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1 Spuren des Leibhaftigen


„Wenn demnach die Einteilung der Krankheiten ein zwar unvermeidliches, aber nicht besonders wichtiges Geschäft ist, so gibt es doch eine Art des Einteilens, welche der Krankheitsidee, die wir vertreten, entspricht. Das ist die, welche sich aus der Lebensordnung eines Menschen in seinem Zusammenleben mit anderen Menschen (vor, mit oder nach ihm lebend) ergibt.“ (Viktor von Weizsäcker)

1.1 Kindliche Liebe, leibliche Haftung und

vertragliche Bürgschaft

Seit einigen Jahren häuft sich die Zahl von Untersuchungen, die auf die Entwicklung schicksalhafter familialer Verstrickungen und ihre Verwobenheit mit Krankheiten hinweisen. Nach meinen Beobachtungen ist die genaue Beachtung des Zeitpunkts, zu dem die Symptomatik sich bemerkbar macht, sowie des Ortes, an dem eine Erkrankung auftritt (Person, Organ, Organsystem), wegweisend für das Verständnis des krankhaften Geschehens. Anders gesagt: Häufig erscheinen Zeit und Raum geradezu als die wichtigsten Ordnungsmächte unseres Leibes.

Der Leibbegriff hat eine vielschichtige Tradition. Den „Leib“ vom „Körper“ zu unterscheiden, dient dazu, den lebendigen Organismus vor Verwechslungen mit einem Leichnam zu bewahren. Der Leib ist grundsätzlich der lebende Organismus: der „beseelte Körper“, die „bekörperte Seele“, der „Körper“, der der Seele seine Form schenkt, zugleich die „Seele“, die den Körper mit Inhalt erfüllt. Sobald es nämlich nicht mehr um physikalische „Körper“ geht, sondern um lebendige „Leiber“, verändert sich zwangsläufig die Bedeutung der Rede von Raum und Zeit. In einer belebten Welt zeigt sich, dass Raum und Zeit eben nicht, wie Kant (1787, 69 ff) meinte, bloße „Formen der Anschauung“ sind, sondern in der Tat Ordnungsmächte. Lebensraum und Lebenszeit stellen keine bloßen Einteilungsschemata für eine beliebige Anordnung von Körpern dar. Vielmehr wirken sie als Kräfte, die den historischen und biografischen Prozessen des Lebens die Bedeutung vorgeben und einer erkennbaren leiblichen Ordnung Geltung verschaffen.

Leib und Leben, die wir von unseren Eltern erhalten haben, sind kein Blankoscheck, sondern eine Mischung aus Guthaben und Hypothek. Dass das so ist, lässt sich prüfen. Es hängt damit zusammen, dass unsere Eltern mit ihren Eltern in einem Austausch stehen oder gestanden haben, der spätestens durch ihre Partnerschaft miteinander mehr oder weniger drastisch unterbrochen worden ist. Es hängt außerdem damit zusammen, dass die Eltern als Partner zueinander in einem Austausch stehen oder gestanden haben, der allerspätestens durch unsere Geburt ebenfalls unterbrochen bzw. modifiziert worden ist: Was die Eltern dann mit ihren Eltern (und Geschwistern) noch nicht ins Reine gebracht haben und was sie untereinander nicht ins Reine bringen, das wird unbewusst auf einem imaginären oder virtuellen Konto verbucht und wirkt im Leben ihres Kindes entweder als Soll oder als Haben. Und es zeigt sich, dass es keineswegs gleichgültig ist, ob dies Kind das erste, zweite oder dritte Kind der Eltern ist. Für diese unbewusste Buchführung (Boszormenyi-Nagy u. Spark, 1983) ist auch nicht gleichgültig, ob es sich dabei um den ersten, zweiten usw. Sohn bzw. um die erste, zweite usw. Tochter handelt. Ja, häufig ist es sogar von großer Bedeutung, ob das erste Kind ein Mädchen oder ein Junge wird, ob danach ein Kind des anderen Geschlechts kommt usw. Das alles wird von dem betreffenden Neugeborenen spontan erfahren, ohne dass es sich darüber Rechenschaft ablegen könnte. Und im weiteren Leben kommen weitere Erfahrungen derselben Art hinzu, wenn nahe Angehörige der Eltern sterben oder auf andere Weise dem lebendigen Austausch verloren gehen.

Der Austausch selbst steht unter dem impliziten, unbewussten, also gleichsam „objektiven“ Thema, inwiefern es den Beteiligten gelingt, die Güte des Lebens zur Geltung zu bringen. In jedem Kind, das entsteht, lebt die Hoffnung darauf, dass die Liebe, der es sein Leben verdankt, sich erfüllt und dazu führt, die Welt reicher zu machen und den Reichtum der Welt zur Entfaltung zu bringen. Zuweilen gewinnt man freilich auch den Eindruck, dass die Hoffnung der Eltern in dem Augenblick, in dem das Kind entstanden ist, bereits verloren sei. Das aber heißt ja nicht, dass das Kind frei wäre von dieser Hoffnung - im Gegenteil: Es trägt dann die ganze Last, die die Eltern ihm in ihrer Hoffnungslosigkeit übertragen haben. Ein solches Kind ist im allgemeinen völlig überfordert und hält sich mit einem Hauptteil seiner Kraft an andere Menschenkinder, um die Hoffnung, die ihm übertragen worden ist, angesichts der eigenen Schwäche dennoch zur Geltung zu bringen.

