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2 Kindheit und Kindschaft

2.1 Vier Kinderszenen

Eine Patientin kam mit einem Säugling, der ein halbes Jahr alt war, zur Therapiesitzung. Das Gespräch kam auf den Vater des Kindes. Sobald sie sich über diesen Mann beklagte, fing es an zu schreien. Das wiederholte sich mehrmals. Ich wies die Patientin darauf hin. Anfangs glaubte sie mir nicht, sondern hielt den zeitlichen Zusammenhang für „zufällig“. Schließlich akzeptierte sie die Übereinstimmung unter großer Überraschung und war auch bereit, meine Deutung anzunehmen. Ich sagte ihr, das Kind ergreife in diesem Raum Partei für den Vater und tue, was er hier nicht tun könne, weil er abwesend sei: Es äußere Protest gegen dessen Abwertung.

Eine andere Patientin kam mit ihrem Sohn im Alter von anderthalb Jahren. Auch in ihrer Ehe gab es Spannungen, und sie erwog die Trennung. Als sie darauf zu sprechen kam, erhob sich das Kind, das zunächst friedlich am Boden gespielt hatte, ging zur Tür des Therapieraums und versuchte, sie zu öffnen und das Zimmer zu verlassen. Ich teilte ihr meine Beobachtung mit und erläuterte sie mit der Bemerkung, anscheinend drücke das Kind auf seine Weise aus: „Bevor der Vater gehen muss, gehe lieber ich.“ Die Patientin war zwar erschrocken, wehrte sich aber nicht gegen diese Deutung, die ihr einleuchtete.

Eine weitere Patientin war mit ihrem ersten Sohn, der schon fast drei Jahre zählte, zur Therapie gekommen. Ich kannte ihn gut und hatte in früheren Sitzungen sein Vertrauen gewonnen. Da ich während der Arbeit, die den Problemen der Mutter galt, zuweilen mit ihm Ball gespielt hatte, kam er sonst gern mit und zeigte sich immer sehr geduldig, wenn sie ihn nicht anderweitig unterbringen konnte. Diesmal war die Situation zum ersten Mal anders. Er quengelte von Anfang an und ließ seiner Mutter keine Ruhe, sondern wiederholte immer von neuem den Wunsch, zum Auto zu gehen und nach Hause zu fahren. Erst nach gut einer halben Stunde änderte sich sein Verhalten von einem Augenblick zum anderen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Patientin entschlossen, ein Problem anzusprechen, das ihr schon lange quälend auf der Seele lag und das sie bislang ausgespart hatte. Kaum war das Problem ausgesprochen, wurde das Kind so friedlich wie gewohnt. Meine Deutung, dass er die Angst der Patientin vor der Eröffnung ausgedrückt habe, fand die Patientin plausibel.

Die nächste Szene will ich ausführlicher schildern: Ein Paar kam wegen erheblicher psychischer Probleme des Mannes zur zweiten Sitzung. Der Anlass einer kürzlichen Eskalation des Konflikts ihrer Partnerschaft war zuvor noch nicht angesprochen worden. Das Paar hatte die beiden Kinder im Alter von sechs und acht Jahren mitgebracht. Als die Sitzung beginnen sollte, erklärten die Eltern den Kindern, dass sie weiter im Wartezimmer spielen sollten, aber doch jederzeit nachkommen könnten. Im Sitzungsraum äußerte ich die Vermutung, dass sie die Kinder beruhigen wollten für den Fall, dass diese angesichts der neuen Umgebung im Wartezimmer Angst bekämen, was sie bestätigten. Daraufhin eröffnete ich ihnen, dass nach all meiner Erfahrung nicht die Angst der Kinder der Grund sein werde, wenn sie kämen, sondern die Angst der Eltern: Die Kinder kommen immer, sobald es Anlass gibt, die Eltern zu schützen. Das Paar nahm meine Bemerkung als Scherz auf, und beide reklamierten einhellig, dass das Wartezimmer ja außer Hörweite liege. Im weiteren Verlauf geschah aber etwas, was sie eines Besseren belehrte:

Ungefähr zwanzig Minuten nach Beginn der Sitzung gab sich der Ehemann plötzlich einen sichtlichen Ruck und kündigte an, er werde jetzt endlich sein Schweigen brechen und über die jüngsten Ereignisse in seiner Ehe reden. Bevor er jedoch beginnen konnte, kamen die Kinder in den Therapieraum und wandten sich ihrer Mutter zu. Ich schaute den Mann an, und er schaute verblüfft zurück. Nachdem die Kinder das Zimmer verlassen hatten, berichtete er, dass seine Frau ihn mit einem gemeinsamen Freund betrogen habe. Die Tochter hatte unmittelbar zuvor eine in Symbole gekleidete Anspielung darauf gemacht. Im weiteren Gespräch wurde immer deutlicher, dass der Mann Augen und Ohren verschlossen hatte gegen die Vorboten des Ehebruchs, ja dass er selbst ein Arrangement getroffen hatte, das wie eine geheime Erlaubnis erschien. Er wehrte sich heftig gegen dies Eingeständnis und war einem empörten Ausbruch nahe, der zum Abbruch der Sitzung hätte führen können, als die Kinder erneut erschienen und sich jetzt ihm zuwandten. Diesmal waren beide Eheleute darin einig, dass es sich weder um blinden Zufall noch um eine im Wartezimmer selbst ausgelöste Angst der Kinder handeln konnte. Tatsächlich waren sie ja beide Male gekommen, als es Anlass zur Sorge um die Eltern gegeben hatte. Danach erschienen die Kinder übrigens nicht mehr, sondern zeigten sich sehr ruhig und waren gewissenhaft darum bemüht, das Wartezimmer in einwandfreiem Zustand zu hinterlassen. So etwas geschieht erfahrungsgemäß nur dann, wenn Kinder mit dem Verlauf einer Sitzung zufrieden sind. Es ist ihre Art, einem Therapeuten ein Kompliment zu machen.

Auch diese Schilderung gibt nur eine von ungezählten anderen Erfahrungen wieder, die jeder Therapeut machen kann, wenn er Eltern und Kinder gemeinsam sieht, und die allesamt den Gedanken nahelegen, dass Kinder sich ganz ähnlich verhalten wie Haustiere: Sie bemühen sich nach Kräften, ihren Eltern zu helfen und etwas Bedeutsames für diese zu tun. Es scheint, als wollten sie im Dienst der Eltern nichts anderes als gut sein und als nähmen sie dabei keine Rücksicht auf ihr eigenes Wohl. Wenn zum Beispiel ein Vater sich mit starken Schuldgefühlen trägt, weil er seinen eigenen Vater verletzt und im Stich gelassen hat, dann erweist sich sein halbwüchsiger erster Sohn als ein Ausbund an Frechheit und als schamloser Provokateur. Schaut man sich die Situation des Mannes an, der als letzter von sechs Söhnen den eigenen Vater verlassen hat, um ins Ausland zu gehen, dann scheint sogar hier eine verborgene „Güte“ im Verhalten des Sohnes auf: Was dieser tut, geschieht vielleicht, um seinem Vater zu geben, was dieser im tiefsten Innern von seinem Vater erwartet, aber nicht bekommen kann. Das wäre ein fünftes Beispiel, das ich aber nicht erlebt, sondern nur einem betroffenen Klienten gegenüber gedeutet habe - mit dem Erfolg, dass dieser Mann eine von seinem Sohn erzeugte unerträgliche häusliche Situation rasch zur Zufriedenheit aller Beteiligten ändern konnte, ohne dafür mehr und anderes zu tun, als liebevoll an seinen eigenen Vater zu denken.

Insbesondere das letzte Beispiel legt einen weiteren Gedanken nahe, der aber für die anderen ebenfalls zutreffend ist: dass Kinder im Dienst ihrer Eltern spontan die Stellvertretung Dritter übernehmen und dass sie Prioritäten setzen, die mit Eigennutz nichts zu tun haben. Der Junge, dessen Frechheit ich seinem Vater als paradoxen Ausdruck von Fürsorge gedeutet hatte und von dem sein Vater in der darauf folgenden Sitzung berichtete, dass er ohne jeden erkennbaren Übergang „wie ausgetauscht“ und ein Muster an Bravheit geworden sei, dieser Junge hatte ja sein gutes Verhältnis zum Vater geopfert, um sich an dessen Schuldgefühlen zu orientieren: Der Enkel hatte mit seiner zur Schau gestellten Bosheit und Unverschämtheit das verborgene Gefühl des Vaters, nicht in Ordnung zu sein und vor dem Großvater nicht bestehen zu können, in einer Weise auf sich genommen - nicht nur, als wäre er anstelle des Großvaters für dies Gefühl verantwortlich, sondern vor allem auch, als wäre er anstelle des Vaters daran schuld.

Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, wird die obige Szenerie zum Ausgangspunkt eines dritten Gedankens, der ein wenig tiefer einsteigt und eine gründlichere Prüfung fordert: dass sich im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern das Problem der Verantwortlichkeit auf eine Weise konzentriert, die man vielleicht als Umkehrung, Verwechslung und Infragestellung der Vergangenheit durch die Gegenwart und als paradoxe Hierarchie zu begreifen lernen kann. Daraus würde auch verständlich, was in den Szenen zuvor unmittelbar als kindliche Fürsorge ins Auge gefallen ist.

Im folgenden werde ich zunächst einige Beispiele aus meiner therapeutischen Praxis anführen, anhand derer noch deutlicher wird, was ich meine, und die gewissermaßen darauf drängen, zu prüfen, ob es sich um eine verlässliche Regel handelt oder nicht doch nur um höchst unwahrscheinlich anmutende Seltsamkeiten. Ich beginne mit der biografischen Analyse der Trennungsproblematik eines Paares sowie mit der biografischen Analyse einer Depression, setze aber danach diese Art der Untersuchung mit anderen Beispielen fort.

2.2 Eine Entdeckung und zwei biografische Skizzen

Trennungsproblematik eines Paares

Das erste Beispiel skizziert, wie ich selbst auf diese Zusammenhänge aufmerksam geworden bin: Anfang 1993 kam ein Paar in meine Praxis, weil die Frau das Gefühl hatte, sich vom Ehemann trennen zu müssen, aber nicht sicher genug war, um den Entschluss dazu zu fassen. Sie hatte Skrupel. Bei der Betrachtung des Genogramms (Bowen, 1976), d.h. des therapeutisch aufbereiteten Familienstammbaums beider Partner (s. Abb. 2.1) stieß ich auf die merkwürdige Tatsache, dass sich die Großmutter (mütterlicherseits) meiner Patientin zu dem Zeitpunkt, als der Großvater starb, in demselben Alter befunden hatte wie die Frau jetzt. Nicht genug damit: Auch die Großmutter (mütterlicherseits) ihres Mannes hatte sich in dem jetzigen Alter seiner Frau befunden, als der zugehörige Großvater verschied. In Erinnerung an die Theorie des Fließgleichgewichts, der Homöostase, der transgenerationalen Schuldübertragung und des systemischen Ausgleichs fiel mir ein, dass es sich hier - rein hypothetisch und völlig spekulativ gedacht - um eine Ausgleichsbewegung handeln könne, welche das Paar zu vollziehen sich gedrängt fühlte, ohne eigentlich recht zu wissen, wie ihm geschah. Wenn dies der Fall war, dann hatte ich es mit einer systemisch zu deutenden Dynamik zu tun, die dem entsprach, was nach dem Urteil tiefenpsychologisch ausgerichteter Therapeuten als „das Unbewusste“ zu bezeichnen ist. Das wird unterstrichen durch die Tatsache, dass die Daten der Stammbäume den beiden gar nicht bekannt gewesen war, als sie sie für die therapeutische Arbeit zusammentrugen. Sie hatten sich diese Daten extra anlässlich der Stammbaumerhebung besorgt.

Ich wagte kaum, das Paar darauf aufmerksam zu machen, weil ich nicht wusste, womit ich ihm gegenüber meine Vermutung begründen sollte. Die Deutung lautete, wenn man sie auf den Boden einer spekulativen Idee stellte, folgendermaßen:

Die Enkelin vollzieht, indem sie sich vom Ehemann trennt, im Dienst ihrer Mutter eine rächende Ausgleichsbewegung für das, was die Großmutter aus Sicht der Mutter durch den Tod des Großvaters hatte erleiden müssen. Und der Enkel erleidet, indem er von der Ehefrau verlassen wird, im Dienst seiner Mutter eine büßende Ausgleichsbewegung für das, was sein Großvater der Großmutter angetan hat, als er verstarb. Der Enkel ist in dieser - nach dem Talionsgesetz, d.h. nach dem Prinzip der Rache und der Buße verlaufenden - Umkehr von Geben und Nehmen Stellvertreter beider Großväter mütterlicherseits, wie die Enkelin Stellvertreterin beider Großmütter mütterlicherseits ist.

Schlagartig wird klar, dass es sich hier um keine Kleinigkeit handelt, sondern um zweierlei: erstens um eine Beobachtung von möglicherweise grundsätzlicher und weitreichender Bedeutung, zweitens um ein Problem. Zuerst stellt sich die Frage, ob sich entsprechende Beobachtungen wiederholen lassen und, wenn ja, ob es sich dann um mehr oder weniger seltene Einzelfälle handelt, um besondere Ausnahmefälle also, die darum keiner besonderen Erklärung bedürfen, weil es dafür schon bekannte Erklärungen gibt.

Seit Anfang 1993 achtete ich systematisch auf die Biografien meiner anderen Patienten, auch auf meine eigene und die der mir nahestehenden Menschen, und ich stieß dabei immer wieder auf genau dieselben Phänomene berechenbarer zeitlicher Bezüge, die auf den ersten Blick völlig unerklärlich waren. Und da ich schließlich bei dieser Sichtweise überhaupt keine Ausnahme von der genannten Regelhaftigkeit biografischer Zusammenhänge mehr fand, hieß das: Ich hatte mit einem Problem zu tun, das mich in der Tat in ganz erhebliche, geradezu existenzielle Erklärungsnot brachte. Denn einerseits handelte es sich bei diesen Phänomenen um gesetzmäßige Wirkungen, aber andererseits konnte es sich nicht um die Wirkung bekannter Kräfte handeln. Das war für mich höchst beunruhigend, zumal es nicht um irgendwelche Äußerlichkeiten ging, sondern um das, was uns Menschen im Innersten bewegt.

Was mich allerdings beruhigte, war die Beobachtung der günstigen Wirkung, die mein spontaner Erklärungsversuch auf das Paar gehabt hatte. Es war die in ursprünglicher Frische auftauchende, belebende Erfahrung, dass in einer guten Erklärung ein therapeutisches Prinzip wirksam werden kann. Aber war meine Erklärung denn wirklich gut? Oder erschien sie lediglich einem gutgläubigen Paar gut? - Immerhin hatte ich nicht behauptet, dass es keine andere Erklärung als die meinige geben könne, sondern hatte die meinige lediglich als eine vorläufig denkbare, dabei mit aller Vorsicht zu betrachtende Erklärung angeboten.

Konkret: Ich hatte damals im Gespräch mit dem Paar gesagt, dass man bei der Betrachtung ihrer Familienbiografie den Eindruck gewinnen könne, als seien Mann und Frau nicht von dem bewegt, was sie selbst als gut anerkennen, sondern von Impulsen getrieben, die sich auf ihnen fremde, längst vergangene Mangelzustände beziehen. Die Dinge so zu sehen, erwecke den Eindruck, als seien sie in dem blinden Bestreben, eine Umkehrung des Vergangenen und einen Ausgleich für Unausgeglichenes zu erwirken, nicht ganz bei sich selbst, sondern sozusagen in die Vergangenheit entrückt und außer sich. Aus diesem Grunde zöge ich es vor, die beiden einmal ganz direkt zu fragen, was sie denn tun würden, wenn ein jeder von ihnen sich erlaubte, wirklich bei sich zu sein und nach eigenem Urteil zu handeln bzw. nicht zu handeln

Diese Frage wurde von ihnen nicht im Gespräch beantwortet sondern praktisch gelöst: Sie blieben zusammen. Der Mann klärte einige berufliche Probleme, die er vor sich her geschoben und seiner Frau angelastet hatte. Und die Frau klärte einige Probleme im Umgang mit den Kindern, die sie zuvor ihrem Mann angelastet hatte. Ich bekannte dem Paar gegenüber selbstverständlich, dass ich ganz unsicher sei, ob sich das Leben wirklich so abspiele, wie es mir in diesem Zusammenhang erscheine. Beide griffen meinen Erklärungsversuch aber wider Erwarten zustimmend auf und fanden im Zuge der weiteren Arbeit eine Lösung für ihr Paarproblem, nachdem sie davon entlastet worden waren, einander wechselseitig für jene Gefühle verantwortlich zu machen, die ihnen aus der Vergangenheit ihrer Familien nachhingen.

Ich selbst aber folgerte in den Wochen danach aus den Erfahrungen, die ich in anderen therapeutischen Sitzungen machte: Wenn man beobachtet, dass sich Lebensereignisse immer in dieser oder ähnlicher Weise abspielen, als seien sie - in offenkundigem Gegensatz zu den Lebensinteressen der Beteiligten und blindlings - auf einen virtuellen Ausgleich des längst Vergangenem bezogen, dann muss man die Art und Weise, wie dieser Bezug in Erscheinung tritt, möglichst präzise beschreiben. Nur dann nämlich hat man die Chance, zu einer Erklärung zu gelangen, durch die unser Anspruch auf Vernünftigkeit des menschlichen Gesprächs nicht beleidigt sondern gewürdigt wird.

Ich erinnerte mich in diesem Zusammenhang daran, dass ja kein Mensch weiß, was es mit der Schwerkraft, der wir alle unterliegen, auf sich hat, wie nämlich die Schwerkraft es eigentlich macht, dass wir fallen. Ebenso wenig weiß irgend jemand, wie es eigentlich kommt, dass sich Energie von einer Form in die andere verwandelt. Schließlich weiß auch niemand, warum Masse und Energie ineinander umwandelbar sind. Was wir wissen, hat sich einzig aus genauen Beschreibungen dessen, was wirklich geschieht, ergeben. Und alle Gesetze, die wir aus den Naturwissenschaften kennen, sind lediglich begriffliche Zusammenfassungen unserer Erfahrungen. Das Wunder, dass solche begrifflichen Zusammenfassungen möglich und hilfreich sind, ist selbst nur hinzunehmen, nicht aber in seiner Tiefe zu ergreifen. Vielmehr sind wir in unserem gesellschaftlichen Leben von der Möglichkeit dieses Wunders abhängig und werden von dem Wunder dieser Möglichkeit selbst ergriffen.

Man darf also zurecht sagen, dass wo immer von wirksamen „Kräften“ die Rede ist, im Grunde nur das Gesetz gemeint ist, dessen unumschränkte Geltung wir durch gezieltes Anstellen und Analysieren unserer Beobachtungen zum Bewusstsein gebracht haben. Darum sollte mich auch nichts daran hindern, denselben Weg im Zusammenhang mit biografischen Phänomenen zu beschreiten. Was mich ebenfalls unterstützte, war die Gewissheit, dass keines der durch Beschreibung des wirklichen Geschehens erforschten Naturgesetze am Fortbestand unserer Verantwortung als Menschen etwas geändert hat. Die Entdeckung der Fallgesetze beispielsweise hat bislang noch niemanden gezwungen, fortan beständig auf die Nase zu fallen, sondern nur die Freiheitsgrade unserer Fortbewegungsarten beflügelt. Ganz ähnlich war es ja bei dem Paar gewesen, dem ich meine Deutung ihres Verhaltens angeboten hatte: Es hatte sich fortan die Freiheit genommen, auf einen ohnehin verspäteten, nur neues Scheitern hervorrufenden Ausgleichsversuch zu verzichten und sich stattdessen auf das ihnen Mögliche, vor allem auf das für sie selbst, füreinander und ihre Kinder Gute zu beschränken.

Meine Erfahrungen mit jenem Paar ermutigten mich zur ausdrücklichen Formulierung der Gesetzesannahme, die in jener vorläufigen, hypothetischen Beschreibung des Bindungsgeschehens zum Ausdruck gekommen war. In wenige Worte gefasst, lautet das Gesetz, das ich damals implizit meiner Deutung zugrunde gelegt habe:

Das Paar ist gleichsam mit seiner Bindung unter dem Eindruck des Verlustes der beiden Mütter in die Pflicht genommen, eine Ausgleichsbewegung zu vollziehen, welche dem Unglück in der Beziehung zwischen den beiden Großelternpaaren durch ein umgekehrtes Unglück auf fatale Weise die Waage hält. Der Zwang zum Ausgleich hat seinen tieferen Grund in einem vergangenen Mangel. Die resultierende Ausgleichsbewegung erfolgt blindlings. Und sie wird getragen von bewussten Begründungen, gerechtfertigt von vorgeblichen Motiven, mit Anlässen verknüpft, welche selbst die Gesetzmäßigkeit des Vollzugs jedoch nicht wirklich erklären können sondern nur zu verschleiern vermögen.

Hypothetisch handelte es sich demnach also um ein biografisches Gesetz, das eine dem spontanen Bewusstsein übergeordnete Stellvertretungsfunktion der Nachfahren für ihre Vorfahren regelt und das - wie bei einer Waage - ein Gewicht auf der Seite des Vergangenen durch ein Gegengewicht auf der Seite des Gegenwärtigen schicksalhaft auswiegt. Aus diesem Gesetz der aufwiegenden bzw. aufwiegelnden Stellvertretung folgt ein zeitlich exakt determinierter Druck bzw. Sog, wodurch ein Kind in eine merkwürdige Position verrückt wird: Die damit ausgelöste Bewegung entspricht der Bedeutung, welche dem Kind von seinen Eltern zugewiesen wird. Die Zuweisung erfolgt offenbar unwillentlich, allein durch ein (wiederum nur blindes, aber doch exakt erspürtes) Mangel- bzw. Unrechtsgefühl der Eltern.

Genau genommen, darf man hier gar nicht von einem Gefühl sprechen, sondern nur von einer Gesetzmäßigkeit, die sich unter anderem auch im Wandel der Gefühle, im Auftauchen und Untertauchen von Gefühlen der systemisch Beteiligten offenbart und verbirgt. Die Bedürftigkeit der Eltern nach Ausgleich - in dem Beispiel: die Unrechtserfahrung der Mütter in Bezug auf die Ehe der Großeltern - wirkt als Programm des Lebenslaufs der Kinder, von einigen Autoren als „Skript“ bezeichnet. Die Bezeichnung „Skript“ ist zwar nicht anschaulicher als die üblichere Bezeichnung „Rolle“, aber nicht weniger treffend. Im Grunde besagt sie dasselbe. Denn in der Schriftrolle, die ein Schauspieler in früheren Zeiten vom Autor bzw. Regisseur erhielt, ist seine Funktion im zu spielenden Stück, sind Worte, Taten und Leiden vorschrieben. Bevor aber das Stück aufgeführt ist, bleiben die Charakteristika der vom Schauspieler zu verkörpernden Person verborgen - wie die Schrift in dem zusammengerollten Pergament.


Abb. 2.1: Genogramm des Paares mit Trennungsproblematik


Legende: Quadrate = männl. Personen; Kreise = weibl. Personen; durchgezogene Linie = Ehe; * = Geburtsjahr; + = Todesjahr; Pfeile = Sogrichtung der Stellvertretungsaufgaben


Die erste Graphik (Abb. 1.1) soll die Sogrichtung der Bedürftigkeit der jeweiligen Mütter nach ausgleichender Stellvertretung oder nach stellvertretendem Ausgleich durch die beiden Kinder als Pfeile darstellen. Der Sog, das soll die Graphik hauptsächlich verdeutlichen, wird auf die Ehepartner durch eine Bedürftigkeit ausgeübt, die hier jeweils von einem Vakuum im Leben der betreffenden Mütter ausgeht: vom „ungelebten Leben“ der Großeltern. Mit dieser Formulierung knüpfe ich bewusst an dem Weizsäckerschen Satz an, wonach das „ungelebte Leben das Wirksame“ sei. (Weizsäcker 1967, 249 ff)

Eine so genannte endogene Depression

Einmal gefasst, ließ mich die Idee einer an der Bedürftigkeit der Eltern orientierten Ausgleichsbewegung im Lebensschicksal der Kinder nicht mehr los. Kurz darauf kam ein Patient zu mir wegen einer seit zwei Jahren anhaltenden und in jüngster Zeit stark zunehmenden depressiven Symptomatik: Schlafstörungen, Fühllosigkeit, Initiativelosigkeit, Verstummen, Gefühl der Verlorenheit, Grübeln, Freudlosigkeit, Angst. Seit Jahren leide er unter arteriellem Hochdruck bei Fettleibigkeit. Beruflich fühle er sich seit etwa 5 Jahren überfordert durch eigentlich unerfüllbare Aufgaben im Außendienst einer Versicherung und durch Schikanen seines Vorgesetzten. Vor einigen Monaten sei der ältere Bruder seiner Mutter gestorben.

Der Mann, dessen Stammbaum ausschnittsweise in Abb. 2.2 wiedergegeben wird, war zu jenem Zeitpunkt 47 Jahre alt, verheiratet, hatte eine 18-jährige Tochter und eine 25-jährige Stieftochter aus der ersten Ehe seiner Frau. Er war das einzige Kind seiner Eltern, die 1944 heirateten. Sein Vater (Jahrgang 1900) war 20 Jahre älter gewesen als die Mutter und kurz vor Geburt des Sohnes (1945) aus der Wohnung in Oberschlesien zur Zwangsarbeit nach Russland verschleppt worden. Wie ein heimkehrender Mitgefangener später berichtete, sei er dort 1947 an Typhus verstorben.

Von seiner Mutter hat der Mann erfahren, dass sie selbst bei der Flucht nach dem Westen so entkräftet gewesen sei, dass sie ihren neugeborenen Jungen nicht mehr tragen konnte und auf den Eisenbahnschienen habe liegen lassen. Eine andere Frau habe ihn aufgenommen und dafür gesorgt, dass die Mutter ihn letztlich doch behielt. Die entscheidende, auf der Theorie der Stellvertretung beruhende Deutung der Symptome dieses Falles ist die folgende:

Der Patient verkörpert in seiner Beziehung zur Mutter von Geburt an seinen Vater, deren Ehemann. Diese Stellvertreterfunktion wird durch die kleine Szene, die er - wie beiläufig - in der ersten Therapiesitzung erzählt, bereits deutlich:


Abb. 2.2: Genogramm des Pat. mit „endogener Depression“ (1992)


Nachdem sie den Ehemann verloren hat , weil er von den russischen Soldaten verschleppt wurde, gibt sie im Gegenzug auf der Flucht ihren Jungen verloren. Dieser wird durch eine andere Frau gerettet, was die Mutter als gnädigen Wink des Schicksals auffasst und als Zeichen, dass sie doch nicht auf alles verzichten muss, was sie mit ihrem Mann verbindet. Sie lebt anschließend mit ihren Eltern zusammen und heiratet nicht mehr. Der Patient. lebt während der ersten 47 Jahre seines Lebens das ungelebte Leben seines Vaters. Er tut dies für seine Mutter und anstelle seines Vaters, also in gewissem Sinne auch für den Vater. In einem Alter, in dem der Vater verschleppt wurde, beginnt plötzlich seine Depression, für die er keine Erklärung findet und für die es auch keine Erklärung aus den Lebensumständen des Patienten gibt. Was er selbst als Grund betrachtet, zeigt sich bei näherem Hinsehen als unspezifisch, denn seine berufliche Unzufriedenheit ist wesentlich älter als die Symptomatik. Ein Psychiater alter Schule wäre also schon zu diesem frühen Zeitpunkt gezwungen gewesen, eine sog. „endogene“ Depression zu diagnostizieren und eine „Therapie“ mit Antidepressiva zu beginnen. Das befürchtete dieser Mann jedenfalls und überspielte seine Beschwerden mit großer Energie und Beharrlichkeit.

Zwei Jahre später jedoch, in einem Alter, in welchem der Vater starb, nimmt seine Depression einen Schweregrad an, den der Pat. mit den Worten kennzeichnet, er fühle sich „wie tot“, und vor dem er seine Waffen strecken muss. Die äußeren Lebensumstände sind auch noch nicht geeignet, diese Depression zu erklären; keineswegs erklären sie nämlich deren Verschlimmerung zu ebendiesem Zeitpunkt.

Was ich seinerzeit infolge mangelnder Übung in der Krankengeschichte noch gar nicht gesehen, bei der nachträglichen Betrachtung aber sogleich entdeckt habe, ist der folgende Zusammenhang: Fünf Jahre zuvor, als die übermäßige Belastung des Pat. begann und als er erstmals Anlass zu Klagen hatte, war seine Stieftochter so alt wie sein Vater bei der Geburt seiner Mutter. Und bei Ausbruch der schweren Depression war die Stieftochter so alt wie seine Mutter bei seiner eigenen Geburt bzw. bei der Verschleppung des Vaters. Hier liegen tiefere Verstrickungen, die auf eine besondere Dynamik des im Patienten wirksamen Verhältnisses zwischen den Eltern verweisen. Solchen würde ich - im Unterschied zu damals - inzwischen nachspüren. Auf den ersten Blick aber ist erkennbar, dass der Bruder der Mutter gestorben ist, als der Sohn mit 47 Jahren genau so alt ist wie der Vater (also der Ehemann der Mutter) bei dessen Tod. Die Depression ist aus dieser Sicht auch als seine „Unfähigkeit“ zur Unterscheidung zwischen dem Vater und dem Onkel zu deuten. Immerhin diente der Onkel seiner Mutter als ein anderer, nämlich erwachsener Stellvertreter des Vaters.

Der Patient betonte ausdrücklich, dass er seine Frau und seine Tochter liebe, und dass er auch seine Stieftochter sehr gern möge. Und es fiel ihm selbst auf, dass die beruflichen Schwierigkeiten schon ein Stück älter waren als seine Beschwerden. Diese ließen jedoch schlagartig binnen Tagen nach, als er sich von dem Schock der Konfrontation mit meiner Deutung, d.h. mit der bewussten Erinnerung an den Tod seines Vaters sowie an den Schmerz und Verlust, der das Schicksal seiner Mutter bestimmt hat, erholte. Es war freilich noch einige therapeutische Arbeit erforderlich, um ihm zu einem stabilen inneren Gleichgewicht zu verhelfen.

2.3 „Semantische Felder“ als „Kraftfelder“ leiblicher Bindung

Wenn wir tatsächlich annehmen dürfen, es handelte sich sowohl bei den anfangs geschilderten Kinderszenen als auch bei den zuletzt wiedergegebenen zwei Krankengeschichten um Beispiele für die Wirkung einer Gesetzmäßigkeit, dann ließe sich das zugehörige Gesetz in weiterer Annäherung versuchsweise folgendermaßen formulieren:

Sobald ein Kind ins Leben gerufen wird, bewegt es sich in der Welt zunächst als ein abgespaltenes Organ seiner Eltern. Die Dienstbarkeit des Kindes beginnt mit der Zeugung und wirkt unmittelbar gegenwärtig: Sie ist mit der Bedürftigkeit seiner Eltern synchronisiert.

Die dem Leibe eines jeden Kindes inhärente Wirkung seiner Dienstbarkeit wird zwar jederzeit erkennbar, d.h. in aller zeitlichen Gegenwart ablesbar. Dennoch ist sie - was vielleicht paradox erscheinen mag - relativ unabhängig von der räumlichen Gegenwärtigkeit der Eltern. Wo der Dienst vom Kind nicht erfüllt wird, da bleibt er nur darum unerfüllt, weil er - aus welchen Gründen auch immer - gegenwärtig unerfüllbar ist.

Jedenfalls bliebe es angesichts der wirklichen Hierarchie zwischen Eltern und Kindern unbefriedigend, sich mit der Bemerkung zu begnügen, dass im Ablauf der Beziehungen zwischen Eltern und Kind eine gegenseitige Abhängigkeit bestehe. Immerhin stammt das Kind von den Eltern, ist deren Spross. Insofern sind die Eltern primär gegenüber dem Kind. Und da das Kind auf die Eltern folgt, ergibt sich logisch: Dass das Kind der Eltern bedarf, folgt auf die Bedürftigkeit der Eltern, die sich in ihrer Liebe zueinander nach dem Kind gesehnt haben. Dazu eine kurze Bemerkung: Wenn Eltern auf die Symptomatik ihrer Kinder verzweifelt reagieren, zeigt sich am Ende, dass sie lediglich die wirkliche Hierarchie der offenbar werdenden Problematik nicht verstehen, sondern die Rangordnung der Verantwortlichkeiten verkehren. Diese Beobachtung zunächst einmal als Basis für eine weitere Hypothesenbildungen festzuhalten, bedeutet zweifellos eine radikale Abkehr vom heute vielfach üblich gewordenen Denken. Dessen bin ich mir durchaus bewusst. Aus meiner Sicht schlage ich dennoch vor, die alternative Ausgangsbasis, die insbesondere durch die Demonstrationen Bert Hellingers (1993, 1994) bereits Aufmerksamkeit erregt hat, praktisch zu prüfen. Sie ist meines Erachtens einfach besser geeignet, die - häufig komplizierten oder sogar zunächst unverständlich erscheinenden - Beziehungen zwischen Eltern und Kindern zu begreifen.

Allgemein lässt sich also, wenn man diese Wendung im Denkens über Verantwortlichkeiten einmal probeweise vollzieht, formulieren:

Die Versagenszustände und Ohnmachtgefühle eines Menschen werden vielleicht nur verständlich, wenn man sie als Ausdruck der Unerfüllbarkeit von Aufgaben im Dienst an (aus Liebe zu) den Eltern auffasst. Genau das ist mit der Feststellung gemeint, dass die Versagenszustände eines Menschen vor allem Ausdruck einer fortbestehenden Priorität von ebenso unbewussten wie unerfüllbaren Diensten gegenüber den jeweiligen Eltern seien. Im Vergleich zu den bewussten und erfüllbaren Aufgaben dieses Menschen genießen die ersteren einen auf den ersten Blick unbegreiflichen, aber in jeder Symptomatik möglicherweise sichtbar werdenden Vorrang.

Es ist klar, dass die Hierarchie der Verantwortlichkeiten, die sich auf Seiten der Eltern damit radikalisiert, zunächst nicht jedermann unbedingt einleuchtend, manchem sogar unsinnig erscheint. Die Schlussfolgerungen, die sich daraus ergeben, wären auch nicht treffsicher, solange man sich bei der Betrachtung symptomatisch gewordener Beziehungen allein im Gegenwärtigen aufhält. Hier liegt dann auch das ganze Problem des Umdenkens begründet: Dass man jenes „Unsichtbare“ aus dem Sinn verliert, das, wie der „Kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry betont, das Wesentliche ist. Wenn ich die obige allgemeine Hypothese durch eine weitere ergänze, so avanciert diese weitere damit freilich zum Herzstück dieser ganzen Auffassung:

Was für ein Kind gegenüber seinen Eltern einmal unerfüllbar gewesen ist, das prägt sich ihm als verbleibende Schuldigkeit ein. Eine nicht erfüllte Verpflichtung, die sich aus der Bedürftigkeit seiner Eltern ergibt, wird von dem Kind nicht nur unter den jeweiligen Umständen, die eine Erfüllung aktuell unmöglich machen, als seine eigene „Schuld“ genommen, und sie wird nicht nur synchron an einem fremden Ort, dem die Eltern fernbleiben, mit den Gefühlen der Machtlosigkeit empfunden, sondern darüber hinaus zu einem späteren Zeitpunkt mit Ohnmachtgefühlen bezeugt, wenn das Bedürfnis der Eltern gar nicht aktuell fortbesteht und diese sich längst anderweitig haben behelfen müssen, ohne auf Abhilfe durch das Kind rechnen zu können. Das ist besonders tiefgreifend, nämlich und endgültig der Fall, sobald die Eltern nicht mehr leben.

In dieser Form werden meine Behauptung über die Gesetzmäßigkeit, Entschüsselbarkeit und Wandelbarkeit von Schicksalsbindungen überhaupt erst für Überprüfungen zugänglich. Und tatsächlich findet sich bei gezielten Untersuchungen eine merkwürdige Rhythmik des Lebenslaufs, in der die Themen ehemaliger Schuldigkeit wiederkehren (Schützenberger, 1993) und nach irgendeiner Lösung verlangen, gleichsam damit „die liebe Seele Ruh`“ haben möge. Ich sehe mich aber aufgrund meiner Erfahrungen mit Kranken veranlasst, noch weiter zu gehen und zu behaupten:

In den Beziehungen zwischen den Menschen geht von dieser Rhythmik der frustranen kindlichen Dienstbarkeit die Kraft der spontanen Gebundenheiten aus. Die Kraft der Gebundenheiten wirkt bei einem Kinde so innig, dass sie sich über den realen Unterschied hinwegsetzt, der zwischen den Eltern und den jeweils anderen Anwesenden besteht. Vielmehr setzt sich die Dynamik des Stellvertretertums, die bereits das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern beherrscht, in den Beziehungen zu Dritten fort. Die jeweilige Veranlassung zur Dienstbarkeit wird gesetzmäßig geschaffen und erlitten. Und das unentrinnbare Gesetz dieser Dienstbarkeit führt die Kinder dazu, dass sie - als spontan Unterworfene - die Qualität ihrer Gebundenheiten in Abhängigkeit von zeitlich näher zu bestimmenden Relationen auf (an-)geeignete weitere Personen übertragen und mit deren Hilfe - symptomatisch oder asymptomatisch - gleichnishaft zur Darstellung bringen.

Anders gesagt: Die Unsterblichkeit jener Sehnsüchte, die im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern unerfüllt bleiben, prägt den Lebensläufen der Menschen die wechselseitigen Zeitgestaltungen und die Bedeutungen ein und macht eine grundlegende biografische Gesetzmäßigkeit aus: Aus ihr resultiert der Symbolismus der Lebensläufe. Dass einem Ereignis Bedeutung zukommt, heißt nichts anderes, als dass dies Ereignis im Leben eines Menschen funktionell auf ein anderes Ereignis im Leben anderer Menschen hin ausrichtet oder in der Art seiner Funktionalität auf das andere hinweist und insofern mit jenem anderen in einer dynamischen Beziehung steht. Aber jede dynamische Beziehung gibt sich in Resultaten eines Wirkens zu erkennen. Inwiefern also mit Bezug auf das Bedeuten von einem Wirken gesprochen werden darf, ist zunächst ja nicht klar. Falls es sich um das Zuweisen einer Richtung handelt, bleibt ja gerade unbestimmt, auf wessen Akt hin die Ausrichtung erfolgt sein sollte, da diese doch ohne sichtbaren Akteur erfolgt. Das wäre ja eine seltsame Art von „Entdeckung“, wenn es nach dem Fortziehen der Decke gar nichts zu sehen gibt. Zu sagen, dass das eine Ereignis dem anderen Ereignis Bedeutung übermittle, hieße ja, dass das ursprüngliche Ereignis aktiv gegenüber dem letzteren Ereignis sei. Aber die Art dieser Aktivität des Bedeutung gebenden Ereignisses ist zunächst so rätselhaft, dass auch beim Versuch, zu verstehen, was da stattfindet, die Art der Passivität des Bedeutung empfangenden Ereignisses von derselben Rätselhaftigkeit angekränkelt ist.

In dieser Lage tut man offenbar gut daran, sich zu erinnern, um was es bei der Zuweisung von Bedeutung geht: Das Bedeutsame im vorangegangene Ereignis ist ja das, was darin gefehlt hat. Aus dem Ausbleiben des im ursprünglichen Ereignis nicht Fehlenden oder Ausgebliebenen keimt die orientierende Kraft, von der das nachfolgende Ereignis seine Bedeutung empfängt. So klingt es zwar paradox, ist aber zutreffend, wenn gesagt wird, die Entdeckung des Ursprungs von Bedeutung macht nur derjenige, der von einem Unsichtbaren die Verhüllung entfernt. Er bekommt nur den Mangel zu Gesicht, nicht aber das, was fehlt. Eine Kriegsverletzung zeigt auf, dass der Frieden fehlt. In Anbetracht des Ausmaßes der Verwundung wird deutlich, wie heftig der Frieden vermisst worden ist.

Damit ist ausgesprochen, dass jene richtende „Kraft“, die aller Bedeutungsübermittlung zugrunde liegt, nichts anderes ist als das Leiden des Nächsten: Aus dem Mangel an Glück, aus der Fülle des Leidens leiten sich Gewicht, Richtung und Ziel einer durch Übertragung wirksamen Bedeutung ab; Bedeutung tritt überhaupt nur in Gestalt des Fortwirkens von Leiden in Erscheinung . Bedeutung als das Aufscheinen eines Gesetzes zu erkennen, in der sich eine richtende „Kraft“ zur Geltung bringt, kommt darum einer Würdigung des vergangenen Leidens gleich. Aber diese Würdigung ist nur demjenigen möglich, der von der Nachwirkung und Fernwirkung des Leidens in Mitleidenschaft gezogen wird und der darin stattfindende Verurteilung standhält. Die Erfahrung, von vergangenem Leiden ereilt zu werden und in dessen Bann zu stehen, die Erfahrung, für bloße Ohnmacht gegenüber dem Unmöglichen verurteilt zu sein, ist der einzige Weg, um Bedeutung verstehen zu lernen. Und Verständigung zwischen Menschen beinhaltet die gegenseitige Bereitschaft, die Konsequenzen der Übermittlung vergangenen Leidens zu tragen. Deutung genügt nicht zum Verstehen und zur Verständigung. Im Unterschied zum Verstehen ist die Deutung nur die gesehene, nicht die erlebte Bedeutung. Denn Deutung ist bloßer Fingerzeig für den Anderen. Die nackte Deutung eines Symptoms wirkt als Appell, der Kranke möge das ihm übertragene Leid allein tragen. Wer aber versteht, ist gleichsam in der Position eines Wundarztes, der sich kraft seiner Einsicht in die tieferen Ursachen einer schweren Verletzung für Frieden einsetzt.

Bedeutung wird also verständlich als eine wandelbare Erscheinungsform jener richtenden „Kraft“, die sich durch die spezifischen Wirkungen des Leidens zu erkennen gibt. Bildhaft gesprochen: Bedeutung ist für die Erkenntnis wie der unsichtbare Inhalt, der sich im körperlichen Geschehen verbirgt und offenbart. Das Körperliche ist dessen Form: Die Wunde ist die Form des Schmerzes. Und der Schmerz gleicht dem Wein, der in unterschiedlichen Fässern und Schläuchen enthalten sein, transportiert werden und reifen oder versauern kann. Wenn also in Bezug auf Übertragung und Verwandlung von Bedeutungen Erkenntnis entstehen soll, wenn das Feld der Bedeutungen überhaupt als Wissensgebiet gefasst werden darf, dann muss es gelingen, die Gesetzmäßigkeiten der Formwandlungen angemessen zu beschreiben, die bei Umfüllung, Lagerung und Genuß eines zumindest begrifflich identifizierbaren Gehaltes stattfinden. Diese Beschreibung aus Erfahrung zu leisten, wäre Voraussetzung, um die besondere „Dynamik“, die besondere Art von „Kraft“ zu begreifen, welche in den Ereignissen des Lebens als Bedeutung wirkt.

Meines Erachtens lässt sich sehr einfach benennen, was im Leid Geltung erlangt: Es ist die versäumte Trauer, die noch nicht getrauerte Trauer. Sie ist es, die als Widerstand für das freie Fließen der Liebe zwischen den Generationen und zwischen den Geschlechtern in Erscheinung tritt. Mit dem abstrakten Wort „Kraft“ kann man den Grund dieser hintergründigen Art des Wirkens nur belegen, solange weder die aufgestaute, in einen Stausee verwandelte Liebe zum Vorschein gekommen noch das Hindernis der Liebe entdeckt ist. Und solange ihr Geheimnis im konkreten Fall nicht gelüftet ist, bietet sich für jene richtende „Kraft“, deren Wirkung so sehr derjenigen der Gravitation gleicht, auch der Name „semantisches Feld“ an. Was unter diesem Namen zusammengefasst werden könnte, zeigt sich also anhand der Vielfalt und der Wandlungsfähigkeit aller Krankheiten, Syndrome und Symptomatiken. Der Zusammenhang alles Krankhaften mit allem Gesunden wiederum findet sich im Bild des Lebensstroms. Das Symbol des Stroms aber bietet sowohl Analogien zur Physiologie des Oxidationsprozesses, der die Lebensvorgänge aufrecht erhält, als auch zur Physik der Energieumwandlungen, die auf Entropiezunahme und Wärmetod des Universums hinauslaufen.

Der Name „Feld“ scheint zwar eine in der modernen Physik geläufige Terminologie aufzugreifen, wie sie etwa der „Eichfeldtheorie“ oder der „Super-String-Theorie“ zugrunde liegt. Aber es bleibt sehr fraglich, ob eine solche Analogie für die zu gewinnende neue Begrifflichkeit überhaupt angebracht sein kann. Denn eines scheint von vornherein klar: Die Physik hat zwar infolge der Quantenmechanik auf die Newtonsche Eindeutigkeit und Vorhersagbarkeit mechanischer Kausalverknüpfungen verzichten müssen, darum aber noch nicht überhaupt die Vorstellung unmittelbarer Verknüpfungen zwischen physischen Ereignissen aufgegeben. Den Charakter physikalisch definierter Kausalität im der modernen Physik weiterhin geläufigen Sinne kann einem „semantischen Feld“ schon darum nicht zuerkannt werden, weil die zeitlichen und räumlichen Bedingungen für die Wirkungen hier gänzlich andere sind: Weder gilt für jenes „semantische Feld“ des menschlichen Umgangs, das ich meine, das Prinzip der unmittelbaren zeitlichen Folge erkennbarer Wirkungen, noch gilt das Prinzip der unmittelbaren örtlichen Nähe dieser Wirkungen. Und schließlich gilt für das „semantische Feld“ im Gegensatz zur physikalischen Energie das Prinzip, dass das Fehlende, nicht aber das Vorhandene wirkt. Falls es hierzu in der modernen Physik eine Analogie geben sollte, dann wäre diese sicher nicht im geläufigen Begriff des Vakuums - entsprechend dem „horror vacui“ der Alchemisten -, allenfalls im hypothetischen Higgs-Feld zu suchen. (Genz 1999, 29)

Wenn man einmal von den neuesten und komplizierteren Entwicklungen innerhalb von Physiologie und Physik absieht und sich erlaubt, einfach die drei unterschiedlichen Wirkungen zu betrachten, die von der Art der Bedürftigkeit der Eltern auf die Art und Weise ausgeht, in der ein Kind seine Eltern zu lieben vermag, dann wird der unermeßliche Unterschied zwischen dem ernsthaft-physikalischen Feldbegriff und dem spielerisch-biografischen Namen „semantischen Feld“ deutlich: Plötzlich eröffnet sich der Blick auf den Zauber der Liebe, die sich über die Beschränkungen der Physik hinwegsetzt, ohne indessen völlig gesetzlos zu wirken:


1. Nur das „semantische Feld“ erster Ordnung, in dem zum Beispiel das Kind dem Blick seiner Mutter ausgesetzt ist, wirkt zwischen Eltern und Kind synchron in der Nähe , also zeitgleich an demselben Ort. Seine Wirkung ist die direkte, quasi kausale Gestaltung einer gegebenen Hierarchie der Bedürftigkeiten.

2. Das „semantische Feld“ zweiter Ordnung aber, von dem soeben im Zusammenhang mit den Sheldrakeschen Experimenten die Rede gewesen ist, wirkt bereits ganz anders, nämlich synchron in der Ferne (zeitgleich am anderen Ort) und ist mit kausalen Erklärungen nicht vereinbar.

3. Das „semantische Feld“ dritter Ordnung aber, um das es nach den in meinem Text beschriebenen Erfahrungen bei symptomatischen Ereignissen eigentlich immer zu gehen scheint, wirkt rhythmisch diachron in der Ferne. Das heißt: Es wirkt sowohl später als auch anderswo, sowohl zeitlich versetzt als auch örtlich entrückt.


In der distanzierten und distanzierenden Terminologie des „semantischen Feldes“ wäre jetzt festzustellen: Ich habe anhand der beiden obigen kurzen Fallstudien zu zeigen begonnen, dass für die diachrone (zeitlich aufgeschobene) Wirkung des „semantischen Feldes“ dritter Ordnung tatsächlich überprüfbare Gesetzmäßigkeiten gelten. Im folgenden aber werde ich darüber hinaus zeigen, dass diese Gesetzmäßigkeiten nicht nur zeitlich bestimmbare sondern noch weitere Besonderheiten aufweisen, wie sie insbesondere auch von jenen Psychoanalytikern beschrieben werden, die sich mit den mehrgenerationalen Aspekten der Traumaforschung, insbesondere mit den Folgen der Shoa befassen (Wardi, 1995; Kogan, 2000). Meine eigenen Beobachtungen dazu werden im weiteren Text nachzuliefern sein. Darin wird sich dann folgendes zeigen:


a) Die diachrone Wirkung des „semantischen Feldes“ vollzieht sich im unmittelbaren Umgang zwischen Menschen als synchronisierte und symbolhafte Inszenierung.

b) Sie vollzieht sich nicht nur in der Nähe eines Anderen, sondern dieser Andere ist ein Anderer, ein anderer als die Eltern nämlich; seine Nähe ist die Nähe eines - im Vergleich zu den Eltern - nächsten Anderen, eines anderen Nächsten : die Nähe eines Dritten. Das heißt: Die Wirkung des „semantischen Feldes“ dritter Ordnung findet statt als unbewusst vereinbarte wechselseitige Bedeutungszuweisung an einem gemeinsamen Ort und in einer gemeinsamen Zeitspanne.

c) Aber diese zeitliche und räumliche Verbundenheit der an dem unbewussten, wechselseitigen Arrangement Beteiligten darf nicht darüber hinweg täuschen, dass sich die Bedeutung dieses Umgangs von anderswoher speist: Das Arrangement zielt auf szenische Darstellung eines vergangenen Mangels ab und wird verständlich als eine verspätete in Symbolik überführte Erfüllung des (im Vergangenen bzw. von Vergangenen) Unerfüllten.

d) Das Gesetzmäßige des „semantischen Feldes“ dritter Ordnung, dem symptomatische szenische Darstellungen ihren Verlauf verdanken, besteht also wesentlich darin, dass sich zu berechenbaren Zeiten Dritte, nächste Andere bzw. sekundär Nächste finden, die einander als Stellvertreter von vermissten primär Nächsten auf der Bühne des Lebens dienen, um unbewusst eine vergangene mangelnde Wirkung in Gestalt eines wirksamen Mangels zur Geltung zu bringen.


Ich widerstehe dem Bedürfnis, hier bereits eine ausführlichere Erläuterung meiner Sätze zu geben und verweise an dieser Stelle nur darauf, dass ich mich in diesem Zusammenhang nicht nur mit den Erfahrungen vieler Therapeuten, nicht zuletzt auch psychoanalytischer Therapeuten, im Einklang sehe, sondern insbesondere mit zwei philosophischen Autoren phänomenologischer Provenienz: mit Emmanuel Lévinas und Bernhard Waldenfels.

Für Emmanuel Lévinas steht die Thematik jenes „Dritten“ oder „anderen Nächsten“ unter dem Namen „der Andere“ im Zentrum seines gesamten Werkes. (1992 a, 1992 b; 1987) Lévinas untersucht auf begrifflicher Ebene die Unentrinnbarkeit der existenziellen Situation, in der ein jeder Mensch unmittelbar durch die Bedürftigkeit des „Anderen“ angeklagt ist und in der jedes Ich ebendarum prinzipiell im Akkusativ steht und nur als „Sich“ erkennbar wird.

Bernhard Waldenfels untersucht das Spektrum der für die „Lebenswelt“ charakteristischen Phänomene unter dem Aspekt des Wirkens dramatischer Kraftfelder zwischen den Menschen. Dabei versteht er den Begriff „Feld“ in gestalttheoretischer Tradition folgendermaßen: Es sei „ein innerlich gegliederter, flexibel nach außen abgegrenzter Erfahrungsbereich, dessen Grenz- und Kraftlinien auf wechselnde Standorte innerhalb des Bereichs zulaufen“. Verwandt damit seien „Konzepte wie Szene, Bühne oder Schauplatz (Pollitzer in Anlehnung an Freud), Rahmen (Gofman) oder sozialer Raum (Bourdieu)“. Die Rede von Szenen oder Szenerien, so Waldenfels weiter, habe „den glücklichen Effekt, dass hier das gesamte Umfeld des Geschehens, die Plätze von Spielern..., das Zubehör, die Kulisse und auch die Begrenzung des Schauplatzes mitbezeichnet werden“. Das Entscheidende einer dramaturgischen Handlung, die sich an solchen Plätzen abspielt sei „nicht die Darstellung, in der man sich selber in Szene setzt, sondern die Aufführung des Dramas selber, das nicht geradewegs auf Zuschauer angewiesen ist (Pollitzer).“ (Waldenfels, 1987, 54 ff)

Was ich versuchsweise als „semantisches Feld“ erster Ordnung bezeichnet habe, ist nichts anderes als eine auf die Beziehung zwischen Eltern und Kind verschobene Chance zur realitätsgerechten Wahrnehmung jener Verantwortlichkeit, die in der Beziehung zwischen den Eltern und den Großeltern nicht wahrgenommen worden ist, das heißt die im Leben von Nachfahren gewahrte Chance auf Wiedereröffnung eines Weges zum freien Strömen der Liebe. Und das „semantische Feld“ zweiter Ordnung, das sich aus dem „semantischen Feld“ erster Ordnung abzuleiten scheint, ist ebenfalls als bloße Verschiebung von bereits Aufgeschobenem zu verstehen. Letztlich muss demnach das „semantische Feld“ dritter Ordnung, das bereits dem synchronen Wirken der Nähe zwischen Eltern und Kind zugrunde liegt, als weitere Bestätigung des im Grunde wirksamen Prinzips angenommen werden.

Die obige Einteilung der Felder nach drei Stufen gäbe also lediglich eine heuristisch interessante Hierarchisierung von Erkenntnisebenen für die Beobachtung und Analyse von Zusammenhängen wieder, nicht unbedingt die wirkliche Hierarchie gestaltender Kräfte, vor allem nicht die Hierarchie der wirksamen Bedürftigkeiten in Gruppen von Menschen. Anders gesagt: Die Kraft, die die Wirkungen erster und zweiter Ordnung zustande bringt, beruht auf dem Ausschluss eines Dritten. Sie entspricht der Wahrung des Gesetzes, das die Folgen dieses Ausschlusses vorsieht bzw. als Folge des Ausschlusses unmittelbar herbeiführt. Erst unter Beachtung dieses zugrundeliegenden bzw. den Grund legenden Gesetzes allerdings kann der Ausgeschlossene in den Phänomenen des Geschehens überhaupt in den Blick geraten. Was nicht Fakt geworden ist, in seinem Gewicht für die Faktizität zu bemerken, ist das Problem, um das es mir geht. Dies Problem zu lösen, ist meines Erachtens für die Zukunft der Heilkunde wegweisend. Es setzt allerdings eine Perspektive voraus, aus der die „semantischen Felder“ insgesamt in all ihren drei möglichen Ordnungen überblickt werden können. Und meines Erachtens ist allein die Phänomenologie methodisch imstande, diese Perspektive einzunehmen, aus der Verantwortlichkeit und Verantwortung unterschieden werden können.

Wenn Rupert Sheldrake (1988, 158) im Zusammenhang mit seiner Theorie der „morphischen Felder“ von „Wahrscheinlichkeitsstrukturen“ spricht, dann verzichtet er auf den Blick für das im menschlichen Leben Wesentliche. Es tauchen bei ihm zwar Analogien zur Problematik der Verantwortlichkeit auf, aber es handelt sich dabei eben nur um Analogien, nicht um Analysen. Darum wäre zu ergänzen: Wenn das von mir so genannte „semantische Feld“ in seiner ersten und zweiten Ordnung zunächst ja nur beobachtet wird, dann scheint die Wahrheit der Verantwortung durch die Phänomene bloß hindurch und bleibt noch weitgehend unkonturiert. Wirklich erfasst werden kann, was die Wahrheit dieser „Felder“ ausmacht, erst dann, wenn sie ihrer dritten Ordnung gemäß untersucht werden. Dazu ist die genaue Betrachtung der zeitlichen und räumlichen Verhältnisse zwischen den beteiligten Personen erforderlich, und zwar nicht nur das Verhältnis zwischen den Anwesenden, sondern vor allem das Verhältnis der jeweils Anwesenden zu den Abwesenden. Um dies nun doch wenigstens in ersten Ansätzen zu demonstrieren, habe ich zunächst die drei folgenden Fallbeispiele gewählt.

2.4 Drei schicksalhafte Einbrüche im Leben

Beinbruch

Das nächste Beispiel steht für die Erfahrung, dass es nicht allein um endogen hervorgebrachte Symptome und Erkrankungen geht, sondern um eine das Innere sowie das Äußere umfassende Dynamik, an deren aktuellem Zustandekommen auch andere Personen beteiligt sind. Infrage kommen dabei vor allem Personen aus derselben Familie, aber durchaus auch Fremde:

Ein junger Mann, der mich in einer Entwicklungskrise aufsuchte und über dessen Geschichte ich, abgesehen von seinen psychischen Beschwerden, noch nichts erfahren hatte, kam zur zweiten Sitzung. Er hatte sich, meinem Wunsch entsprechend, mit den Eckdaten der Familiengeschichte präpariert. Diesmal fiel mir bei seinem Eintreten auf, dass er nicht gleichmäßig ging. Mir war sein Gangbild beim ersten Besuch nicht ungewöhnlich vorgekommen. Jetzt fragte ich nach dem Grund. Er berichtete, dass er vor über 8 Wochen eine Schienbeinfraktur erlitten habe, die ihm manchmal noch Schmerzen bereite. Ich teilte ihm mit, dass der Bruch nach meiner Erfahrung eine Bedeutung habe, die sich aufklären würde, wenn wir unsere Arbeit fortsetzten. Zuvor wollte ich ihm aber schon in allgemeiner Form ankündigen, was wir herausfinden würden: Da es das rechte Bein sei, das er sich gebrochen habe, sähe ich mich zu der Annahme veranlasst, dass seine Standfestigkeit durch einen schweren Einbruch in der väterlichen Linie seiner Familie Schaden gelitten habe. Ich füge hier eine Bemerkung ein: Nach meinen Erfahrungen ist die rechte Körperhälfte eines Menschen in einem grundlegenden Sinne auf seinen Vater bezogen. Diese Erkenntnis drängt sich jedem auf, der die Symptome radikal als Symbole für die „Eigentümlichkeit“, d.h. leibhaftige Bezogenheit, eines Menschen aufzufassen bereit ist. Die Auffassung selbst mag ungewohnt, esoterisch oder gar befremdlich erscheinen. Dem Befremden liegt aber eine halbherzige, ängstliche Haltung gegenüber der Empirie als dem ersten Prinzip aller Wissenschaft zugrunde. Denn es handelt sich hier tatsächlich um Alltagserfahrungen, die jedermann machen kann und beständig macht.

Als ich meinen Patienten dann ohne Umschweife nach den Lebensdaten seines Großvaters väterlicherseits fragte, erfuhr ich, dass dieser mit 29 Jahren im Zweiten Weltkrieg gefallen sei. Der Vater des Patienten war damals zwei Jahre alt. Der Patient war zum Zeitpunkt des Schienbeinbruchs 29 Jahre alt. Und nun war er verblüfft, als er erkannte, dass ich ihm im Grunde genau einen derartigen Zusammenhang als wirksamen angekündigt hatte.

Bei genauer Betrachtung des Genogramms (Abb. 2.3) zeigt sich, dass die Ehe des Vaters nach fünf Jahren zerbrach, also genauso lang währte wie die Ehe des Großvaters, dass aber diesmal die Frau die Trennung nicht erlitten, sondern aktiv vollzogen hat. Und die Trennung erfolgte nicht, weil der Mann starb, sondern weil er sein Leben in einer außerehelichen Tochter verdoppelt hat, indem er diese zeugte. Als er aber diese Tochter zeugte, verwirklichte er damit einen unerfüllten Wunsch seiner Mutter. Diese hätte gern mit ihrem Mann neben dem Sohn noch eine Tochter gehabt, was aber infolge des Krieges nicht möglich war. Ihr Sohn also vollbrachte dies unvollendete Werk mit seiner zweiten Frau: einer Stellvertreterin seiner Mutter und seiner Ehefrau. Es gibt also mehrfach Anlass, in diesem Fall von - unbewussten - Umkehrungen und Ausgleichsbewegungen durch verschiedene Stellvertreter zu sprechen. Eine derartig konkretisierte Betrachtung kommt der Wahrheit einer Erkrankung ein ganzes Stück näher. Grundsätzlich vertrete ich aber die Auffassung, dass bei der Erfassung sämtlicher wirksamer Zusammenhänge Vollständigkeit praktisch nicht zu erlangen ist, sondern eine - therapeutisch unbedingt zu respektierende - Utopie bleibt. (Vgl. Abb. 2.3)

Mir kommt es hier nur darauf an, einen ersten Eindruck von den Gesetzen zu vermitteln, die ich unter dem Begriff Biografik, sowie der Gesetzmäßigkeiten, die ich unter dem Begriff der Leibhaftigkeit zusammenfassen möchte: Ich schaue nach dem, was in der Generationenfolge einer Familie gefehlt hat. Das ist immer eine verantwortliche Person bzw. eine Person, die Verantwortung hätte wahrnehmen müssen, um einem Kind Schutz zu geben. Es spielt für die Analyse nur am Rande eine Rolle, ob das Fehlen als Verlust oder als Verfehlung zustande gekommen, ob das Fehlende eine Handlung oder eine Unterlassung gewesen ist. Primär sind die systemischen Folgen zu bedenken, die darin bestehen, dass ein Kind das Fehlende als eigene Schuldigkeit, wie automatisch, unbewusst übernimmt und sein Lebensrecht davon abhängig macht, inwiefern es ihm gelingt, dafür zu sorgen, dass die „Schuld“ beglichen werde. Die körperlichen Folgen dieses Prozesses sind mit den emotionalen Folgen ebenso verschränkt, wie Wahrnehmen und Bewegen miteinander verschränkt sind. Das ist das wesentliche Argument, warum ich es vorziehe, vor jeglicher Einzelbeobachtung zunächst grundsätzlich von „leiblichen“ Folgen zu sprechen. Denn die Leiblichkeit ist die widersprüchliche Einheit des (im Verhältnis von Wahrnehmen und Bewegen bereits auf geheimnisvolle Weise zwiespältig erscheinenden) Körperlichen und Seelischen. (Viktor von Weizsäcker, 1950, 1988)


Abb. 2.3: Beinbruch (1995)


Legende: ein Schrägstrich = Trennung; zwei Schrägstriche = Scheidung


Praktisch wirkt sich die primär unabweisbare Stellvertreterfunktion des Kindes wiederum so aus, dass das Kind unter seiner Ohnmacht leidet oder an seiner Ohnmacht andere Menschen leiden lässt. Charakteristisch ist das Aufbrechen des Schmerzes im Leben dieses Kindes, in anderen Situationen auch das Aufbrechen von Angst oder von Scham, in jedem Fall aber ein elementares (seltener auch abgeleitetes) Gefühl für jene Ohnmacht, die bei den Eltern eines Kranken durch das Fehlen bzw. durch die Verfehlung(en) von Vergangenen erfahren worden ist. Diese Folgen lassen sich aus den Symptomen und Erkrankungen eines Menschen mit einem - für den Ungeübten kaum glaublich - hohen Maß an Treffsicherheit erschließen, und zwar auch dort, wo man sie nicht, wie in dem angeführten Beispiel, schon unmittelbar voraussagen kann.

In Bezug auf den Beinbruch lässt sich also die Frage „Warum ausgerechnet jetzt?“ sofort beantworten, wenn man sich auf die Kenntnis der Gesetze des Lebenslaufs von Nachfahren stützt, mit Blick auf das Genogramm des jungen Mannes. Die Antwort lautet aber nicht etwa: „Weil der Großvater väterlicherseits in demselben Alter gestorben ist.“ Sie lautet vielmehr: „Weil der Tod des Großvaters vom Vater bis heute nicht verschmerzt worden ist und weil dieser Tod in der weiteren Geschichte der Familie tragische Folgen nach sich gezogen hat.“

Auch die Frage „Warum gerade hier?“ lässt sich nun leichter beantworten, als dies ohne genographische Analyse möglich wäre: „Weil der Großvater im Krieg gefallen ist und darum seinen Sohn, den Vater des Patienten, nicht instand gesetzt hat, einem Sohn gegenüber Verantwortung wahrzunehmen.“ Freilich sind in Bezug auf die Frage nach Ort und Art der Erkrankung weitere Kenntnisse erforderlich, die sich sowohl auf die Stellvertretungsordnung in Familien als auch auf die Symbolik und Stellvertretungsordnung des Körpergeschehens beziehen.

Die Erkenntnis, dass der erste und einzige Sohn unter anderem Stellvertreter jenes Großvaters ist, bildet eine erste Grundlage zur Deutung des Krankheitsgeschehens. Es gibt aber darüber hinaus, wenn ich meine Erfahrungen verallgemeinern darf, auch eine - für die Theorie der Medizin höchst interessante Stellvertretungsordnung der verschiedenen Organe innerhalb eines Leibes, auf die ich im nächsten Kapitel noch kurz eingehen werde. Dem rechten Bein eines Kindes entspricht nämlich der Standfestigkeit, die ein Kind ganz leibhaftig vom Vater erhält - wie das linke Bein die Funktion der Mutter übernimmt, wenn es gilt, selbständig durch das Leben zu gehen. Ein Mensch braucht die Fürsorge von Mutter und Vater, um seine volle Selbständigkeit ohne ungewöhnliche Einbrüche zu erlangen. Dass ein Vater zu einem bestimmten Zeitpunkt seinen Vater verloren hat, kann bei seinem Sohn zur Überlastung des rechten Beines führen, sobald dieser ein Alter erreicht, in dem er das Gewicht seines Vaters stellvertretend für den Großvater zu tragen hat. Die Dysfunktion der Stellvertretung des Kindes für die Eltern scheint sich symptomatisch in einer symbolisch zu verstehenden Störung in der Stellvertretungsfunktion der Organe zu verraten: Es ist, als würden sich die Eltern in einer universellen Sprache der Organe bei dem Kind beklagen, „weil“ dies Kind ihnen nicht dazu verhilft, ihren Schmerz zu lindern, ihre Wunden zu heilen und ihnen die Arbeit der Trauer zu ersparen.

Der sprachlich hergestellte, etymologische Bezug zwischen der zeitlichen „Weile“ und dem begründenden „Weil“ ist offensichtlich. Die Zeitverhältnisse werden in der Umgangssprache wie selbstverständlich für den Grund eines Geschehens genommen.

Die dritte Frage „Warum gerade so?“ ist nicht mehr allzu schwer zu beantworten, wenn man die Symbolik des Leibgeschehens und die Problematik des Stellvertretertums über den Rahmen des Familienlebens hinaus weiter verfolgt, ohne unsere leibliche Verbundenheit mit unseren Vorfahren aus den Augen zu verlieren. Dann zeigt sich: Der Bruch erfolgte beim Fußballspiel, und zwar dadurch, dass ein gegnerischer Spieler unfair nachtrat. Im damaligen Geschehen fand also ein stellvertretender und symbolischer Ausgleich insofern statt, als einerseits der Stellvertreter des Großvaters trotz des „Fallens“ am Leben geblieben ist und erfolgreiche ärztliche Hilfe erhielt, andererseits der Gegner vom Platz gestellt und einige Monate lang für jedes weitere Spiel gesperrt wurde. Das ist ein - nicht nur in Friedenszeiten - annehmbarer Ersatz für die Todesstrafe, die die Familie des Patienten dem Kriegsgegner des Großvaters als Strafe vermutlich hätte abverlangen mögen.

Mit anderen Worten: Wir haben es bei dem Beinbruch meines Patienten mit einer Inszenierung zu tun, die zwischen zwei Menschen unbewusst vonstatten gegangen ist und die als solche nicht aufklärbar wäre, wenn die „Perspektive dritter Ordnung“, wie ich sie oben bezeichnet habe, nicht zur Verfügung stünde. Aus Erfahrungen mit anderen Personen wage ich die Behauptung, dass eine genografische Analyse des Platzverweises auf Seiten des zweiten Beteiligten ein korrespondierendes Ergebnis erbracht hätte.

Versagensängste

Eine weitere Krankengeschichte mag beispielhaft jene Phasen der Forschung beleuchten, in denen der Boden, den ich mit meiner Sicht der Dinge betreten hatte, zu schwanken schien und in denen ich der Auffassung zuneigte, dass ich es bei meinen biografischen Funden lediglich mit einer - freilich immer noch erklärungsbedürftig auffälligen - Häufung ähnlicher Ereignisse, nicht aber mit einem wirklichen Gesetz zu tun hätte, das keine Ausnahmen duldet:

Ein 35-jähriger Patient kam zur Therapie, weil er sich isoliert und nutzlos fühlte, nachdem er gerade erst erneut seinen Arbeitsplatz verloren hatte. Er leide unter „Kommunikationsproblemen“, und es sei ihm aufgefallen, dass er in seinem Leben niemals das gemacht habe, was er selbst wollte, sondern sich in unangenehme Rollen, lästige Aufgaben und berufliche Fehlentscheidungen habe hineinzwängen lassen, aus denen er nur entweder krankheitsbedingt oder mit tiefer Empörung ausgestiegen sei. (Vgl. Abb. 2.4)


Abb. 2.4: Versagensängste (1984)


Aus seinem Familienstammbaum ging hervor, dass der Großvater väterlicherseits starb, als der Vater 22 Jahre alt war. