auf neuem Siedlungsareal häufiger zu Auseinandersetzungen um Grund und Boden, und tatsächlich spielte die Schlichtung von Rechtsstreitigkeiten im Leben der frühen Poleis eine große Rolle. Hinzu kamen zahlreiche infrastrukturelle Herausforderungen: Wege und Plätze waren anzulegen, Grenzmarkierungen festzulegen und das Hafengebiet zu befestigen.6

Um diese Aufgaben zu bewältigen, reichte es für die adligen Familienoberhäupter nicht mehr aus, sich auf ihren Gutshöfen zu treffen und die Entscheidungen den übrigen Wehrfähigen bei Bedarf zu verkünden. Nun tagte der früher nur sporadisch einberufene Adelsrat regelmäßig; die Teilnehmerzahl wurde begrenzt und auf ein hohes Eintrittsalter beschränkt, um Erfahrung und Sachverstand zu konzentrieren sowie adlige Konkurrenzkämpfe zu begrenzen. Ferner kam man überein, nicht mehr alles allen Adligen zu überlassen, sondern unbezahlte Jahresämter für spezielle Aufgaben im Bereich des Kriegswesens, der Religion und der Rechtsprechung einzurichten. Die zeitliche Begrenzung sollte verhindern, dass ein Einzelner die junge Gemeinde wie einst den oikos seinem Willen unterwarf.

Die Reglementierung der adligen Versammlungen und der Umfang der anstehenden Aufgaben erhöhten auch die Bedeutung der wehrfähigen Bevölkerung. Sie versammelte sich auf Beschluss des Rates häufiger und entschied bald in letzter Instanz über alle wichtigen Projekte der Polis.

Die Aufwertung alter und die Ausbildung neuer politischer Gremien veränderten das Erscheinungsbild der Siedlungen. Im Zentrum befand sich die Agora als freier, durch Bauten und Steinsetzungen abgegrenzter Platz. Hier standen anfangs die Altäre der Götter und die Sitze der Ältesten, hier sprachen die Adligen Recht und verhandelten öffentliche Angelegenheiten.7 Die Institutionalisierung politischer Funktionen gestaltete sich von Polis zu Polis und von Landschaft zu Landschaft in unterschiedlicher Intensität und Schnelligkeit. Sie scheint aber dort besonders zügig erfolgt zu sein, wo die Poleis in engem Kontakt zur See standen.

Homer beschreibt die Agora der Phäaken als einen mit Steinen gepflasterten Platz am Hafen neben dem Poseidontempel: „Dort besorgt man das Zeug und Gerät für die schwarzen Schiffe, / Sturmtau und Seil; dort werden die Ruder gesäubert.“8 – das Bild eines Mittelmeerhafens mit seinem bunten Gewimmel und seiner lauten Geschäftigkeit.9 Denn da Homer bereits Händler erwähnt und die Phäaken selbst in Odysseus zunächst einen solchen vermuteten, können wir schließen, dass der Hafen nicht nur als Standplatz der phäakischen Schiffe, sondern auch fremden Kaufleuten als Anlegeplatz diente. Archäologische Befunde bestätigen, dass viele küstennahe Poleis ihre Agora vom Zentrum zum Hafen verlagerten.10 Dadurch erhielt das militärischen, juridischen und politischen Zwecken dienende Versammlungszentrum eine zusätzliche kaufmännische Funktion; diese Kombination politischer und wirtschaftlicher Aktivität war schon im Verständnis der Griechen ein entscheidendes Kennzeichen ihrer Polis und unterschied sie von den Stadtkulturen des vorderen Orients (Lediglich die phönikischen Hafenstädte wiesen einen vergleichbaren „herrschaftsfreien“ Raum auf11). Die Polis bot mit der Agora einerseits Kaufleuten, fahrenden Künstlern und Handwerkern einen sicheren Ort der Kommunikation und des Warenaustausches, andererseits entwickelten sich aber auch in der Mitte der Stadt selbst Ideen und Kräfte, die auf das Meer drängten.

Lokal- und Fernhandel

Platon erklärte durch den Mund seines Lehrers Sokrates, dass die Entstehung der Agorai dem Bedürfnis der Handwerker und Bauern entsprach und der Warenaustausch ein wesentlicher Faktor von Stadtgründungen gewesen sei. Tatsächlich musste in vielen Gebieten die Bevölkerung zumindest in Krisenzeiten durch importiertes Getreide versorgt werden. Die Ausrüstung der Milizen mit der schweren Bewaffnung eines Hopliten (Schwerbewaffneter; von hoplon = „Schild“), der Bau städtischer Anlagen und Heiligtümer und die Anlage von Mauern und Toren erforderten größere Mengen von Rohmaterialien, die es in der Umgebung nicht oder nicht in ausreichender Menge gab. Schließlich dürfte auch der Bedarf der Adligen an Rohstoffen, Luxusartikeln und Sklaven weiter zugenommen haben.12 Da jedoch erst im 6. Jahrhundert v. Chr. die griechischen Poleis eine regelmäßige Münzprägung einführten, mussten die eingeführten Waren gegen eigene Produkte wie Keramik, Öl und Wein eingetauscht werden. Zum Teil brachten die Bauern und Handwerker der Umgebung diese Produkte selbst in die Häfen der Poleis, um dort mit den überseeischen Händlern zu verhandeln. Man hat diese Form des Warentransports und Handels über kurze Distanzen als Lokalhandel bezeichnet und er dürfte den Alltag des Hafenlebens einer griechischen ,Normalpolis‘ ausgemacht haben.

Zu einem nicht geringen Teil wagten sich aber auch einige Polisbewohner selbst aufs Meer, um an die begehrten Produkte heranzukommen. Während der Lokalhandel in der Regel auf die Bedürfnisse der Handwerker und Bauern reagierte, dürften die Initiatoren und Träger dieses bescheidenen Überseehandels in erster Linie Grund besitzende Adlige oder deren Söhne gewesen sein, die schon in homerischer Zeit ihre Raubfahrten mit dem friedlichen Erwerb wertvoller Rohmaterialien (aus dem Westen) oder Luxusgegenständen (aus dem Osten) verbanden und im Gegenzug überschüssiges Getreide, Olivenöl oder Wein exportierten.13 Im Laufe der Zeit dürfte es zu regelmäßigen Handelskontakten gekommen sein: So transportierte der Bruder der Sappho, ein Großgrundbesitzer aus Lesbos, einheimischen Wein selbst bis nach Naukratis in Ägypten, wo er sich dann zum Verdruss seiner tugendhaften Schwester in die bekannteste Hafenhetäre verliebte und sein sauer verdientes Geld verprasste.14 Da reine Handelsfahrten jedoch als nicht besonders ehrenhaft galten, übertrugen die Adligen häufig loyalen Sklaven oder in Dienst genommenen Freien die Rolle des Kapitäns. Bereits in der Ilias sandte der Fürst von Lemnos namens Euneos („Mann der guten Schiffe“) Schiffe mit Wein aus, um im Gegenzug Metalle, Perlen und Sklaven einzuhandeln.15 Mitunter taten sich auch mehrere Adlige zusammen und minimierten so Kosten und Risiken der Handelsfahrt. Schließlich gab es bereits früh verarmte Adlige, die ihr letztes Geld in Schiff und Mannschaft steckten, um durch Gewinne im Seehandel wieder in den Kreis ihrer Großgrund besitzenden Standesgenossen aufzusteigen.16

In den nicht seltenen Zeiten von Hungersnot importierten Adlige mit eigenen Schiffen Getreide und andere Rohstoffe und verkauften sie auf den Märkten ihrer Polis zu angemessenen Preisen. Ortsansässige Handwerker und Künstler verarbeiteten die Rohstoffe und vertrieben sie als Fertigprodukte erneut über See. Spätestens seit dem frühen 7. Jahrhundert v. Chr. löste sich so der Güterverkehr aus dem alten Prinzip des reziproken Tauschhandels und entwickelte sich zu echten Handelsgeschäften mit planbarem Profit: Mitunter dürften mehrere Handwerker und Händler ein Schiff erworben und mit ihren Waren die Reise angetreten haben. Die Quellen bezeichnen diese Leute als emporoi („Passagiere“; „die auf fremdem Schiff zur See Reisenden“).17

Nautisches Wissen

Seehandel und Seefahrt trugen erheblich zur gewerblichen Differenzierung und zum Wachstum der Polisbevölkerung bei, und sie sorgten dafür, dass sich neue Erfahrungen in den Hafenstädten sammelten: „Handel hatte“, urteilt Plutarch rückblickend, „besonderes Ansehen, weil er die Erzeugnisse der Fremde ins Land brachte, Freundschaften mit Königen vermittelte und reiche Erfahrungen einbrachte.“18 Dass Seefahrten zu einem wichtigen Teil der archaischen Lebenswelt wurden, können wir schon der Ilias entnehmen. Die Schildbeschreibung des Achilles zeigt eine Gliederung in die drei Bereiche Himmel, Land und Meer. Hervorgehoben unter den Sternen sind die Pleiaden (das Siebengestirn), die Hyaden, der Orion und die Bärin.19 Der Auf- und Untergang der Pleiaden markierte in der Antike Beginn und Ende der Schifffahrt; die benachbarten Hyaden – auch Regensterne genannt – sind Teil des Sternbildes des Stiers, und dessen frühes Erscheinen kündigt nach antiker Auffassung die Regenzeit und damit – so Hesiod – ebenfalls das Ende der Schifffahrt und den Beginn des Pflügens an. Der Orion steht schließlich für den Beginn des Winters und soll dem Mythos gemäß als großer Jäger von Poseidon die Gabe verliehen bekommen haben, über das Meer zu schreiten und es zu durchwandern. Bei Zankle (später Messana, heute Messina) errichtete er einen Hafen; ferner verfolgte er die Pleiaden und behinderte so die Schifffahrt und steht wie die Pleiaden und Hyaden im positiven und negativen Sinne mit ihr in Verbindung. Die Bärin wurde von Thales von Milet (ca. 624 – 546 v. Chr.; siehe Seite 70) als Schiffergestirn von Phönikien in die griechische Astronomie eingeführt. Schon in der Odyssee gibt Kalypso dem Helden für seine Fahrt nach Scheria den Rat, die Pleiaden im Auge zu behalten und die Bären (den Wagen) zur Linken zu halten, zweifellos Angaben, die aus der seemännischen Praxis der Zeit Eingang in das Epos gefunden haben.20

Alle auf dem Schild dargestellten Gestirne haben in erster Linie etwas mit der Seefahrt zu tun, dagegen nur sekundär mit dem Ackerbau, und sie bestimmen somit die beiden großen Lebensbereiche des griechischen Menschen und seiner Polis. Beide Bereiche waren für den archaischen Menschen nicht streng voneinander getrennt; vielmehr vermochte selbst der vom städtischen Zentrum entfernt lebende Bauer bei Bedarf zur Küstenschifffahrt zu wechseln. So verschiffte Hesiod Getreide und Wein seines Hofes, um sie auf einem nahe gelegenen Markt am Golf von Korinth, vermutlich dem Hafen von Kreusis bei der zehn Kilometer entfernten Polis Thespiai, zu verkaufen. Angeblich wagte er sich nur dann aufs Meer, wenn die Erträge seines oikos nicht ausreichten und zusätzliches Getreide eingekauft werden musste, oder – was seltener vorkam – ein landwirtschaftlicher Überschuss erzeugt wurde. Man darf sich jedoch nicht täuschen lassen: Hesiod war von seinem seefahrenden Bruder Perses übervorteilt worden und wollte ihn durch sein Lehrgedicht ins Gewissen reden: Dementsprechend sind seine Aussagen stark durch die Ideale des bäuerlichen Lebens geprägt. Immerhin gibt auch Hesiod ganz offen zu, dass der Seehandel eine Möglichkeit bot, „Schuld und Hunger zu entfliehen“ – sein Vater war das beste Beispiel.21

Zudem besaß Hesiod, obwohl er nach eigener Aussage nur einmal eine Seereise bestritt22, überraschend gute Kenntnisse der Seefahrt. Sein ,Seefahrtskalender‘ entspricht im Wesentlichen den oben genannten Angaben der Ilias und repräsentiert das nautische Grundwissen der Zeit: Er weiß genau, wann eine Seefahrt zu wagen ist, wann man sein Schiff an Land zieht und wie man es im Winter vertäut, um Planken, Ruder und Segel vor der Witterung zu schützen.23 Seine geographischen Kenntnisse übertreffen bereits die Homers: Er weiß von den Etruskern und den euböischen Kolonien, kennt die entfernten Meere, ihre Seefahrer und ihre Erzählungen von den glücklichen Inseln im Atlantik, vermutlich die kanarischen Inseln oder Madeira.24

Sein Wissen gewann Hesiod von seinem Vater und dessen Freunden sowie von den Erzählungen der Herren in Chalkis auf Euböa. Der Dichter unterscheidet ihre Form des Überseehandels zwar von dem Gelegenheitshandel des Landmannes; in der Praxis dürften die Verbindungen jedoch enger gewesen sein. Denn auch ein unternehmungslustiger emporos gab wie der Kleinbauer selten den Kontakt zur Heimatpolis ganz auf, es sei denn, er war dazu gezwungen.

Damit erschließt sich uns ein bedeutsames Phänomen: Im Prinzip konnte sich jeder Polisbürger am Seehandel zumindest mittelbar beteiligen, er benötigte dazu keine besondere Qualifikation, sondern nur ein Schiff, ein gewisses Vermögen, persönliche Kontakte und Erfahrung. Dennoch hat der Handel über See den Grundbesitz als Existenzgrundlage nicht verdrängen können, er bildete ein Zusatzgeschäft, das erhebliche Gewinnchancen, aber auch unkalkulierbare Risiken barg: „Riskanter Kurs um größeren Profit“, dichtete Menander, „bringt leicht dem Ruderer Reichtum – oder Tod!“25

Die prinzipielle Offenheit der Seefahrt für Jedermann bei gleichzeitiger Bindung an die Scholle erklärt auch, weshalb die küstennahe Polis nicht in festen Bevölkerungsklassen erstarrte, sondern kohärent und gleichzeitig offen für Veränderungen und äußere Einflüsse, insbesondere aus dem Osten, blieb.

Hoffnung auf eine bessere Welt

Das Meer erleichterte aber nicht nur die Aufnahme stimulierenden Wissens, es war auch Tor zu einer besseren Welt in Zeiten der Krise. Viele Poleis waren trotz aller Anstrengungen nicht in der Lage, ihre wachsende Bevölkerung mit Land und Lebensmitteln zu versorgen. Erschwert wurde die Situation durch das Erbrecht, das jedem Bauernsohn einen gleich großen Erbanspruch auf das väterliche Gut zuwies. Die Realteilung zerstückelte den bäuerlichen Grundbesitz binnen weniger Generationen so weit, dass er die Existenz aller Familien nicht mehr sichern konnte. In solchen Fällen bot sich die Auswanderung über See als Ausweg an.

Agrarische Nöte waren jedoch nur ein Motiv und wohl keineswegs überall das entscheidende. Vielfach dürften Kriegswirren wie der Lelantische Krieg zwischen Chalkis und Eretria oder Konkurrenzkämpfe um die Macht die unterlegene Seite in die Häfen und auf die Schiffe gezwungen haben. Fraglich ist überhaupt, ob wir die vielfältigen Formen der maritimen Migration dieser Zeit ausschließlich als Ergebnis krisenhafter Zwänge oder nicht auch umgekehrt als Beleg für die wachsende Prosperität vieler Poleis und ihrer sich wandelnden Gesellschaft werten müssen.26 Wachsende Bevölkerungszahlen, die Einführung der teuren Hoplitenphalanx und moderner Schiffe (Zweireiher, siehe Seite 37) lassen auf eine Verbreiterung materiellen Wohlstandes sowie technischer Fertigkeiten und Kenntnisse schließen, die sich kaum in einer durch Agrarkrisen ausgemergelten Gesellschaft entwickelt hätten.

Entscheidend waren politische und soziale Veränderungen, die zusammen mit agrarischen und naturbedingten Nöten ein explosives Gemisch bildeten. Kämpfe um die Macht in den frühen Siedlungen als Auslöser für Auswanderungen kennen wir bereits aus der Ilias.27 Der Konkurrenzkampf unter den Adligen hatte sich im Zuge der Polisbildung verschärft: Angespornt durch die Prachtentfaltung lydischer und phrygischer Fürsten versuchten die Aristokraten zumal der kleinasiatischen Küste auf Kosten der Kleinbauern ihre Ländereien zu vergrößern und ihre Agrarproduktion auf Wein, Olivenöl und Wolle umzustellen, die größeren Absatz und Profit versprachen. Gleichzeitig nutzten Fremde sowie außerhalb der Polis wohnende Bauern, zu der auch Hesiod und sein Bruder zählten28, die Chancen des Seehandels, um in kurzer Zeit reich zu werden und sich in die Polis zu integrieren. Diese ,Neureichen‘ – von den Altadligen abwertends kakoi („Schlechte“) genannt – bildeten eine gefährliche Konkurrenz der Aristokraten, zumal die Einführung der Hoplitenphalanx den Emporkömmlingen die Chance bot, auch als ,Krieger‘ mit den Adligen gleichzuziehen. Die Adligen reagierten mit den gleichen Methoden wie ihre potenziellen Gegner: Man wagte riskante Handelsunternehmungen, versuchte noch schneller den Landbesitz zu vermehren und rücksichtsloser die Beamtenposten zu monopolisieren. Doch konnten sie nicht verhindern, dass die Grenzen zwischen Adel und Nichtadel durchlässiger wurden. Je intensiver ihre Anstrengungen, desto größer die individuellen Risiken und die soziale Mobilität zwischen den Schichten: „Die einst weder Recht noch Gesetz kannten, sondern mit verschlissenen Ziegenfellen ihre Blößen bedeckten und außerhalb der Stadt wie Rotwild hausten, sie sind jetzt die großen Leute, die Guten (aristoi); die ehemals Guten sind jetzt gewöhnliches Volk. Wer könnte ertragen, das zu sehen?“29

Nicht ertragen konnten es besonders die Verlierer des Kampfes: die Adligen, die zu hoch gepokert hatten, um noch reicher zu werden, und die Emporkömmlinge, die zu rücksichtslos ihre Forderungen durchsetzten und auf den geschlossenen Widerstand altadliger Familien trafen. Die Hopliten fanden in den verzweifelten Kleinbauern Verbündete, wenn sie ihre eigenen politischen Forderungen gegenüber den Adligen mit dem Ruf nach einer Neuverteilung des Bodens verbinden konnten: Eine solche Situation war in Thera (heute Santorin) am Ende des 7. Jahrhunderts v. Chr. gegeben. Die Polis hatte unter Dürre und Missernten zu leiden und wurde von einem Kampf zweier Bevölkerungsgruppen erschüttert. Auf der einen Seite stand die alte Adelsschicht unter einem basileus namens Grinnos, auf der anderen Seite stand ein junger Mann namens Aristoteles, der im Kampf um die Macht unterlegen war und eine Gruppe von Bauern um sich scharen konnte. Bevor es zum Bürgerkrieg kam, einigte man sich darauf, dass Aristoteles mit seinen Gefolgsleuten eine Kolonie gründen sollte.30 Indem sich die Polis eines Teiles ihrer Einwohner entledigte, war die Existenz der Gesamtpolis gesichert.

Das Meer als Weg der Auswanderung

Thera war kein Einzelfall. Seit ungefähr 700 v. Chr. versammelten sich in den großen Hafenstädten Korinth, Milet, Chalkis, Eretria und Megara Gruppen von Auswanderern aus verschiedenen Gemeinden und Gesellschaftsschichten, um über das Meer neue Siedlungsgebiete zu suchen. Ihre Aussichten schienen günstig, hatten doch einige der aufstrebenden Küstenpoleis mit der Intensivierung des Überseehandels nicht nur Schrift und nautische Kenntnisse, sondern auch den modernen Schiffstyp der Phöniker übernommen, das sich auf deren Fahrten bis nach Spanien bewährt hatte. Wir bezeichnen dieses Schiff als Zweireiher oder Fünfzigruderer (Pentekontere), weil auf jeder Seite 25 Mann in zwei Reihen übereinander angeordnet waren. Die neue Anordnung der Ruderer erlaubte viel weitere und schnellere Fahrten als die Boote Homers, sie boten einen größeren Schutz vor Angreifern, konnten aber auch zum Rammen eingesetzt werden und waren damit die beste Voraussetzung für den Vorstoß in eine Welt, in der das Schiff häufig die letzte Rettung war.

Über die Einzelheiten der Organisation einer Kolonisationsfahrt wissen wir erstaunlich wenig. Eines deuten jedoch die Überlieferungsfragmente an: Die Initiative ging besonders in der frühen Zeit, als die Polisstrukturen noch wenig entwickelt waren, von einzelnen Adligen bzw. ihren Familien aus. Es waren Adelsfamilien aus Chalkis und Eretria, die im 8. Jahrhundert v. Chr. erste Stützpunkte in der Bucht von Neapel anlegten. In Korinth leitete die Familie der Bacchiaden zwischen 615 und 540 v. Chr. die Kolonisation der Westküsten Griechenlands und Siziliens. Von Paros aus führte der Adlige Tellis, der Großvater des Dichters Archilochos, Kolonisten nach Thasos (an der Nordküste der Ägäis). In Sparta übernahm Dorieus, ein Stiefbruder des Königs Kleomenes (520 – 488 v. Chr.), einen Kolonisationszug nach Afrika.31

Inwieweit die Polis den Kolonistenzug unterstützte, hängt von der Deutung der Quellen ab, die häufig von Beschlüssen der Volksversammlung und anderen organisatorischen Maßnahmen sprechen. So ernannte in Thera ein Volksbeschluss Aristoteles zum Führer der Kolonie. Ferner bestätigte die Polis die Zahl der Kolonisten oder legte – vermutlich nach einem Vorschlag des Kolonistenführers – fest, nach welchen Kriterien die Kolonisten ausgesucht werden sollten. Bereits in der Odyssee beraumte Telemach eine Volksversammlung an und bat die Freier und Anwesenden: „Gebt mir ein eilendes Schiff und zwanzig Gefährten, / dass eine Reise hin und zurück für mich sie bereiten.“32 Auch Dorieus soll die Spartiaten um Mannschaften gebeten haben.33 In Thera bestimmte die Volksversammlung, dass Aristoteles als Kolonisten Freiwillige aus den umliegenden Ortschaften mit sich nehmen sowie im Fall eines mit mehreren Söhnen besetzten Hofes jeweils einen per Los bestimmen sollte. Die Zahl der Auswanderer wurde auf 180 – 200 Mann begrenzt, weil die Theraier nur zwei Fünfzigruderer bereitstellten.

Organisation der Fahrt

Viele Forscher sehen in den Angaben über die Beteiligung der Polis spätere Konstrukte, die dazu dienen sollten, ihr im Nachhinein Anteil am Erfolg der Koloniegründung zu sichern und ihre Autorität als Mutterstadt gegenüber der Tochterstadt zu stärken.34 Andere nehmen die Angaben ernst und verweisen darauf, dass die komplexen Vorbereitungen eines aus unterschiedlichen Gegenden und sozialen Schichten stammenden Kolonistenzuges ohne die institutionelle Hilfe der Gemeinde gar nicht möglich gewesen wären.35 Entscheidend scheint hierbei, die historische Entwicklung zu berücksichtigen: Man muss sich von der Vorstellung lösen, die so genannte „Große Kolonisation“ als einen chronologisch und strukturell genau zu umgrenzenden Block zu verstehen. Es handelt sich vielmehr um einen komplexen und variablen Vorgang, der über Jahrhunderte Entwicklungen und Veränderungen durchmachte. In dem Maße, wie die Polis ihre Institutionen ausbaute, dürfte sie auch versucht haben, Kolonisationsbewegungen aus ihren Häfen stärker zu kontrollieren. Es ging dabei jedoch weniger um eine notwendige Hilfe für die Kolonisten, als vielmehr um das Bedürfnis, politischen Zugriff auf die Fahrten zu bekommen, indem sie durch entsprechende Beschlüsse die rechtlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen festlegte. Dies gelang in einigen Poleis mehr, in anderen weniger. Anachronistisch sind in jedem Fall die Angaben, wonach die Mutterstadt Schiffe zur Verfügung stellte, denn dies setzt einen öffentlichen Besitz an Pentekonteren voraus, den es nachweislich in der Archaik nicht gab. Telemach fragte nur deshalb die Volksversammlung, weil seine Stellung innerhalb der Gemeinde angesichts der Abwesenheit seines Vaters prekär war. In der Regel oblagen die Zusammenstellung der Schiffsmannschaft, die technische Vorbereitung (Takelage, Verproviantierung etc.) bis hin zur nautisch-geographischen Planung dem Kolonistenführer – wie dies in der klassischen Zeit ebenfalls nicht Aufgabe der Polis, sondern eines hierfür bestellten (adligen) Trierarchen war – und sie spielten sich wohl nach ähnlichen Mustern ab wie die der archaischen basileis vor ihren Piraten- und Handelsfahrten. Mit der Übergabe oder Bereitstellung des Schiffes war der Kolonistenführer allein verantwortlich, er wurde zum Anführer (archegetes) des Zuges und konnte jede Hilfe ohne Rücksprache mit Rat und Volksversammlung heranziehen. Als Nächstes ließ er seinen Entschluss zur Kolonisationsfahrt im Land verkünden, legte den Abfahrtsort und -termin sowie das anvisierte Ziel fest und unterrichtete die Mitfahrenden über die Größe des Grundstückes, das jeder in der Kolonie zu erwarten hatte. Die gängige Annahme, als Kolonisten hätten sich wegen der Härte des Ruderdienstes nur Männer gemeldet, trifft sicherlich für viele Fahrten zumal in eher unbekannte Gefilde zu. Mitunter dürften aber auch Frauen, Kinder und Gepäck auf geräumigeren Transport- oder Kriegsschiffen mitgereist sein.

Am Tag der Abfahrt kam es zur Verlosung der Grundstücke; auch sie wies deutliche Parallelen zu den frühen Raub- und Piratenfahrten auf: Wie seinerzeit die Mannschaften des Odysseus gleichen Anteil an der Beute beanspruchen konnten, so erhielt nun jeder Kolonist gleichen Anteil an dem zu besiedelnden Land.36 Lediglich für den Anführer und seine Familienmitglieder dürften größere Stücke reserviert worden sein, wie auch Odysseus oder Menelaos größere Beuteanteile beanspruchten. Am Tag der Abfahrt hielt der archegetes denn auch vor der versammelten Mannschaft eine kurze Rede, bei der er an die Fahrten des Menealos und des Odysseus und ihre Erfolge erinnerte. Danach verrichtete er ein Opfer und nahm schließlich im hinteren Teil des Schiffes Platz, um aus dem Hafen zu fahren.37

Telemach hatte das Ziel seiner Reise – Sparta und die Peloponnes – öffentlich verkündet. Bevor der Oikist dies tun konnte, musste er genaue Erkundigungen einholen und göttlichen Segen erwirken. Zu diesem Zweck zog fast jeder archegetes des Mutterlandes nach Delphi, in Kleinasien spielte das Heiligtum von Didyma eine vergleichbare Rolle. In Delphi befragte man die Pythia, ob dem geplanten Unternehmen Erfolg beschieden sei und – falls dies positiv beantwortet wurde – nach dem Zielpunkt seiner Reise. Ein positiver Bescheid verschaffte dem Kolonisationsführer Autorität, Sicherheit für die gefährliche Seefahrt und göttliche Legitimation; vielleicht rechtfertigte er auch schon im Voraus die Inbesitznahme des fremden Landes im Fall gewaltsamer Eroberungen.38

Zielgebiete der Kolonisation

Nicht weniger wichtig waren die aus den Sprüchen der Pythia herauszulesenden Hinweise auf das Zielgebiet; im Fall von Thera hatte die Pythia Libyen angegeben, in anderen Fällen war das Ziel wohl genauer eingegrenzt. Natürlich hatte jeder Kolonistenführer bereits vorher Familienmitglieder, Kaufleute und Gastfreunde über Routen und Anlaufpunkte befragt. Doch die Priester von Delphi besaßen offensichtlich den großen Überblick über die Küsten des Mittelmeeres und die bereits erfolgten Kolonisationsfahrten. Denn Delphi war neben Olympia das einzige überregionale panhellenische Zentrum, in dem sich regelmäßig Griechen aus aller Welt, auch aus den Kolonien, Kaufleute, Kapitäne, Händler, Piraten und Abenteurer trafen. Jeder erfolgreiche Kolonist überreichte später dem Apoll in Delphi ein Weihegeschenk und damit neue Informationen über erfolgreiche Ansiedlungen. Mit jedem Besuch eines Kolonisten wuchs das Wissen der Priester: Delphi entwickelte sich zu einem Informationszentrum, von dem aus die für jeden Auswanderer so wichtigen „Mobilitätskanäle“ geschaffen wurden.39

Wie meist in der Geschichte großer Auswanderungswellen suchten die Auswanderer Gebiete, die ihrer Lebensweise entsprachen, geringe militärische Konflikte heraufbeschworen und dennoch Aufstiegschancen boten. In Frage kamen damit vor allem die nordwestlichen Küsten und Inseln des Mittelmeeres und des Schwarzen Meeres. Im östlichen Kleinasien und Nordsyrien verwehrte das Reich der Assyrer eine Ansiedlung. Auch die Südküste des Mittelmeeres bot nur punktuelle Anlaufmöglichkeiten, da sie vom ägyptischen Pharaonenreich sowie den phönikischen Kolonien besetzt war.

Anders als den homerischen Abenteurer leitete die Kolonisten nicht die Hoffnung auf Rückkehr, sondern praktisches Erfahrungswissen: Dieses Wissen wurde mündlich tradiert und nur partiell in Form von periploi festgehalten, Aufzeichnungen von Küstenfahrten, die Kapitäne nach eigener Erkundung und den Informationen von Reisenden und Kaufleuten verfasst hatten und Auskunft gaben über die Gewässer, Ankerplätze, Flussmündungen sowie die Natur der Küste, aber nicht über günstige und gefährliche Winde. Die linearen, von Punkt zu Punkt führenden Angaben der periploi sowie die für die praktische Seefahrt wohl wichtigere mündliche Tradition boten recht sicheres Geleit und trugen dazu bei, die Raumerfassung des Mittelmeeres durch Empirie zu entmythologisieren und breiteren Schichten zugänglich zu machen.40

Fehlten jedoch solche Erfahrungen, dann entschloss sich ein Kolonistenzug häufig, zunächst von einer vorgelagerten Insel aus Schiffsbewegungen zu beobachten und Stoßtrupps an das Festland zu schicken, bevor man die endgültige Koloniegründung wagte. So hatte es bereits Odysseus getan, als er von einer Insel aus das Land der Kyklopen aufsuchte, so taten es die Chalkidier und Eretreier in Pithekussai auf Ischia, und so machte es auch der bereits mehrfach erwähnte Aristoteles aus Thera, als er zwei Jahre auf der Insel Platea im Golf von Bomba ausharrte, bevor er nach Afrika übersetzte und Kyrene gründete.41

Eine ideale Kolonisierungskonstellation war gegeben, wenn die Kolonisten nicht nur auf fruchtbares und leicht zu verteidigendes, sondern auch auf herrenloses Land trafen. Eine solche Situation konstruierte bereits Homer, wenn er die vor dem Land der Kyklopen gelegene Insel als unbesiedelt und geeignet für den Ackerbau beschreibt und sie mit einem natürlichen Hafen versieht. Auch Platon nennt später als günstige Voraussetzungen diese drei Elemente: unbesiedeltes bzw. von früheren Bewohnern verlassenes Land sowie natürliche Voraussetzungen für Schifffahrt und Ackerbau.42 Was demnach in der Heimat ein wesentlicher Faktor für die Blüte einiger Poleis war – nämlich der enge Konnex zwischen Schifffahrt, Hafen und Ackerbau –, wird in den Kolonien zur Existenz sichernden Regel.

Elemente der neuen Polis

War die Überfahrt geglückt und hatte der Kolonist eine geeignete Stelle zur Ansiedlung gefunden, galt es zunächst, den Ort der Koloniegründung zu markieren, die Landlose einzugrenzen und zu verteilen sowie das Gebiet so schnell wie möglich zu befestigen. Der archegetes wurde so zum Oikisten, zum Gründer eines neuen oikos. Die Archäologie hat gezeigt, dass er sich hierbei – wie auch nicht anders zu erwarten – an dem Siedlungsmodell seiner Heimatpolis mit ihren entscheidenden Elementen – Agora als gesonderter politischer Raum, gemeinsame Heiligtümer, Nekropolen – orientierte und die Elemente dieses Modells der neuen Situation entsprechend konsequenter umsetzte. Fast alle Kolonien lagen direkt an der Küste oder im Mündungsgebiet eines Flusses. Dementsprechend verfügte jede Kolonie über einen Hafen, der meist direkt in die Siedlung integriert war; häufig befand sich die Agora in unmittelbarer Nähe des Hafens. Das Stadtgebiet wies gleichförmige Siedlungsparzellen auf. Das sich hieraus ergebende rasterförmige (orthogonale) Schachbrettmuster war allerdings keine Erfindung der Kolonisten, sondern dürfte sich mehr oder weniger gleichzeitig auch in einigen mutterländischen Städten herausgebildet haben. Und schließlich waren fast alle Kolonien zumindest des Westens (neben den Poleis Kleinasiens und der Inseln) von Beginn an durch eine Mauer zur Landseite geschützt43, befand man sich doch in einer fremden und potenziell gefährlichen Umwelt.

Über die frühen Kontakte mit den Einheimischen wissen wir wenig. Das kollektive Gedächtnis der Griechen hat sie mit zahllosen Legenden ausgeschmückt, die einen vergleichbaren Kern aufweisen: Der Oikist wird zum groß gewachsenen, dunkelhaarigen Heros, der im Wettstreit mit einheimischen Fürstensöhnen die Hand einer Königstochter gewinnt und damit nicht nur den Bestand der Kolonie, sondern auch die Freundschaft mit den Einheimischen sichert.44 Vielfach sollen sogar einheimische Mächte bei der Koloniegründung mitgeholfen und dafür im Gegenzug die Unterstützung der Neuankömmlinge gegen benachbarte Feinde erhalten haben.

Wie auch immer diese Legenden zu deuten sind – sie scheinen die Erinnerung an eine nicht immer konfliktfreie Ankunft der Kolonisten bewahrt zu haben. Spannungen ergaben sich nicht nur aus der Knappheit fruchtbaren Bodens im mediterranen Raum, sondern auch aus dem Frauenmangel der Kolonisten – vielen Gründungslegenden liegt dieses Problem zu Grunde. Die Neuankömmlinge mussten Familien gründen, um den Bestand der Kolonie zu sichern. Nicht selten dürfte der Frauenerwerb mit einem Tauschgeschäft verbunden gewesen sein, wobei die Griechen ihrerseits Keramik und ein sicheres Leben in der Kolonie versprachen. In Notfällen – wie vermutlich in Thasos gegenüber der thrakischen Küste – wird man auf Raub ausgezogen sein, andernorts stellten sich informelle Kontakte ein.

Süditalien und Sizilien

Auf diese und ähnliche Weise wurden von der Mitte des 8. Jahrhunderts v. Chr. an fast sämtliche Küstengebiete des nördlichen und westlichen Mittelmeeres mit Ausnahme der von Piraten beherrschten Adria punktuell kolonisiert. Die erste große Kolonisationswelle richtete sich gen Westen. Von Korinth soll im Jahr 733 v. Chr. ein gewisser Chersikrates mit einer Schar Verbannter aufgebrochen sein und auf einem Vorgebirge Kerkyras (Korfu) eine neue Heimat gefunden haben. Vielleicht war es in Korinth zu ähnlichen Auseinandersetzungen wie in Thera gekommen. Möglicherweise waren auch die Handelsinteressen der führenden Adelsfamilie der Bacchiaden ausschlaggebend. Kerkyra lag an der Handelsroute zum Adriatischen Meer, auf der llyrisches Silber, Bernstein, Felle und Sklaven in das Mittelmeer gelangten. Kerkyra bildete darüber hinaus eine wichtige Zwischenstation von Westgriechenland nach Italien.

Alle folgenden Kolonisationsunternehmungen der Griechen orientierten sich an dieser Route. Sie gingen von den beiden Städten Chalkis und Eretria aus, die 775 – 770 v. Chr. Pithekussai auf Ischia angelegt hatten. 750 v. Chr. folgte Kyme an der gegenüberliegenden kampanischen Küste, 711 v. Chr. Rhegion (das heutige Reggio di Calabria) und um 600 v. Chr. Neapel. 20 Jahre vorher hatte man sich an der gegenüberliegenden Ostküste Siziliens festgesetzt und 734 v. Chr. Naxos an der Nordwestküste, 730 v. Chr. Zankle, 729 v. Chr. Leontinoi und Katane (das heutige Catania) und schließlich als Nachzügler Himera Mylai 650 v. Chr. gegründet. Die Verteilung der Kolonien zeigt deutlich, dass die Adligen aus Chalkis und Eretria nicht nur auf fruchtbares Siedlungsland aus waren, sondern auch die Route nach Pithekussai und nach Etrurien zu kontrollieren suchten. Rhegion und Zankle beherrschten die Straße von Messana und machten die chalkidischen Kolonien zu den Herren des Italienhandels.

Erst rund zwei Generationen später folgten Gründungen anderer Städte vor allem aus Achaia und Lokris. Die wichtigsten waren die Kolonien Sybaris (709 v. Chr.) und Kroton (710 v. Chr.), Tarent, die einzige Kolonie Spartas, und das von Lokrern gegründete Lokroi Epizephyrioi. Die reichste Kolonie wurde Sybaris in der fruchtbarsten Ebene der ionischen Küste. Von hier aus lief ein Handelsweg über Land gen Westen zur Tochtergründung Poseidonia, die ein wichtiges Handelszentrum im Warenaustausch mit den Etruskern wurde.

Sybaris selbst war bis zu seiner Zerstörung durch den Konkurrenten Kroton im Jahr 510 v. Chr. so wohlhabend, dass es sich eine mit Säulen und Prunkdach verzierte Straße vom Markt bis zum Hafen leisten konnte und neue Luxusgüter und Speisen kreierte. „Sybarische Geschichten“, sybaritikoi logoi, erzählten die Abenteuer einheimischer Edelmänner und selbstbewusster Frauen aus den ersten Familien. Sybaris war so etwas wie das Paris im 19. Jahrhundert, eine Welt des Lasters und des Luxus und Inbegriff der Lebensfreude – Zeichen des Selbstbewusstseins gegenüber den kärglichen Verhältnissen der Heimat.

Das zweite große Zielgebiet der Westkolonisation war Sizilien. Die Insel galt als äußerst fruchtbar und bot an den Küsten des Ostens reichlich Siedlungsland. Wiederum war es das in der Westkolonisation erfahrene Korinth, das im Jahre 733 v. Chr. mit Syrakus eine der ersten Kolonien gründete. Syrakus kann neben Massilia (Marseille) als die erfolgreichste Kolonie der gesamten griechischen Geschichte gelten. Der Reichtum der Stadt beruhte auf der Güte des Ackerbodens, weshalb die führenden Einwanderer auch gamoroi, „diejenigen, die Land besitzen“, genannt wurden. Der Aufschwung wurde durch den hervorragenden Hafen begünstigt. Binnen dreier Generationen stieg Syrakus zur bevölkerungsreichsten Stadt des westlichen Mittelmeeres auf, sodass es selbst Kolonien gründen konnte (Akrai, Kasmenai, Kamarina).

Die Erfolge Korinths zogen Kolonien anderer Poleis nach sich. Megara gründete 728 v. Chr. Megara Hyblaia nördlich von Syrakus und 628 v. Chr. Selinunt, die westlichste Kolonie der Griechen auf Sizilien. Selbst das weit im Osten gelegene Rhodos schickte Kolonisten und gründete zunächst 689 v. Chr. Gela. 580 v. Chr. errichteten die Griechen von Gela aus mit rhodischer Verstärkung rund 70 Kilometer entfernt das mächtige Akragas, das heutige Agrigent, an der Südwestküste. Nach drei Generationen waren die süditalische Küste und große Teile Siziliens von Kolonisten besiedelt.

Die Phokaier als mutige Seefahrer

Um 600 v. Chr. verlagerten sich die kolonisatorischen Aktivitäten vom Mutterland in die Hafenstädte der kleinasiatischen Ägäisküste. Hier war es zunächst die kleine Polis Phokaia, die der Westexpansion ganz neue Dimensionen eröffnete. Die Stadt lag an einem kargen Küstenstreifen, der nicht im Entferntesten die Vorzüge der korinthischen oder lelantischen Fruchtebenen aufwies, doch besaß die Stadt einen ausgezeichneten Hafen. Abgeschnitten von den fruchtbaren Flusstälern und durch mächtige Nachbarn zu Lande bedroht, verlegten sich die Phokaier von Beginn an aufs Meer.45 Sie stießen auf ihren Fünfzigruderern zunächst als Kaperer oder Seehändler so weit wie kaum eine andere Polis in den Westen vor. Ihr Hauptinteresse galt dem Handel mit Gold, Silber und Kupfer aus Spanien. Bereits im 7. Jahrhundert v. Chr. fuhren sie auf den Spuren des Samiers Kolaios durch die Straße von Gibraltar, um an die sagenumwobenen Edelmetallvorkommen des Reiches von Tartessos an der spanischen Atlantikküste und dem Mündungsgebiet des Guadalquivir heranzukommen. Der einheimische König Argonthonios empfing sie freundlich, vermutlich suchte er ein Gegengewicht gegen die Phöniker (und später die Karthager), und vermutlich stellten die Phokaier Söldner und erhielten im Gegenzug Silber und Gold.

In den folgenden Jahrzehnten nutzten die Phokaier ihre freundschaftlichen Beziehungen zu Tartessos, schalteten sich in den lukrativen Mineralhandel ein und machten den Phönikern ihr Monopol in der Ausbeutung der Purpurschnecke streitig. Noch im 7. Jahrhundert v. Chr. gründeten die Phokaier in Südspanien östlich von Malaga eine erste Faktorei. Danach richteten sie ihr Interesse gen Norden. Die berühmteste Kolonie wurde um 600 v. Chr. Massilia, das den Handel aus den nördlichen Binnenräumen kontrollierte und sich in der Folgezeit ein eigenes Kolonialreich errichtete.

Wie sehr die Phokaier ihr Schicksal dem Meer anvertrauten, zeigt ihr Entschluss, sich beim Anrücken der Perser in der Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. mit der gesamten Einwohnerschaft auf die Schiffe zu begeben und sich weit im Westen in Alalia (Aleria) auf Korsika niederzulassen. Der Ruf der Phokaier als wagemutige Händler und gefürchtete Piraten hatte sich so weit verbreitet, dass das mächtige Karthago und die Etrusker beschlossen, die phokaische Flotte zu zerstören. Die Seeschlacht war für die Phokaier sehr verlustreich, und deshalb beschlossen sie, aus Korsika wegzuziehen und eine neue Siedlung in Unteritalien zu gründen. Hier verliert sich die Geschichte der Phokaier, doch ihr Ruhm hat sich noch lange halten können: Als sich die kleinasiatischen Griechen 498 v. Chr. gegen die Perser erhoben, wählten sie einen Phokaier zum Admiral der Flotte. Dieser machte noch lange als gefürchteter Freibeuter die Meere unsicher, griff aber – so die Quellen – nur etruskische, karthagische und phönikische Schiffe an.46

Schwarzmeergebiet und Nordafrika

Das dritte große Kolonisationsgebiet bildeten der Bosporus und die Küsten des Schwarzen Meeres. Sie wurden zum überwiegenden Teil von der kleinasiatischen Hafenstadt Milet und Megara am Saronischen Golf angelaufen. Milet lag auf einer Halbinsel und besaß einige vorgelagerte Inseln sowie Gebiete im Mäandertal. Die Halbinsel galt wie das Gebiet von Phokaia als karg, und wie dort gab es zahlreiche seefahrende Adelsfamilien, die durch ihre Handels- und Kolonisationstätigkeit entscheidend zum Aufstieg ihrer Stadt als „Venedig des Altertums“ beigetragen hatten.47

Richtschnur der Auswanderungen ins Schwarzmeergebiet war ein viel befahrener Seehandelsweg von Rhodos und den kleinasiatischen Städten. Schon die von den Chalkidikern an der thrakischen Küste gegründeten Kolonien dürften in erster Linie wegen des Holzreichtums der Umgebung angelegt worden sein. Die von Megara zwischen 680 und 660 v. Chr. am Bosporus gegründeten Kolonien Kalchedon und Byzantion, das heutige Istanbul, entwickelten sich zu den wichtigsten Zwischenlagern für Bauholz, das nach Griechenland und in den Nahen Osten verschifft wurde. Byzantion besaß im 6. Jahrhundert v. Chr. nach Korinth und Samos die größten Werften für Kriegs- und Handelsschiffe.

Als zweiter begehrter Rohstoff galten Metalle. Das Interesse der Griechen konzentrierte sich zunächst auf die Gebirgszüge am Süd- und Westufer des Schwarzen Meeres. Das Pontosgebirge von Sinope bis Georgien ist noch heute reich an Eisen, Kupfer und silberhaltigem Blei (Eisen wurde bereits Ende des 3. Jahrtausends v. Chr. in Armenien abgebaut). So haben Mileter Apollonia Pontica an der Westküste des Schwarzen Meeres sicherlich in erster Linie gegründet, um die Suche nach den Kupferlagerstätten der nahe gelegenen Minen zu erleichtern. Metallverarbeitende Werkstätten wurden außerdem auf der Insel von Berezan, Olbia und in den Siedlungen der olbischen Chora gefunden.48 Noch berühmter war der Goldreichtum des heutigen Georgien. Jeder Grieche kannte die Sage von Jason, der mit seinen Gefährten auf der Argo das Goldene Vlies von Kolchis zu gewinnen suchte.

Viele der am Nordufer des Schwarzen Meeres angelegten Kolonien, besonders das von Milet am Ende des 7. Jahrhunderts v. Chr. an der Vereinigung von Hypanis (Bug) und Borysthenes (Dnjpr) angelegte „glückliche“ Olbia, wurden zu blühenden Handelsstädten, weil ihre Kaufleute das in den skythischen Ebenen angebaute Getreide nach Griechenland weiter vertrieben.

Die ostafrikanische Küste blieb den Griechen mit einer wichtigen Ausnahme verschlossen. Ägypten bildete schon in homerischer Zeit ein beliebtes Ziel griechischer Piraten – dies spiegelt sich in den Raubfahrten des Menelaos und Odysseus –, und das umso mehr, als im 8. und 7. Jahrhundert v. Chr. die politische Desorganisation des Landes eine wirksame Abwehr erschwerte.

Der ägyptische Pharao Psammetichos von Sais hat sich dieses Problems insofern erwehren können, indem er viele der griechischen Piraten als Söldner engagierte und mit ihrer Hilfe das Land von assyrischer Oberherrschaft befreien konnte. Vielleicht als Dank für die militärische Hilfe der Griechen, aber wohl auch aus handelspolitischen Erwägungen räumte er um 650 v. Chr. griechischen Händlern gegen eine zehnprozentige Steuerabgabe das Niederlassungsrecht auf einer Insel im Nildelta ein. Die Kaufleute gaben dieser Siedlung den Namen Naukratis („Stadt des Krates“).49 Naukratis wurde zu einem echten port of trade, denn es gewann eine Monopolstellung im Import- und Exporthandel zwischen Ägypten und dem griechischen Wirtschaftsraum und wurde darüber hinaus spätestens im 6. Jahrhundert v. Chr. ein Zentrum in der Herstellung hochwertiger, glasierter Töpferware (Fayence-Industrie).

Trotz dieses Erfolges blieb Naukratis die einzige Kolonie im unmittelbaren Machtbereich des Pharaonenlandes. Allein Kolonisten aus Thera gelang es um 630 v. Chr. zwischen der großen Syrte und dem Golf von Bomba Kyrene zu gründen. Der archegetes Aristoteles nahm daraufhin den (griechischen) Beinamen (oder den lydischen Königstitel) „Battos“ an und begründete damit die Familiendynastie der Battiaden. In der Folgezeit wechselte der Name regelmäßig mit dem Namen Arkesilaos. Auf der so genannten Arkesilaos-Schale aus der Zeit um 560 v. Chr. ist Arkesilaos II., der König von Kyrene, abgebildet, der mit einem Zepter in der Linken unter einem Leinensegel auf einem verzierten Thron sitzend das Abwiegen und die Verpackung von Waren überwacht. Einer der Händler wird als silphiomachos bezeichnet. Dies deutet auf ein in der ganzen Welt begehrtes Produkt hin, das Silphion, aus dem Heilmittel und Gewürze hergestellt wurden. Kyrene führte die Pflanze als Münzemblem, und schon die antiken Autoren wussten, dass der Handel mit Silphion die Stadt reich machte.

Die karthagischen Expeditionen im Atlantik

In der Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. flaute die Kolonisation gen Westen ab. Die phönikische Kolonie Karthago war zu einer der stärksten Seemächte geworden und nicht mehr gewillt, die phokaischen Piraten- und Handelsfahrten hinzunehmen. Dieses Ziel traf sich mit den politischen Interessen der Etrusker. Im Jahr 535 v. Chr. kam es bei Alalia zu einer Seeschlacht zwischen der verbündeten karthagischen und etruskischen Flotte und dem Aufgebot der Phokaier auf der anderen Seite. Die Verluste der Phokaier waren so groß, dass sie ihre Kolonie auf Korsika aufgeben mussten und sich nach Rhegion und dann nach Elea (Velia) in Süditalien zurückzogen. Korsika ging an die Etrusker verloren und Sardinien geriet unter karthagischen Einfluss. Da die Karthager gleichzeitig die Straße von Gibraltar in den Atlantik für alle fremden Seefahrer sperrten, verlor der atlantische Westen für die Griechen des Ostens an Anziehungskraft.

In dem Maße, wie die Karthager die maritime Expansion der Griechen gen Westen hemmten, forcierten sie ihre Forschungs- und Kolonisationsunternehmungen im Atlantik, der seit jeher für die Phöniker von großem Interesse gewesen war. Eine wichtige politische Voraussetzung hierfür war, dass die Karthager offensichtlich nicht nur gegen die Phokaier, sondern auch gegen das die Atlantikschifffahrt bislang weit gehend kontrollierende Königreich von Tartessos militärisch vorgingen und vermutlich die Hauptstadt sogar gegen Ende des Jahrhunderts zerstörten.50 In diesem Zeitraum, wenige Jahrzehnte nach der Seeschlacht von Alalia, lichtete unter dem Admiral Hanno eine Flotte von angeblich 60 (!) Schiffen und 30 000 Männern und Frauen in Karthago die Anker, um entlang der afrikanischen Küste südwärts an geeigneten Stellen Kolonien anzulegen, den karthagischen Händlern den Zugang zu den Produkten Afrikas (besonders Gold) zu erschließen und dabei so weit wie möglich in unbekannte Gewässer vorzustoßen. Da rund 80 Jahre vorher phönikischen Seefahrern im Auftrag des ägyptischen Königs Necho (610 – 595 v. Chr.) die Umsegelung Afrikas vom Osten aus gelungen war, darf man vermuten, dass hierbei auch die (wegen der ungünstigen Strömungs- und Windverhältnisse) ungleich schwieriger zu realisierende Möglichkeit anvisiert werden sollte, den Kontinent vom Westen zu umsegeln. Dieses Ziel erreichte Hanno nicht, doch gelangte er immerhin bis in den Golf von Guinea, wo ihn dann Versorgungsprobleme zur Umkehr zwangen.51

Fast gleichzeitig (ca. 525 v. Chr.) – und vielleicht in Konkurrenz zu einer Fahrt eines massilischen Kapitäns – startete eine Expedition unter dem Karthager Himilko in entgegengesetzter Richtung auf der Suche nach den sagenumwobenen Zinninseln im nördlichen Atlantik.52 Offensichtlich waren die Karthager bislang auf Zwischenhändler aus Tartessos angewiesen und versuchten nach dessen Zerstörung „auf dem Gipfelpunkt ihrer Macht“53, wie Plinius sagt, die Route selbst zu befahren und damit unmittelbaren Zugriff auf das begehrte Metall zur Herstellung von Edelbronze (durch die Legierung von 90 Prozent Kupfer und zehn Prozent Zinn) zu bekommen. Das Zielgebiet dürften neben den galizischen Zinnminen im spanischen Nordwesten die Zinnlager des britischen Cornwall gewesen sein. Tatsächlich scheint Himilko neben Südengland auch Irland (vielleicht sogar die Azoren) erreicht zu haben; einer der Gründe für das machtpolitische Ausgreifen Karthagos in der Folgezeit dürfte auch die Sicherung des Zinnmonopols im Atlantik gewesen sein, die das gänzliche Fehlen von Zinn in Nordafrika ausgleichen konnte. Wie wichtig die Karthager die Kenntnis der Route nahmen, zeigen ihre auch in Griechenland kursierenden Berichte, wonach das Meer jenseits der Säulen des Herakles (Gibraltar) kaum befahrbar sei und auch sonst allerlei Schrecknisse und Ungeheuer bereithielt. Ihre Propaganda war überaus erfolgreich. Allein die Massilier, die durch die engen Kontakte zu den Händlern aus Gallien und dem Atlantik besser informiert waren, wagten in den folgenden Jahren durch die Straße von Gibraltar in den Okeanos vorzustoßen (siehe Seite 147).

Der griechische Saum

Insgesamt bleibt jedoch der Erfolg der griechischen Kolonien ein historisches Phänomen von eminenter Bedeutung, besonders deshalb, weil sich das Modell des griechischen Stadtstaates und seine Kultur über den gesamten Mittelmeerraum verbreiteten. Sicherlich muss man in Rechnung stellen, dass die Erinnerung der Griechen zahlreiche Rückschläge und Misserfolge weit gehend aus dem postkolonialen Diskurs verbannte, dennoch bleibt festzuhalten, dass sich viele literarisch und archäologisch belegten Kolonien über Jahrhunderte behaupteten; viele erlebten einen glanzvollen Aufstieg und entfalteten erstaunliche kulturelle Energien. Unteritalische Städte wurden zu Zentren der vorsokratischen Philosophie. Kroton war berühmt für seine Ärzteschule. Kolonien wie Lokroi oder Katane brachten Gesetzgeber hervor, die wie Zaleukos oder Charondas noch vor Drakon aus Athen ihren Gemeinden Verfassungen gaben und Teile des Rechts kodifizierten.

Die Gründe für ihren Erfolg sind mannigfaltig. Einmal sicherte ihnen die Lage an den großen Seehandelsrouten auch dann Einnahmen, wenn der militärische Erfolg einmal ausblieb. Die Rolle der Kolonie als Knotenpunkt zwischen Übersee- und Überlandhandel sowie die wachsende Nachfrage der Einheimischen nach griechischen Keramik- und Luxusprodukten förderten die Entwicklung des Handwerkes und zogen zusätzlich Händler an, die Steuern und Zollgebühren in die städtischen Kassen abführten. Schließlich verfügten viele Kolonien über erfahrene Seestreitkräfte, Syrakus sowie die korinthischen Kolonien übten eine begrenzte Thalassokratie aus und betrieben Subkolonisation. Ein weiterer wichtiger Grund für den Erfolg lag in der Ausstrahlungskraft der griechischen Kultur: Zunächst – so zeigt Justin (ca. 133 – 167 n. Chr.) am Beispiel der Phokaier in Massilia – hätten die Einheimischen, weil sie neidisch auf das Gedeihen der Stadt waren, die Griechen durch unablässige Kriege geplagt. Die Phokaier konnten sich dieser Angriffe erwehren und durch Anlage zusätzlicher Kolonien an Autorität gewinnen. Auf die militärische Abwehr der Barbaren folgte in einer zweiten Phase die friedliche Integration: Die Gallier würden nun von den Griechen lernen, „Ackerbau zu treiben und Städte mit Mauern zu umgeben. Damals gewöhnten sie sich auch daran, nach Gesetzen und nicht bloß mit Waffengewalt zu leben, auch Weinreben zu beschneiden und Ölbäume anzupflanzen, und bald war es um Menschen und Dinge so glanzvoll bestellt, dass nicht Griechenland nach Gallien ausgewandert, sondern Gallien nach Griechenland versetzt zu sein schien.“54

Alle Faktoren zusammen, der Wagemut der adligen Kolonistenführer, das Erfolgsmodell der Polis, ihre Seemacht, wirtschaftliche Anziehungskraft und kulturelle Ausstrahlungskraft haben dazu beigetragen, dass um 500 v. Chr. die Mittelmeerküste von Nordspanien bis in das Schwarzen Meeres von einer Kette blühender griechischer Städte besetzt war, oder wie es Cicero Jahrhunderte später ausdrückte, dass den „Barbarenländern gewissermaßen ein griechischer Saum angewebt zu sein scheine.“55

Die Antike und das Meer

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