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Odysseus
ОглавлениеDu musst lernen, wie man Geschichten erzählt. Wie man die Dinge ausschmückt und lügt. Dann kommst Du immer und überall zurecht.
LONG JOHN SILVER
Wer kennt die Geschichte nicht: Auf der Heimfahrt nach Ithaka wird Odysseus, dessen List den Griechen die Tore Trojas geöffnet hatte, in unbekannte Meere verschlagen. Eines Tages lenkt er Schiff und Besatzung an ein zerklüftetes Eiland. Es wird von den Kyklopen bewohnt, gewaltigen einäugigen Riesen. Odysseus wagt sich mit einigen Gefährten in die Höhle des Kyklopen Polyphem, und sie beginnen, sich an den Vorräten zu laben. Plötzlich werden sie von Polyphem überrascht. Anstatt die Gäste zu bewirten und zu beschenken, wie es Sitte wäre – so fügt Homer ironisch hinzu –, versperrt er den Höhleneingang mit einem großen Felsklotz, ergreift zwei Griechen und verschlingt sie. Odysseus versucht ihn darauf mit Worten zu umschmeicheln und antwortet auf die Frage, wer er denn sei: „Mein Name ist Niemand.“ In der Nacht setzen die Griechen ihren Rettungsplan in die Tat um und blenden den vom Wein betrunkenen Kyklopen mit einem glühenden Pfahl. Der vor Schmerz rasende Polyphem ruft seine Gefährten zu Hilfe, doch diese halten ihn für verrückt, weil er auf die Frage, wer ihm denn Leid angetan habe, den angeblichen Namen des Odysseus, „Niemand“, nennt. Am nächsten Morgen können die Griechen unter den Leibern der Schafe hängend den tastenden Händen des Polyphem am Höhlenausgang entgehen und die rettenden Schiffe erreichen.
Die Geschichte ist ebenso spannend wie unterhaltsam, und es gibt wohl niemanden, der die Klugheit und Kühnheit des griechischen Helden nicht bewundern würde. Sie birgt zudem einige Überraschungen, die erst bei genauerem Hinsehen auffallen. Das Land der Kyklopen und ihr Tagewerk sind gar nicht so primitiv, wie es zunächst scheinen mag. Ihre Siedlungen bestehen aus Höhlen, in die sie – wie Homer versichert – Kleinvieh, Schafe und Ziegen am Abend zu bringen pflegen1, eine in vielen mediterranen Küstengebieten noch heute übliche Praxis, die Schutz vor Wind, Wetter und wilden Tieren verspricht. Um die Höhle des Polyphem erstreckt sich ein wohl geordnetes Hofgelände, das durch eine hohe Mauer aus Steinen und Baumstämmen eingerahmt wird.2 In der Höhle strotzten Barren von Käse, „und Pferche waren gedrängt voll von Lämmern und Ziegen. Und abgesondert voneinander waren sie, jegliche für sich, eingesperrt: an ihrem Ort die ersten Würfe, an ihrem Ort die mittleren und an ihrem Ort hinwieder die Spätlinge. Und es troffen von Molken alle Gefäße, Kübel und Eimer, von ihm selbst gefertigt, worin er melkte.“3 Es handelt sich um einen prosperierenden landwirtschaftlichen Hof mit einer Molkerei, die mit Ausnahme von Getreide und Wein alles zum Leben Notwendige produzierte.
Wie sollte der Kyklop als Besitzer dieses Hofes auf die Griechen reagieren? Da kommt ein Haufen Abenteurer und Vagabunden auf sein wohl bestelltes Eiland, dringt in die Vorratsräume ein und verzehrt die sorgfältig gestapelten Früchte mühsamer Arbeit, um sich alsbald wieder aus dem Staub zu machen. Wohl jeder wäre im höchsten Grade erzürnt, wenn er wie Polyphem nach Verrichtung seines Tagewerkes solch ungebetene Gäste vorfände, die auch noch die Dreistigkeit besitzen, ihren richtigen Namen zu verschweigen und – dies setzt der Frechheit die Krone auf – ihren Mundraub damit zu rechtfertigen versuchen, indem sie diesen als Gastgeschenk betrachten: Odysseus und seine Spießgesellen sind nichts anderes als Seeräuber, die plündernd von Küste zu Küste ziehen und die friedliebenden Bauern und Hirten um den Lohn ihrer Arbeit bringen. Homer ist die erste uns bekannte Quelle, die für diese Leute den Begriff peirates, „Piraten“, verwendet.
Hoffnung auf ferne Schätze
Die Kyklopengeschichte bietet exemplarisch eines der wichtigsten Motive, das Griechen der Frühzeit auf das Meer getrieben hat. Tatsächlich beginnt Homer jedes Abenteuer aus der nicht kleinen Reihe der Irrfahrten des Odysseus mit der unverhohlenen Gier nach Beute, die man durch Raubzüge an fremden Küsten zu erringen hofft. „Fort von Ilion trug mich der Wind“, erzählt Odysseus stolz den Phäaken, „zum Land der Kikonen / kam ich, nach Imros. Ich zerstörte die Stadt, und die Männer / ließ ich erschlagen. Doch nahmen wir Frauen und Mengen von Gütern / mit aus der Stadt zum Verteilen; zu kurz sollte keiner mir kommen.“4 Selbst der Besitz der Götter bleibt nicht verschont, als Odysseus sich an den Heiligen Kühen des Helios vergreift! Wurde man hierbei gefangen, dann gab es nur eine Strafe, die auch später jeden Piraten erwartete, nämlich die sofortige Hinrichtung, meist in Form der Lynchjustiz. Der Kyklop Polphem vollzog diese Hinrichtung, indem er die Räuber einzeln verspeiste. Dies entspricht dem Genre abenteuerlicher Schiffermärchen und reiht sich in zahlreiche andere mythische Erzählungen von gefangenen Seeräubern und deren Bestrafung ein. So plante Aietes, der göttliche König der Kolcher, Jason und seine Argonauten auf grausame Weise zu töten, indem er sie gegen Feuer speiende Stiere, aus der Erde entsprungene Soldaten und gegen einen Drachen kämpfen ließ; denn er hielt auch sie – zu Recht – für Piraten und Plünderer.5
Die Hörer Homers werden diese Strafen nicht überrascht haben; die meisten von ihnen waren selbst Besitzer von Gutshöfen in Küstennähe und somit der gleichen Gefahr ausgesetzt wie Polyphem und Aietes; vermutlich hätten sie am liebsten ähnlich reagiert, wenn ihnen ein Mann wie Odysseus in die Hände gefallen wäre, der ihre Vorratskammern zu plündern trachtete. Dennoch – und dies ist das Erstaunliche – nahmen sie offenbar keinen moralischen Anstoß an solchen Taten. Denn Odysseus war, wie alle Helden Homers, einer von ihnen, ebenfalls Herr eines großen Hofes, vermutlich des größten auf Ithaka, und konnte sich deshalb zu den basileis, den vornehmen Fürsten der Insel, zählen. Die Pflege des Hofes (oikos) war jedoch nur eine Seite des aristokratischen Lebens. Denn dieses Leben bedurfte der Zurschaustellung außergewöhnlicher Reichtümer sowie der steten Demonstration individueller Tüchtigkeit (arete) durch Bewährung im Kampf oder durch heldenhafte Taten. Diese Reichtümer, mit denen man die Standesgenossen beeindrucken konnte, waren jedoch in Griechenland nur schwer zu finden, und so musste man sie an fernen Gestaden suchen. „Indem ich in jenen Ländern umherirrte“, bekennt Menelaos voller Stolz vor dem jungen Telemach, „habe ich all dieses ungeheure Vermögen gesammelt.“6 Es handelt sich hier also weniger um Irrfahrten als um gezielte Kaperfahrten, und nicht ohne Grund richteten sie sich – wie die des Menelaos – gegen die syrische Küste, das reiche Ägypten oder – wie die des Odysseus – auf den fernen Westen. Dieser galt seit Urzeiten als ein paradiesischer Ort voller märchenhafter Schätze – man denke nur an die goldenen Äpfel der Hesperiden – und wurde zu Homers Zeiten wieder von griechischen Seefahrern (vornehmlich aus Euböa) erschlossen. Oder man wagte sich wie Jason und seine Argonauten ins Schwarze Meer, weil auch hier im fernen Kolchis das Gold lockte; man sammelte es in aus Schafhäuten gefertigten Sieben, der Mythos hat daraus das Goldene Vlies gemacht.
Bewährung auf dem Meer
Die Suche nach Reichtümern – an erster Stelle Gold – und individuellem Ruhm waren zwei der stärksten Stimuli, die den griechischen Aristokraten – vergleichbar den frühneuzeitlichen Konquistadoren – aufs Meer trieben. Gerade die Ionier Kleinasiens, also die Landsleute Homers und seine Zuhörerschaft, waren hierbei so berüchtigt, dass sie von den Quellen pauschal als Seeräuber bezeichnet wurden.7 Der privat organisierte Raub fremder Güter unterschied sich von einem ,offiziellen Krieg‘ wie dem gegen Troja nur graduell: Auf den Kaperfahrten durfte man sich jederzeit durch Flucht retten und dabei auch, wenn es Not tat, den Schild wegwerfen oder sich verleugnen – so wie es Odysseus gegenüber dem Kyklopen tat. Auf dem Schlachtfeld vor Troja war dagegen beides undenkbar, hier kämpfte man bis zum bitteren Ende und gab sich – wie bei einem neuzeitlichen Duell – vor jedem Kampf namentlich zu erkennen; denn hier ehrte der Kampf selbst, dort war es die Beute, um die es ging. Doch beide Arten der Bewährung galten als ehrenhaft, weil beide der Statussicherung des Aristokraten dienten.8 Thukydides blickt auf die Ursprünge der griechischen Geschichte zurück: „Die alten Hellenen (. . .) hatten sich, seitdem sie häufiger einander besucht hatten, auf die Seeräuberei verlegt. Die Führung dabei übernahmen die Mächtigsten zu ihrer eigenen Bereicherung und Versorgung der Ärmeren mit Lebensunterhalt. Sie überfielen die mauerlosen, dorfartig gebauten Städte, plünderten sie aus und lebten fast gänzlich davon. Schande brachte dieses Handwerk nicht, vielmehr Ruhm.“9 Sicherlich übertreibt und generalisiert Thukydides in unzulässiger Weise, wenn er behauptet, dass die Mächtigsten, d.h. die basileis, fast ausschließlich vom Raub lebten und dazu noch die Ärmeren mitversorgten. Eine solche Lebensweise war auf Dauer im kargen Griechenland kaum möglich, sie ist ein Extrem, das aber immerhin in den Epen thematisiert wurde. So präsentiert sich Odysseus dem unbedarften Eumaios ganz ungeniert als kretischer Plünderer und Menschenräuber:
Der Landbau lag mir schon gar nicht / auch nicht die Wirtschaft im Haus; sie erzieht ja nur prunkende Kinder. / Dafür galt meine stetige Liebe den Schiffen mit Rudern, / Kriegen, Pfeilen und blinkenden Speeren; grausiges Werkzeug;/ Andere spüren dabei so ein frostiges Schaudern. Doch ich war / immer darin verliebt. (. . .) Ehe nämlich die Söhne Achaias Troja betraten, / führte ich neunmal Männer und Schiffe mit eiligstem Seegang. Ziel waren Menschen der Ferne; und vieles glückte mir trefflichst.10
Diese Lügengeschichte drückt Sehnsüchte aus, die jeden Aristokraten der archaischen Zeit bewegten. Von moralischem Skrupel keine Spur, dieser wird allenfalls von einem Sklaven wie Eumaios geäußert, der vorsichtig zu bedenken gibt: „Ja, es gibt Leute, feindlich gesinnt und bar jeden Rechts; / die überfallen ein fremdes Gebiet, und Zeus gibt Beute; ziehen dann wieder nach Hause auf Schiffen, die reichlich gefüllt sind.“11 Doch dies ist die Sicht des Opfers, nicht die der Adligen, zu denen sich auch die Hörer Homers zählten: Was scherte sie die Frage des Rechts, wenn sie allein darüber bestimmten. Bei ihnen überwog das Vergnügen an der listigen Schlauheit des räuberischen Helden und seiner Mannschaft gegenüber dem Mitleid mit den fremden Höfen und den geraubten Menschen. Und zu dieser Schlauheit gehörte eben auch, dass man Geschichten erzählen kann, Lügen erfindet und sich so jeder Wendung des Geschicks zu erwehren weiß.
Eine besondere Anziehungskraft müssen diese Geschichten von Abenteuern und maritimen Plünderungszügen auf die jungen Aristokraten ausgeübt haben. Es wimmelt im griechischen Mythos von jungen Helden, die auf See und an fernen Gestaden ihre ersten großen Abenteuer bestehen: Ob Jason, Theseus, Paris oder selbst der ehrenhafte Hektor, sie alle bemannen in ihrer Jugend Schiffe, steuern mit ihren Gefährten (hetairoi) aufs Meer und kehren erst dann wieder in die heimatlichen Gefilde zurück, wenn sie fremde Menschen getötet, Städte beraubt, Könige betrogen und deren Töchter oder Gemahlinnen entführt hatten. Die Kaperfahrt wird zur aventure, auf der sich der werdende Held bewähren und seine ersten Sporen im Kreise der Standesgenossen verdienen muss. Nicht ohne Grund bedeutet das griechische Wort peiran, von dem peirates für „Pirat“ abgeleitet ist, soviel wie „erproben“, „suchen“ oder „wagen“. Dieser Aspekt zieht sich durch die gesamte Antike, lediglich im traditionell Land verbundenen Sparta wurde den Jugendlichen auferlegt, in Form der krypteia zu Lande zu rauben und zu morden. Alle anderen Griechen der Küstenregionen zog es dagegen aufs Meer. So rechnet ein Gesetz Solons aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. mit Kaperfahrten athenischer Adelsgeschlechter12, und selbst in der Zeit der athenischen Demokratie bezeugt Platon, dass die Piraterie eine weit verbreitete Beschäftigung der jungen Adligen war:
Möge euch doch, ihr Lieben, niemals Liebe und Lust an der Jagd am Meeresufer ergreifen (. . .) noch möge die in euch erwachende Neigung, zur See auf Menschen Jagd zu machen und Seeräuberei zu treiben, euch zu rohen und gesetzeswidrigen Jägern machen.13
Im 2. vorchristlichen Jahrhundert berichtet Polybios von ätolischen Jugendlichen aus aristokratischen Häusern, die mit angeworbenen Helfern auf Seeraub ausgehen, um so ihre Karrierechancen in der Heimat zu verbessern.14 Piraterie war so ein komplexes Phänomen, das weit in die griechische Gesellschaft hineinreichte und keineswegs mit dem Geruch zivilisatorischer Rückständigkeit oder sozialer Not behaftet sein musste.
Daneben gab es natürlich die Küstenpiraterie armer Bauern oder Fischer, die bei schlechten Ernteerträgen und günstiger Gelegenheit ihren Nachen bestiegen und vorbeifahrende Schiffe in ein Riff lockten und ausraubten.15 Diese Form der „kleinen Piraterie“ gehört zur Alltagswelt der Antike; sie findet in den Quellen aber selten Erwähnung, denn sie hatte nichts Ruhmreiches oder Abenteuerliches an sich und spielte sich in den nahen Küstengewässern ab, nicht an fernen Gestaden und auf fremden Meeren. Die „große“, historisch folgenreichere Piraterie war zumindest in der Archaik eine Sache des Adligen und seiner hetairoi, denn nur er konnte sich Schiffe und Mannschaften leisten, und nur er hatte die Autorität, das Wissen und die Erfahrung, um seine Gefolgschaft in gewagte Unternehmungen zu führen, von denen niemand wusste, ob er sie heil überstand.
Handel auf dem Meer
Wo es Seeraub und Plünderung gibt, da gibt es auch Beute, neben den Küstendörfern auch Händler, die zur See fahren und wertvolle Waren mit sich führen. Tatsächlich fragte Polyphem Odysseus und seine Gefährten, „ob sie Händler seien, die des Geschäftes wegen das Meer beführen, oder Räuber, die auf dem Meer umherschweifen, den Fremden zum Unheil“. Archäologische Zeugnisse bestätigen, dass zur Zeit Homers wagemutige Griechen in die phönikischen Seehandelsmonopole einzudringen begannen. Handel setzt bestimmte Bedürfnisse voraus, und es fragt sich, wo diese Bedürfnisse anzusiedeln sind und von wem sie befriedigt wurden. Wieder gibt Homer einige Hinweise: Telemach, der Sohn des Odysseus, erhält eines Tages Besuch von Athene, die sich als Mentes (ein alter Gastfreund des Odysseus aus dem Gebiet der Taphier) ausgibt: „Ich fuhr mit Gefährten / fort auf dem weinroten Meer zu Menschen mit anderen Sprachen. / Temesa bietet mir Kupfer, da ich funkelndes Eisen ihm bringe.“16 Bei Temesa dürfte es sich um Zypern handeln. Es gehörte zu den zahlreichen Inseln des griechischen Mythos, die als ungeheuer reich und von den Göttern gesegnet galten. Der reale und den Griechen schon in homerischer Zeit bekannte Reichtum Zyperns bestand in den ertragreichen Kupferlagerstätten. Ferner war Zypern ein Knotenpunkt des Überseehandels von Ägypten und der Levante in die Ägäis, und es lag auf dem Weg zu den Eisenerzlagern des Taurus. Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass die Phöniker bereits im 9. Jahrhundert v. Chr. und die Griechen rund 100 Jahre später dort mehrere Handelsstützpunkte errichteten. Bei den Griechen dürfte es sich vornehmlich um die der kleinasiatischen Küsten gehandelt haben, der mutmaßlichen Heimat Homers und seiner Auftraggeber bzw. Hörer. Ein weiteres Handelszentrum im Osten war Al Mina am Orontes im nordsyrischen Raum. Hier fanden Archäologen die Fundamente großzügig angelegter Kontore und Büroräume, die offensichtlich von griechischen und phönikischen Kaufleuten gemeinsam benutzt wurden. Dieser friedliche Kontakt zwischen den beiden größten Seefahrernationen der Antike erwies sich besonders für die Griechen als lehrreich, denn dabei dürften sie die phönikische Sprache adaptiert und die Bauweise der phönikischen Handelsschiffe übernommen haben.
Die Eisenfracht, die Mentes mit sich führte, stammte dagegen aus dem Westen, also von dort, wohin Poseidon auch Odysseus verschlagen hatte; vermutlich wurde das Erz aus den Anbaugebieten der oberösterreichischen Hallstattkultur gewonnen, in den Schmelzöfen von Pithekussai auf Ischia verarbeitet und von dort weitertransportiert. Homer kannte diese Seehandelsverbindungen, sodass die Figur des Mentes reale Verhältnisse des früharchaischen Seehandels und der beginnenden Kolonisation spiegelt: Tatsächlich waren bereits im 8. Jahrhundert v. Chr. euböische Händler bis in den Golf von Neapel vorgedrungen und hatten hier – wie die Griechen auf Zypern und am Orontes – Faktoreien gegründet. Auf diese Weise ergab sich für einen Händler wie Mentes eine beeindruckende Fahrtroute: aus der Sicht der Alten nahezu von einem zum anderen Ende der Welt.
Über die Herkunft und soziale Stellung des Mentes ist viel gerätselt worden. Er (bzw. sie) gibt sich als König der Taphier aus, d. h. als ein führendes Mitglied des taphischen Adels, vergleichbar den basileis des griechischen Festlandes. Sicher ist dies allerdings nicht, denn als Händler das Meer zu befahren entsprach nicht dem Ideal des homerischen Helden: „Vielmehr scheinst Du ein Schiffsherr zu sein“, so wurde z. B. der bis dahin verkannte Odysseus von einem jugendlichen Phäaken verhöhnt, „einer von denen, die immer / wieder kommen auf Schiffen mit zahlreichen Ruderern; ein Krämer / denkt an nichts als an Fracht, hält Auschau allein nach Ladung / Gelder will er nur raffen! Du gleichst nicht dem echten Athleten.“17 Vielleicht hatte Mentes aus irgendeinem Grund sein Land verloren und war von seinem oikos getrennt worden, oder er musste wegen einer Privatfehde zur See fahren; vielleicht war der Handel aber auch nur ein Teil seiner Geschäfte: Das Volk der Taphier wird von Homer auf einer Insel nördlich von Ithaka lokalisiert und als Seeräuber geschildert.18 Dies ist ein wichtiger Hinweis darauf, wie fließend in der Praxis die Übergänge von der Tätigkeit des Seehändlers zu der des Seeräubers waren.19 Auch der Vater des böotischen Dichters Hesiod (8. Jahrhundert v. Chr.) war nach einer gescheiterten Existenz als Bauer in Kleinasien (aus dem aitolischen Kyme) „auf der Flucht vor bitterer Armut“ aufgebrochen, um als Händler und Seeräuber „segelnd in dem Schiff, nach edlen Gütern zu spähen“20, bevor er sich von seinem Gewinn auf der anderen Seite der Ägäis im böotischen Askra ein Stück Land kaufte und niederließ.21
Für wen aber waren die von Mentes beförderten Waren bestimmt, wer war also der Abnehmer seiner Fracht? Ein Hinweis könnte der Aufenthalt und die Gastfreundschaft des Mentes am Hof des Odysseus geben, denn nichts liegt ja näher als die Annahme, dass er dort Kunden fand, wo er als Gastfreund gern gesehen war. Und tatsächlich hatten Odysseus und die anderen basileis großen Bedarf an wertvollen Rohstoffen wie Kupfer oder Eisen, die es im Ägäisraum nicht oder nicht ausreichend gab. Denn nur aus diesen Rohstoffen konnten sie ihre Waffen anfertigen und Luxusgegenstände herstellen lassen, die ihr Leben als Aristokraten zierten und die sie bei den großen Festen präsentierten.
Die Adligen waren freilich zum Erwerb dieser Rohstoffe nicht ausschließlich auf Männer wie Mentes angewiesen, sondern ließen, zumal in Notzeiten und wenn der eigene Hof nicht genügend Tauschartikel abwarf, eigene Schiffe bemannen und auslaufen. So fuhr der Vater Hesiods zur See, um Handel zu treiben und von den Gewinnen (chremata) standesgemäß zu leben, d. h. am Leben der Adligen teilnehmen zu können.22 Auch Odysseus bekennt, ihm seien die Gewinne wichtiger als die Heimkehr.23 Männer aristokratischer Herkunft wussten die Gewinnchancen, die sich aus dem Seehandel ergaben, zu schätzen, auch wenn man nicht gerne selbst als Händler auftrat: Ob man diese Gewinne auf dem Wege des Tauschhandels mit fremden Händlern machte oder mit den üblichen Raubzügen zur See verband, war mehr eine Frage der sich bietenden Gelegenheiten als des Prinzips. In jedem Fall wurde man spätestens dann vom Pirat zum Händler, wenn es galt, das erbeutete Gut – Metalle, Wein, Gefangene, Sklaven – einzutauschen.24
Die Lust am Entdecken
Die Odyssee und speziell die Kyklopengeschichte bieten aber noch viel mehr als die epische Ausmalung aristokratischer Raub- und Handelsfahrten. Die Kyklopen waren nicht einfach Nachbarn, die man – wie es der greise Nestor und mit ihm viele junge Adlige taten – kurzerhand überfällt, sondern sie lebten im fernen Westen am Rande einer magischen Grenzwelt, wo einst auch die Phäaken wohnten.
Heute ist man sich weit gehend einig, dass die Abenteuer des Odysseus und die Handelsfahrten des Mentes die ungefähre geographische Kenntnis eines maritimen Großraumes zwischen Griechenland, Tunesien, Sizilien und Kalabrien voraussetzten.25 Als Odysseus seinen Gefährten den Plan offenbart, sich auf die Insel der Kyklopen zu wagen, erklärt er, er wolle „mit seinem Schiff die Männer erkunden und wer sie sind“26; das griechische Wort für „erkunden“ ist historiein. Als die Gefährten des Odysseus ihn in der Höhle des Kyklopen anflehen, sich doch mit Käse, Zicklein und Lämmern zufrieden zu geben und schnell wieder in See zu stechen – eine durchaus verständliche Bitte angesichts der üblen Geschichten, die man sich von den Kyklopen erzählte –, lehnte Odysseus ab mit dem Hinweis, „er wolle den Mann selbst sehen und abwarten, ob es mit ihm Gastgeschenke gäbe“.27 Hieraus spricht zunächst nichts anderes als Neugier, nun persönlich einen derjenigen kennen zu lernen, von denen die Welt bisher nur Sagenhaftes zu erzählen wußte.
Was aber hat es mit dem Wunsch auf sich, Gastgeschenke zu erhalten? Ist es eine arrogante Verhöhnung des ohnehin schon Bestohlenen oder will Odysseus erkunden, ob der Kyklop wirklich unzivilisiert und schrecklich sei, wie es das Seemannsgarn erzählte? Vermutlich steckt von beidem etwas hinter dem absonderlichen Wunsch, und vielleicht gehört es einfach zum Ehrenkodex eines Aristokraten, dass man von fernen Reisen Gastgeschenke nach Hause bringt, wer auch immer der Gastgeber war.
Odysseus geht über das Übliche und von seinen Gefährten Erwartete hinaus. Neugier und Lust am Entdecken scheinen alle Vorsicht vergessen zu lassen. Die Griechen sprechen in solchen Fällen von pathos, der Leidenschaft, die den logos übermannt. Dies ist ein charakteristischer Zug, der das Verhältnis des griechischen Adligen zum Meer bis weit in die klassische Zeit hinein bestimmen sollte. Der Bruder Hesiods verspürte eine „Sehnsucht nach der Seefahrt“.28 Thukydides schreibt im 5. Jahrhundert v. Chr., dass die jungen Athener „von einer unheilvollen Liebe zu dem Entfernten“ ergriffen wurden29, als der Plan aufkam, während des Krieges gegen Sparta Sizilien zu erobern. Sie seien von einer fast sinnlichen Liebe (eros) erfasst worden und „hatten Sehnsucht, die Fremde zu schauen und kennen zu lernen“.30
Man kann lange darüber nachsinnen, woher dieser Drang nach der Ferne stammt. Die beengten geographischen und bäuerlichen Verhältnisse einerseits und der leichte Zugang zum Meer sowie die günstige Lage an viel befahrenen Seerouten andererseits bildeten wichtige Voraussetzungen. Ferner fehlten in Griechenland – anders als in den Territorialreichen des Ostens – attraktive Ziele im Innern des Landes und staatliche Autoritäten, die ein Ausbrechen aus dem Zentrum an die Peripherie verhindert hätten. Schließlich bot das Meer dem Adligen oft die einzige Möglichkeit, der Enge der heimatlichen Welt zu entfliehen und unbedrängt von innenpolitischem Hader, adliger Gruppenkontrolle oder staatlichen Institutionen seinen Traum von Freiheit, Ruhm und Ehre zu verwirklichen.
Das Meer als Metapher für Freiheit
Die grenzenlose Weite des Meeres wurde zum Sinnbild für die absolute Freiheit des Aristokraten; nicht ohne Grund ist es eine nur über das Meer zu erreichende Idealwelt (Kalypsos Eiland, die Insel der Seligen), die ihm das Leben verhieß, das ihm zu Hause verwehrt war. Jede Seefahrt an ferne, mithin unbekannte Gestade barg den unwiderstehlichen Reiz, auf dem Meer die Grenzen des Normalen und Erwarteten zu überschreiten und in Welten vorzudringen, in denen sich Träume und Wirklichkeit vermischten. Diese Welten waren dem normalen Sterblichen verschlossen; nur der edle Menelaos war von den Göttern ins Elysium am westlichen Okeanos, dem die Erdscheibe umfließenden Weltmeer, versetzt worden.31 Welche Herausforderung konnte größer sein, als in diese Welten vorzudringen und damit die äußersten Grenzen menschlicher Fähigkeiten zu durchbrechen? Denn auf dem Meer forderte man nicht nur menschliche Satzungen und Konventionen, sondern auch göttliche Gebote heraus, wie es Odysseus tat, als er Poseidon beleidigte und sein Reich – das Meer – zu bezwingen versuchte.
Der Reiz einer solchen Herausforderung scheint im Ethos des griechischen Aristokraten tief verwurzelt gewesen zu sein und hängt vermutlich mit der agonalen Lebensauffassung des Griechen zusammen: Im Zweifelsfall zählte der individuelle Kampf um Ruhm und Ehre mehr als die Ehrfurcht gegenüber den Göttern oder die Loyalität gegenüber einem Staat, der zumal in der archaischen Zeit erst rudimentär ausgebildet war. Und auch später hat die Polis diese Ambitionen der Adligen zwar immer wieder zu zähmen versucht, sie aber nie ganz zu unterdrücken vermocht.
Mit dem materiellen Impetus verband sich so der aristokratische Ehrgeiz, den Kampf mit dem Meer aufzunehmen und dabei an die Grenzen menschlichen Könnens gegenüber der Allmacht der Götter und der von ihnen geschaffenen Ordnung vorzustoßen. Dahinter stand ein elementares Erlebnis: Vor der Aussicht auf Beute und dem Vorstoß in unbekannte Gewässer musste die Furcht vor dem unberechenbaren Element des Wassers überwunden werden. Wir kennen heute das Mittelmeer als einen überschaubaren Raum, der per Schiff in wenigen Tagen durcheilt werden kann. Für die Griechen der Archaik war es eine grenzenlose Wasserwüste voll unberechenbarer Gefahren, die Furcht und Respekt einflößte. Selbst der wagemutige Odysseus kannte diese Furcht, und erst die Überwindung machte ihn zum mannhaften Helden. Hier erkennen wir eine anthropologische Grundkonstante, die das Verhältnis des griechischen Adels – überhaupt des antiken Menschen – zum Meer maßgeblich bestimmte und insbesondere junge Männer herausforderte. Immer wieder sind es Jünglinge wie Telemach oder Theseus, die, kaum erwachsen – vergleichbar einem Initiationsritus –, ihre ersten Abenteuer auf dem Meer bestehen müssen: Die Seefahrt wird zur gesellschaftlich anerkannten Mutprobe. Das Ziel ist dabei zunächst zweitrangig, auch wenn der junge Held wie Theseus oder Jason schöne Prinzessinnen mit nach Hause bringt; Telemach wirkt eher blass, geht er ,nur‘ auf die Suche nach seinem Vater, doch gerade dies macht ihn sympathisch und menschlich. Zudem hat er auf seiner Fahrt einen Mentor im wahrsten Sinne des Wortes, nämlich Athene in Gestalt des Mentes, der ihm Mut gibt und Anweisungen für die Zusammenstellung der Schiffsmannschaft erteilt.
So unterschiedlich die Rahmenbedingungen für die verschiedenen Protagonisten auch sein mochten, sie alle einte die Aufgabe, die Furcht vor dem Meer zu überwinden, um sich am Ende als Mann beweisen zu können. Telemach hat sich genauso bewährt wie die zahllosen Helden, von denen wir hören, denn sonst wären sie ja keine Helden geworden: „Jetzt kann ich denken“, verkündet Telemach stolz nach seiner Rückkehr, „und weiß auch alles, was edel und schlecht ist; doch früher war ich noch kindisch.“32 Aus der einmal bestandenen Mutprobe kann eine dauernde, das ganze Leben bestimmende Leidenschaft werden, eine Art Hassliebe, die den Menschen immer wieder dazu treibt, sich mit dem Meer zu messen und mithin das Böse zu besiegen: „Übel gibt es gewiss, doch kein anderes vergleicht sich dem Meer“, resümiert einer der Phäaken33, und er kann sich der Zustimmung aller Griechen gewiss sein. Dieses Spannungsverhältnis zwischen der Angst vor und der Sehnsucht nach dem Meer machte die Dynamik aus, die der griechischen Eroberung des Meeres von Beginn an innewohnte und ihre Geschichte – wie wir im Folgenden sehen werden – immer wieder maßgeblich beeinflusst hat. Auch Odysseus hat sich dem nicht entziehen können: Als er endlich nach zehnjähriger Irrfahrt glücklich in Ithaka angekommen und die Freier der Penelope bestraft hatte, eröffnete er seiner verdutzten Gemahlin die Prophezeiung des Teiresias:
Liebes Weib, wir stehen ja noch gar nicht am Ende der Plagen; / Unermessliche Mühen wird es noch kosten; ich muss sie / alle zu Ende noch bringen, so viel und so schwer sie auch seien. (. . .) Denn der Gott hieß mich, zahllose Städte der Menschen / aufzusuchen, in Händen ein handliches Ruder zu tragen, / Bis ich zu jenen dann käme, die nichts mehr wissen vom Meer, / Menschen, die Salz auch nicht mit den Speisen genießen, die also gar nichts wissen, / träfe mich endlich ein anderer Wanderer und sagte, ich trüge / wohl eine Schaufel bei mir auf der glänzenden Schulter, / erst dann sei es Zeit, das Ruder im Boden fest zu verstauen.34