Das ist der Kern eines blinden historischen Prozesses, dem wir auf die Spur kommen, wenn wir die Stellvertretungsfunktionen untersuchen, die Menschen zunächst innerhalb von Familien, dann aber auch außerhalb von Familien füreinander erfüllen. Man kann diese Funktion als Buchungs- und Umbuchungsvorgänge beschreiben, wenn man beachtet, dass es dabei nicht um Geld, sondern um die Erfüllung der Liebe zur Welt, zu den Eltern und zum Leben geht. Diese Art der Betrachtung liefert den Schlüssel zur Erkenntnis jenes blinden Treibens emotionaler Beziehungen, das von Sigmund Freud als „Triebgeschehen“ bezeichnet worden ist und das im Untertitel meines Buches „Schicksalsbindung“ genannt wird.

Freud hat das Triebgeschehen theoretisch auf unser physisches Erbe zurückzuführen versucht. Damit hat er angedeutet, dass es keine Kleinigkeit sei, daran etwas zu ändern. Modernere, darum nicht unbedingt weitsichtigere Theoretiker haben diesen materialistischen Grundgedanken aufgegriffen und auf die Erfolge der Genforschung bezogen - in der Hoffnung, dass es vielleicht möglich sein werde, einen besseren Typ Mensch zu züchten als den, der es seit Jahrtausenden nicht verstanden hat, Frieden mit der Welt, mit den Anderen sowie mit dem eigenen Leben und Sterben zu schließen. Ich halte diese Denkrichtung für eine Illusion und meine stattdessen, dass es sich um Grundfragen der Kultur, nicht der Natur des Menschen handelt, dass es hier also nicht um offene Fragen der Naturwissenschaften geht, sondern um offene Fragen des Wissens um das Wesen der menschlichen Kultur.

Diese Auffassung habe ich durch meine Tätigkeit als Arzt und Therapeut gewonnen. Die entscheidende Erfahrung ist die Entdeckung gewesen, dass zeitliche Rhythmen im Leben der Menschen eine schicksalhafte Bedeutung haben, dass aber diese zeitlichen Rhythmen, die sich quasi naturwissenschaftlich berechnen und bestimmen lassen, insofern einen historischen Charakter haben, als sie den Verlauf des Lebens unserer Vorfahren abbilden. Man kann die Beschäftigung mit solchen Rhythmen durchaus mit der Betrachtung der Jahresringe von Baumstämmen vergleichen: In ihnen findet sich die Erinnerung an die wechselvollen klimatischen Verläufe vieler Jahre. Etwas ähnliches findet sich bei der Betrachtung des Leibgeschehens: In unseren Leibern sind die Biografien unserer Familien enthalten, als bildeten die Lebensläufe unserer Vorfahren darin virtuelle Jahresringe.

Derartige Zusammenhänge zwischen den Biografien der Mitglieder von Familien werden verständlich, wenn man sie auf ebenjene Buchungen und Umbuchungen, Kredite und Hypotheken bezieht, die in den Ordnungen und Unordnungen der Liebe zwischen den Menschen heimlich zur Geltung gelangen. Das Heimliche ist das Gesetzmäßige. Das Verschlossene zu enthüllen, das Chiffrierte zu entschlüsseln heißt: das Gesetz, das darin wirkt zu erkennen. Erkennen und berechnen lassen sie die Zeitpunkte und die Orte, wann bzw. wo ein Kredit fällig ist oder ein Guthaben für die Auszahlung bereit liegt. Die Metaphern des Geldverkehrs sind stimmig, insofern das Geld als materialisierte Gestalt von Liebe angesehen werden darf: In ihm ist die Verpflichtung eines im Tausch systematisch ausgeschlossenen, vorerst beliebigen, unbekannten Dritten symbolisiert, dem schon vorweg und blindlings die Aufgabe auferlegt wird, die Schuld des Geldgebers gegenüber dem Geldnehmer zu einem späteren Zeitpunkt zu begleichen. Der Begriff der Liebe konkretisiert sich im Zweck des Tausches. Er bedeutet: wechselseitige Verleihung von Lebensrecht. Und die Funktion des Geldes ist die Vermittlung dieses Zwecks im Sinne eines Aufschubs seiner Realisierung bis zu dem Zeitpunkt und bis an jenen Ort, wo die Hoffnung des Geldnehmers auf Gewährung von Lebensrecht durch den Nächsten, d. h. durch den nunmehr nahen Dritten erfüllbar wird. Diese Hoffnung, aber auch diese Sicherheit sinnfällig zu machen, sinnlich darzustellen, zum festen Besitz eines Anteils am Sinn des gesellschaftlichen Lebens zu deklarieren, ist die im Geldverkehr symbolisch gewahrte Funktion des Geldes. Insofern ist Geld an sich Kredit. Und Kredit ist sozial garantiertes Vertrauen, institutionalisierte Vertrauenswürdigkeit. Um diese zu verkörpern, ist ein politisch hochentwickelter Stand der Arbeitsorganisation Voraussetzung.

Was gesellschaftlich geschieht, ist auf politischer Ebene eine bewusste Umsetzung und Formverwandlung dessen, was auf leiblicher Ebene immer schon bewusstlos, spontan geschieht. So betrachtet, stellt politische Ökonomie den Versuch dar, leibliche Gebundenheit, wo möglich, durch politisch-moralische Verpflichtung zu ersetzen und dieser den Charakter juristisch sanktionierter vertraglicher Bindung zuzuweisen. Auf dem Weg des Humanismus soll eine unwillkürliche leibliche Haftung durch willensabhängige vertragliche Bürgschaft übertroffen werden. Das ist eine Utopie. Um deren Berechtigung, aber auch deren Grenzen zu verstehen und die gesetzhaften Bedingungen politisch-ökonomischer, juristischer und pädagogischer Rationalität zu erkennen, ist es erforderlich, die grundlegenden Gesetze leiblicher Haftung biografisch zu untersuchen.

Ob nun aber die Erkenntnis biografischer Gesetzmäßigkeiten eine bewusste Wandlung unter bewusster Wahrung des Gesetzes ermöglicht, ist eine praktische Frage. Sofern sich in der therapeutischen Praxis Antworten darauf ergeben, so bestätigt sich auch dort, dass unsere leibliche Haftung keinen regional abgezirkelten Bereich darstellt, den man von außen betrachten könnte, sondern unser Leib ist der Gesichtspunkt aller Gesichtspunkte. Unsere Leiblichkeit wirkt zurück auf alle Phänomene sozialer Entwicklung und reicht bis in alle Sprache und jedes Sprechen hinein.

Die leibliche Grundproblematik ist vergleichbar mit der Frage, wie es möglich sei, trotz Gravitation aufrecht gehen zu lernen. Und dort zeigt sich: Die Wirkung der Gravitation kann den aufrechten Gang nicht verhindern, aber auch nicht erzeugen. Um Gehen zu lernen, muss das Kind zu allererst auf seine Fähigkeiten vertrauen. Und diese Fähigkeit wohnt ihm inne. Sie kann ihm von nirgends her eingepflanzt werden, wenn nicht durch Zeugung und Geburt. Sie stammt von den Eltern. Es ist die Macht der Liebe, die sich in der Hoffnung auf die Güte des eigenen Lebens offenbart und die auf den Zweck der Erfüllung der elterlichen Liebe hin orientiert ist. Im Zusammenleben, in der gegenseitigen Abhängigkeit und Unabhängigkeit der Menschen wirkt unweigerlich ein Vertrauen auf das Gelingen des Lebens. Das wird insbesondere dann deutlich, wenn man sich den Zeitpunkt und den Ort von Erkrankungen unter familiendynamischen und systemischen Gesichtspunkten anschaut. Dann nämlich erscheint eine Erkrankung oder die Krise einer Paar-beziehung wie eine Zwangsvollstreckung, bei der die Einlösung eines fremden Wechsels ansteht.

Die Gesetzmäßigkeit derartiger Komplikationen leiblicher Haftungen vorausgesetzt, lässt sich das Prinzip der leiblich verfaßten Grundordnung folgendermaßen ausdrücken: Der Lebensinhalt eines Kindes liegt in seinem Ursprung begründet, das heißt, in der Liebe der Eltern, der es seiner Entstehung verdankt. Er besteht in der Aufgabe des Kindes, sein Leben in Achtung der elterlichen Liebe zu führen, damit offenbar wird, dass es ein Recht, etwas Gutes sei, dies Leben empfangen zu haben. Aus dem Zweck, für die Liebe der Eltern zu haften, ergeben sich die Lebensthemen eines jeden Menschenkindes als gewissermaßen angeborene Stellvertretungsaufgaben: Ein Kind haftet seinen Eltern gegenüber stellvertretend für die anderen Personen, mit denen die Eltern in ihrem Leben nicht ins Reine gekommen sind. Durch diesen Zweck wird es in seinem Leben spontan geleitet und bewegt. Diesen Zweck in seiner Tiefe zu verstehen, ist aber oftmals so schwer, dass ein Kind daran scheitert. Die Quellen und den Lauf des Gelingens und Scheiterns beispielhaft darzustellen und aufzuzeigen, inwiefern das Prinzip gilt, wonach jedes Kind für die Erfüllung der in ihm wohnenden Liebe mit seinem ganzen Leib, mit Haut und Haaren haftet, ist mit den Mitteln der von mir entwickelten Art von Biografik möglich. Darum habe ich mein Buch „Familien-Biografik“ genannt.

Solange Heilkunde sich nicht vornehmlich auf Biografik sondern auf Energetik zu stützen versucht, ähneln ihre Bemühungen denen eines Vogelpärchens, dem der Kuckuck sein Ei ins Nest gelegt hat: So sehr die beiden sich auch verausgaben, um angesichts der maßlosen Gier des seltsamen Nestbewohners ihren Brutpflichten nachzukommen - es will ihnen einfach nicht gelingen, ihre wahren Jungen aufzuziehen. Diese liegen längst entseelt unter dem Baum und können sich nicht mehr bemerkbar machen.

Dies Bild drängt sich auf, wenn man von außen betrachtet, wie eine mit den technizistischen Scheuklappen der Naturwissenschaften versehene Medizin über sich hinaus wächst in dem Bemühen, Heilwirkungen zu entfalten. Ihm gegenüber verhält sich der Leib eines Menschen wie ein Kuckucksei und entwickelt sich völlig anders, als die ratlosen Eltern es sich wünschen. „Weiß der Kuckuck, was noch alles nötig ist, damit er endlich Frieden gibt und es gut sein lässt!“ So etwa könnte der Ausruf der entnervten, von Erschöpfung bedrohten Mediziner vor dem Moloch der mit jedem neuen Heilmittel weiter ausufernden Krankheitsunbilden lauten.

Aus dem Blickwinkel biografischer Heuristik freilich verwandeln sich die Metaphern der Leiblichkeit und erhalten eine versöhnlichere Bedeutung. Meine Behauptung lautet nämlich: Der menschliche Leib verhält sich nicht wie ein Kuckucksei sondern wie eine Kuckucksuhr. Und auf Krankheit bezogen, lässt sich präzisieren: Das Symptom ist wie der Kuckuck, der zu bestimmten Zeiten aus seinem Verschlag im Innern der Uhr herauskommt und ruft: „Guck, guck!“ Dieser seltsame Vogel, dem der Volksmund einigen Raum für irrsinnige Geschichten zugebilligt hat, ist offenbar gemeint, wenn es heißt, jemand habe einen Vogel. Er fordert auf seine Weise dazu auf, genau hinzuschauen, was die Stunde geschlagen habe. Das wiederum, so werde ich zeigen, ist ohne profunde Kenntnis des Vergangenen nicht möglich.

Es ist aber auch nicht möglich, ohne die grundlegenden Gesetze anzuerkennen, nach denen das Leibgeschehen verläuft. Vor allem nämlich ist das, was da betrachtet werden muss, an sich unsichtbar - nicht etwa nur, weil es schon längst der Vergangenheit angehört, sondern vor allem darum, weil es gefehlt hat, weil es nicht geschehen, nicht Fakt geworden ist. Das eben ist das Irrende und Irreführende an der Aufforderung des Kuckucks: dass es um Schuld geht, um eine Schuld nämlich, die zunächst in gar nichts anderem besteht als darin, dass eine Verantwortung nicht wahrgenommen bzw. einer Verpflichtung nicht entsprochen worden ist. (Allein in diesem weiteren, auch primären Sinne, den ich auf Seite 290 eingehender erläutere, wird der Schuldbegriff im folgenden von mir verwendet, wenn er im Text unkommentiert in Anführungszeichen auftaucht.) Der Kuckuck steht als Fabeltier für ein Schulderbe oder für eine Erbschuld: Er legt seine Eier in fremde Nester. Wenn das Kuckucksjunge ausgeschlüpft ist, wirft es die rechtmäßigen Jungen aus dem Nest und gebärdet sich unersättlich, bis es flügge wird und zur Plage einer nächsten Generation fremder Eltern. So ist das Verhalten des Kuckucks im Volksmund nicht nur zum Synonym für jede Art von Verrücktheit geworden, sondern für das Unheimliche, Verhexte und Vertraxte des Zusammenhangs von Geburt, Tod und „Schuld“. Tatsächlich gibt es einen für alle Familienbiografien verbindlichen Zusammenhang zwischen Unsterblichkeit und Schulderbe einerseits, Schulderbe, Sünde und Krankheit andererseits.

Um den Geschichten vom Kuckuck noch ein Stück zu folgen: Woran wir uns erinnern sollen, wenn wir den Schall der Kuckucksuhr - von Stunde zu Stunde nachdrücklicher, am nachdrücklichsten zur Mittagszeit und um Mitternacht - hören, das ist die vergangene Schuld, die uns ins Nest unseres Lebens gelegt ist, die wir auszubrüten uns anschicken und die immer gefräßiger wird, je mehr wir uns um sie bemühen, ja die uns unserer Nächsten und Liebsten beraubt. Ein solches Verständnis für die Zusammenhänge verlangt auch der „Kuckuck“, den der Gerichtsvollzieher anheftet im Falle von Zahlungs-unfähigkeit und fortbestehender Schulden. Er macht einen potentiellen neuen Eigentümer der betreffenden Gegenstände darauf aufmerksam, dass ihnen eine unabgelöste Verpflichtung anhaftet, die von seinem Besitzer zu zahlen sei.

Eine weitere Beziehung zwischen Kuckuck und Kuckucksuhr wird durch den Kinderspruch deutlich: „Lieber Kuckuck, sag` mir doch: Wieviel` Jahre leb` ich noch?“ Diese Frage richtet sich, halb ernst, an den sich verbergenden Kuckuck, der in der Ferne zu hören ist. Gezählt wird dann die zufällige Häufigkeit seiner Rufe. Dieser spielerisch gehütete Aberglauben rührt an die von Aristoteles hervorgehobene geheimnisvolle Beziehung zwischen Seele und Zahl. In der Beziehung zwischen Tod, „Schuld“, Symptom und Zeitstruktur des Lebens wirkt, wie ich zeigen werde, tatsächlich ein Gesetz von Zahlenverhältnissen, das sich aufklären lässt. Das heimlich-intuitive Verständnis geht mit dem Gefühl des Unheimlichen, Tabuisierten einher. Und das ist es vor allem, was das erwähnte Kinderlied mit seinem „Simsalabim-samba-saladu-saladim!“ andeutet : dass hier vom Magischen, von Hexerei die Rede ist - d. h. von einer als überwältigend erfahrenen, unbegreiflich erscheinenden, unendlichen Verwandlungsmacht des Leiblichen. Das spielt auf eine Macht an, die im Ruf und Leumund des Kuckucks vom Volk intuitiv erfasst, wenngleich nicht klar verstanden, nicht begrifflich, sondern nur bildhaft treffend ausgedrückt wird.

Das früher beliebte Lied „Der Kuckuck und der Esel“ hebt, ganz nach dem Geschmack der Kinder, den Zusammenhang von Hören, Sehen und Erkennen, aber auch warnend den Zusammenhang von Kulturlosigkeit und Streitsucht hervor. Es parodiert die Ähnlichkeit von „Kuckuck“ und „Esel“, wenn diese einen komischen Streit darüber austragen, „wer wohl am besten singe“. Dies Lied führt die Kleinen, die noch ganz in ihrer Leiblichkeit befangen sind, auf mitreißende Weise zum genauen Hinsehen („Guck, guck!“) und zum genauen Hinhören („I-aah“). „Dummheit“ ist ja ursprünglich Taubheit. In die weit weniger faszinierenden Worte von Erwachsenen übersetzt, lautet die Moral des Liedes: Streit entsteht zwischen denen, die nicht bereit sind, jenes Unsichtbare wahrzunehmen, das sich allein in Sprache offen dartun lässt. Missklang entsteht, wenn man die Worte der Wissenden mit den Lauten von Tieren gleichsetzt. Wer das Sprechen auswendig zu lernen versucht, als gälte es, Tierlaute nachzuahmen, dem werden auch die Gesänge eines Orpheus wie bloßer Lärm vorkommen, und der wird, statt sich am Gespräch der Menschen sinnreich zu beteiligen, nur Kumpanen im Chaos finden und gegen deren Getöse allein die größere Lautstärke setzen, um nicht ruhig zuhören zu müssen.

1.2 Das Leibhaftige als Erkenntnisproblem

Das verwirrend Chaotische, aller Logik Spottende des Leiblichen wahrzunehmen, führt zu einer ganz anderen Art von Wissen als die Erforschung der Bewegungsgesetze von Körpern: Die Naturwissenschaften befinden sich auf der Suche nach den Gesetzen einer utopischen Energetik, die es dem Menschen erlauben soll, die dem Kosmos innewohnenden Kräfte zu verwenden, um beliebige Bewegungen der Körper innerhalb des Weltgetriebes zu vollziehen oder zu veranlassen. In den Gesetzen, nach denen die Naturwissenschaften fahnden, bleibt der Unterschied zwischen Gut und Böse von der Art ihrer Begrifflichkeit her undenkbar. Darum sind diese Gesetze zum Verständnis dessen, worum es im Leben geht, in letzter Instanz untauglich. Sie zu erkennen, hilft nicht, Verantwortung wahrzunehmen, sondern erhöht lediglich den Grad an wahrnehmbarer Verantwortlichkeit. Die medizinische Technik zum Beispiel ist eine heilkundliche Anwendung der Naturwissenschaften. Die für die Entwicklung der Heilkunst entscheidende Frage aber, ob automatisch durch machtsteigernde Medizintechnik Glück und Würde der Menschen vermehrt und Gerechtigkeit im Zusammenleben verbessert werden, weckt nicht nur Skepsis sondern ist rundweg zu verneinen. Was für den Bezug zwischen Naturwissenschaften und Medizin gilt, das gilt ebenfalls für den Bezug zwischen Naturwissenschaften und allen anderen Kulturwissenschaften, die man ja zurecht auch als „politische Wissenschaften“ bezeichnen kann: für Philosophie, Jura, Ökonomie, Pädagogik usw..

Es zeigt sich aber insbesondere im Umgang mit Kranken und mit Krankheit, dass in Bezug auf unser Wohlbefinden erforschbare Gesetze wirken, die unser Leben unter nachprüfbare Bedingungen stellen und die von uns die Anerkennung von realer, wenn auch in Maßen veränderlicher Ohnmacht fordern. Es liegt nahe, diese Gesetze unter dem Begriff „Biografik“ zusammenzufassen, weil sie sich aus der Erforschung von Lebensläufen erschließen. Mit meinem Buch unternehme ich den Versuch, den Weg zu beschreiben, auf dem diese - anthropologisch zu nennende - Forschung fruchtbar gewesen ist und weiter furchtbar sein wird, und ich möchte darin die Grundsätze darlegegen, die ich als wegweisend erachte. Für die spezifischen Verhältnisse der menschlichen Lebenswelt, in der die Unverfügbarkeit der Toten und die Hierarchie der Ursprungsordnung unveräußerbar ist, gilt:

Die Gesetze der Biografik sind den Gesetzen der Energetik übergeordnet, nicht etwa umgekehrt, wie insbesondere in der wissenschaftlichen Medizin seit dem 19. Jahrhundert vorauszusetzen üblich geworden ist.

Indem die Heilkunde sich biografisch orientiert, wird sie primär zur einer Kulturwissenschaft und gelangt in eine Position, vor der aus es überhaupt erst möglich wird, die Bedeutung der Naturwissenschaft angemessen zu würdigen.

Die in der kindlichen Liebe begründete leibliche Haftung aller Kinder ist das Mysterium, das sämtlichen Phänomenen des sogenannten „Leibhaftigen“ zugrunde liegt. Und um den Zusammenhang dieser Phänomene aufzuspüren, muss man sozusagen zum Fährtenleser werden und die Spuren des Leibhaftigen erkunden.

Mein Buch ist konzipiert als eine Einladung, sich auf eine ungewohnte Perspektive und Denkweise einzulassen, die in erster Linie aus dem Umgang mit Kranken stammt und jedenfalls auf Erfahrungen im Umgang mit Kranken gegründet wird. Die einzelnen Kapitel entfalten alle für sich ein einziges Grundprinzip und sind insofern einzeln lesbar. Dennoch gibt es eine logische Reihenfolge des Aufbaus. Der Gesamttext gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil, der mit diesem ersten Kapitel bereits begonnen hat und ein weiteres Kapitel umfasst, entspricht einer Einführung in die Thematik der Leiblichkeit und leiblichen Gebundenheit. Im zweiten Kapitel stelle ich anhand einiger Krankengeschichten die überraschenden Phänomene vor, auf die ich als Arzt gestoßen bin und deren Zusammenhänge aus ganz praktisch-therapeutischen Gründen beschrieben und verstanden werden müssen.

Der zweite Teil, der aus vier Kapiteln besteht, ist nach den drei großen Fragen einer heilkundlich orientierten Biografik gegliedert: „Warum ausgerechnet jetzt?“, „Warum ausgerechnet hier?“ und „Warum gerade so?“. Die vier Kapitel, die hier zusammengefügt sind, schreiten vom Abstrakten zum Konkreten fort. In ihnen werden diejenigen unter den LeserInnen, die der praktischen Überprüfbarkeit und dem therapeutischen Wert meiner Beobachtungen und Erfahrungen das größte Interesse entgegen bringen, die Kernaussagen des Buches finden:

Im dritten Kapitel beginne ich mit jenem sozusagen Übersinnlichen, jedenfalls mit dem Abstraktesten, ohne dessen Beachtung meine Untersuchungsergebnisse bodenlos erscheinen müßten. Und zwar behandle ich hier die Fragen, die uns die Zeit - wie es eine Dichterin wunderbar treffend gesagt hat - als „blinde Führerin“ stellt (A. Michaels, 1997, 13): Ich werde nachweisen, dass in den Brüchen des Lebensprozesses Bewährungsproben der Liebe zu erkennen sind, dass in unerfüllter Liebe das stärkste Band zwischen den Generationen besteht, dass ein ausbleibender Vollzug der Liebe den Kern jeder Symptomatik bildet und dass die zeitlichen Rhythmen des Lebens den Schlüssel zum biografischen Verständnis sowie zur biografischen Erforschung symptomatischen Geschehens liefern. Dies Kapitel gipfelt in einer mathematischen Überprüfung der Präzision, mit der Altersrelationen als diachrone Mächte des Augenblicks wirken. Der zeitliche Aspekt hat bei meinem biografischen Ansatz eindeutig Vorrang. Insofern nimmt dies Kapitel eine organisierende Stellung ein. Es greift zur Illustration therapeutische Erfahrungen und Ausschnitte aus Krankengeschichten auf.

Im vierten Kapitel stelle ich in zunächst systematischer Form die Früchte vor, die sich als praktisch-therapeutisch anwendbare Erkenntnisse aus einer konsequent biografischen Methode ergeben. Es geht dabei - parallel zum zeitlichen Leitfaden - um den Bezug auf wichtige Andere, der uns in eine Fremdheit uns selbst gegenüber versetzt. Dies Kapitel gibt Antworten auf die Frage nach den Gesetzmäßigkeiten der Übertragung von Stellvertretungsfunktionen, die zu bestimmten Zeiten in Familien stattfindet: Wo ist der Ort, an dem ein Mangel aus der Vergangenheit einer Familie zur Geltung gelangt, wenn er sowohl intrafamilial als auch transfamilial als übertragene Verantwortlichkeit nachwirkt? Wie findet man diesen Ort, und mit welcher Methode kann man von der Wirkung eines Schulderbes auf den Ort der Schuldentstehung zurück schließen? Thema ist hier eine Rangordnung des leiblichen Bindungsgeschehens, die ich als Stellvertretungsordnung bezeichne.

Das fünfte Kapitel überschreitet den scheinbaren Formalismus des fünften und bietet Ansätze, um sich der besonderen Tragik und Dramatik jener typischen Lebensthemen anzunehmen, die sich als die aus speziellen kindlichen Stellvertretungsfunktionen resultierenden Kernkonflikte der Persönlichkeiten darstellen. Gegenstand sind hier die in ihren Ursprüngen schwierig zu diagnostizierenden und in ihren zähen Symptomatiken schwierig zu behandelnden Komplikationen des leiblichen Stellvertretertums. Diese ergeben sich dadurch, dass die primär spielerische Zuordnung von transgenerational übertragenen Verantwortlichkeiten infolge des Fehlens von primären Stellvertretern allzu früh in einen bitteren Ernst des Lebens umschlägt. Das hat eine Überlastung der ursprünglich liebevollen Beziehung zwischen Eltern und Kindern zur Folge und führt zu nachhaltigen, zuweilen lebensbedrohlichen, häufig lebenslangen, situationsabhängigen Beschwerdebildern.

Das sechste Kapitel vermittelt einen konkreten Einblick in die spontane Ausprägung und Zuordnung von Stellvertretungsfunktionen. Thema ist deren konstitutive Vergeblichkeit samt den daraus resultierenden symptomatischen Komplikationen der Ohnmacht. Hier wird die räumliche Dimension der Lebensordnungen zum Schwerpunkt der Untersuchung, auch wenn der zeitliche Aspekt nicht verloren geht. In diesem Kapitel wird gleichsam sinnlich nachvollziehbar, wie das gesetzmäßige Scheitern von Stellvertretungsfunktionen sich anfühlt und erlebt wird. Das siebte Kapitel zeigt auch auf, wie die primären transgenerationalen Gebundenheiten sekundär in transfamiliale Bindungen umschlagen und wie auch die letzteren nach phänomenologischen Methoden aufgeklärt werden können. Dies Kapitel illustriert die Ursprünge der Vorstellung, dass die Welt der Leiber eine Welt des Theaters und das Leben ein bloße Bühne sei. Aber doch bleibt es das Ziel meiner Untersuchungen, Wege aus einer Welt des verwirrenden Scheins zu finden. Es soll sich darin zeigen, dass es in ernsten Situationen nicht nur nötig sondern auch möglich ist, innerhalb des Reichs der Lebenden von der Bühne abzutreten.

Der dritte Teil soll das geheimnisvoll Andersartige der biografischen Betrachtungsweise im Zusammenhang darstellen und den Unterschied der dabei ins Auge fallenden Gesetzmäßigkeiten im Vergleich zu physikalischen Gesetzen herausarbeiten. Er wird im siebten Kapitel mit einer kursorischen Rückbesinnung eingeleitet, um zu erkunden, welche Bedeutung dem Tod und den Toten in verschiedenen Entwicklungsstufen bisheriger biografischer Forschung eingeräumt worden ist.

Das achte und letzte Kapitel ist eine kritische Bestandsaufnahme jenes biografischen Wissens, das sich unter Beachtung familialer, transgenerationaler Gebundenheiten ergibt. Die Leitfrage lautet: Wodurch erheben sich Krankengeschichten über jede mögliche naturwissenschaftliche Darstellung von Wirkzusammenhängen? Sigmund Freud hat zwar eine heiße Spur des Leibhaftigen verfolgt, als er mythischen Gestalten, wie Narziss und Ödipus, eine zentrale Bedeutung verlieh. Er hat jedoch mit der psychoanalytischen Triebtheorie die leibliche Haftung in einer Weise ausgeschaltet, als wollte er das theologische Dogma endgültiger Getilgtheit der menschlichen Erbschuld allzu umstandslos bestätigen, indem er es durch materialistische Heuristik ersetzte. Demgegenüber entfalte ich einige Schlussfolgerungen, die sich aus dem biografischen Forschungsansatz für das Schuldproblem ergeben. Würde man das letzte Kapitel des Buches schlicht philosophisch nennen, so wäre ich nicht einverstanden, denn ich teile die Kritik Viktor von Weizsäckers an der philosophischen Tradition: Diese wolle allzu oft ewige Weisheit erlangen, ohne sich dem Leiden am konkreten historischen Prozess der Menschheit zu stellen, und das eben sei nicht möglich.

Alle acht Kapitel kreisen um die Frage nach dem Gesetz, das dem Leben der Menschen vorgibt, was in dieser Welt und in diesem Zusammenleben eines Menschen mit dem Anderen als Ordnung (Kosmos) oder was als Unordnung (Chaos) zu verstehen ist. Die Ordnungsprinzipien von Raum und Zeit lassen sich nicht auf anatomische und physiologische, d.h. auf Kategorien materieller, an sich bedeutungsloser Veränderungen reduzieren, ohne dass die Würde des Lebens, die Schönheit der Welt, die Wahrheit der Geschichte und die Güte des Menschen verloren ginge. Das zu erkennen, ist der Kern der notwendigen Kritik an der Vorläufigkeit bisheriger therapeutischer Terminologien, wie sie aus der Psychoanalyse Freuds direkt und indirekt erwachsen ist. Und die Überwindung dieser falschen Denkrichtung ergibt sich erst dann, wenn die leibliche Teilhaftigkeit des Lebens unter den Gesichtspunkten leiblicher Ordnungsprinzipien erkannt wird. Diese Prinzipien erschließen sich in ihrer symbolischen Tiefe, d.h. gewissermaßen „tiefenpsychologisch“, wenn man sie anhand geschichtlicher Bezüge zwischen den großen Verbindungen und den großen Trennungen im Leben eines jeden einzelnen Menschen wahrnimmt.

Die Fragen, die diesem wissenschaftlichen Programm einer ärztlich orientierten Biografik entsprechen, sind von Viktor von Weizsäcker erstmals mit allem Nachdruck gestellt worden. Er fragte angesichts existenzieller Lebensereignisse, vor allem angesichts von Erkrankungen: „Warum gerade jetzt?“, „Warum gerade hier?“ und „Warum gerade so?“ (Ges. Schriften Bd. 7, 366 ff) Es geht dabei um die Klärung zeitlicher, räumlicher und formaler Ordnungen, die dem inneren und äußeren Frieden dienen. Dieser Frieden nämlich zeigt sich bereits in der Gestalt von Erkrankungen gestört. Und es erweist sich als hilfreich, Erkrankungen überhaupt als Erscheinungen unserer Leibhaftigkeit, der Haftung und der Verhaftetheit unserer Leiber aufzufassen. Darin liegt kein Ansatz zum Bruch naturwissenschaftlicher Gesetze, sondern ein Ansatz zur Vertiefung unseres Verständnisses für die Gesetzmäßigkeit des Lebensstroms, in dem wir uns bewegen, in dem wir zwar treiben und getrieben werden, in dem wir aber auch zu schwimmen, ja sogar zuweilen Grund unter die Füße zu bekommen lernen.

Die drei großen Fragen Weizsäckers betreffen sowohl die beiden formalen Kriterien als auch das inhaltliche Kriterium, um die familienbiografischen Zusammenhänge von schicksalhafter Verstrickung und Krankheit aufzuklären:


Die Frage „Warum gerade jetzt?“ ist zu konkretisieren, indem man sie auf die Relationalität der am Krankheitsgeschehen Beteiligten bezieht und deren Altersrelationen errechnet.

Die Frage „Warum gerade hier?“ ist zu konkretisieren, indem man sie auf die als Stellvertretungsfunktion der am Krankheitsgeschehen Beteiligten bezieht und deren virtuelle Positionen innerhalb der Stellvertretungsordnung ihrer Familien bestimmt.

Die Frage „Warum gerade so?“ ist zu konkretisieren, indem man sie auf die Komplementarität bezieht, die den am Krankheitsgeschehen Beteiligten auferlegt ist, und den nachwirkenden Mangel aufspürt, dessen frustranem Ausgleich die Symptomatik gewidmet ist.


Es ist nicht völlig zu vermeiden gewesen, dass manche Gedanken und Betrachtungen aus den ersten Kapiteln erst im letzten Kapitel in ihrem Zusammenhang und Wert verstanden werden können. Wäre ich umgekehrt vorgegangen, dann hätte ich schon von Anbeginn einen Erfahrungsreichtum voraussetzen müssen, wie er aus meiner Darstellung erst von Kapitel zu Kapitel wachsen soll. Wer jedoch weniger Geduld mit Einzelheiten aufbringt und es vorzieht, vorab logisch zu erkunden, ob die von mir entwickelte Begrifflichkeit genügend Tragfähigkeit aufweist, um überhaupt Erfahrenes in sich zu fassen, der soll sich nicht davon abhalten lassen, mit dem letzten Kapitel zu beginnen. Ein solches Vorgehen birgt eigene Vorteile für das Verständnis. Und vielleicht dient es einer kreativen Auseinandersetzung, dass ich das Ergebnis meiner Spurensuche in aller Kürze den folgenden Ausführungen über das „Leib-Haftige“ bereits hier vorausschicke:

Wenn es aus der Perspektive der menschlichen Kreatur so etwas wie das Grundunrecht unseres Lebens, das Kernproblem der Sünde, gar das Grundübel der Schöpfung, die Wurzel alles Bösen geben sollte, so handelt es sich um die Tatsache, dass ein jeder Mensch zunächst zum Ersatz für andere Menschen geboren zu sein scheint und dann doch darunter zu leiden hat, dass er ebendieser Ersatzfunktion nicht gerecht zu werden vermag. Darin liegt zweifellos eine grundlegende Paradoxie, auf die sich die unschuldige „Schuld“ oder die schuldige Unschuld des menschlichen Lebens gründet. Wie wir damit umgehen, ist das existenzielle Problem, das wir nicht mehr abschütteln können, nachdem wir erst einmal ungefragt gezeugt und geboren sind. Statt uns aber wie Kaninchen zu verhalten und darauf zu starren, als seien wir jenseits von Eden auf die Schlange gestoßen, also statt die Infragestellung unseres Seins als ein Übel zu betrachten, ist es auch möglich, dass wir einander beistehen, um sie gemeinsam als die Ironie unseres Schicksals verstehen zu lernen. Das verlangt freilich Einigkeit im Humor, ist also mit harter Arbeit verbunden.

Wie immer aber diese Arbeit jedem einzelnen von uns gelingt - in jedem Fall ist unser Leben einer unvollendbaren musikalischen Improvisation vergleichbar: Ihre Themen ergeben sich aus dem ungelebten Leben unserer Vorfahren; die Rhythmik ergibt sich aus der zeitlichen Relation unseres jeweiligen Lebensalters zur Lebenssituation der Vorfahren , die Instrumentalisierung aus der Zuordnung zu unseren Stellvertretungsaufgaben; die Komposition folgt dem Prinzip der Komplementarität. Und alles zusammen hat, wie es nun einmal der Improvisation beim Musizieren eigen, etwas traumartig Schlafwandlerisches.

Familien-Biografik

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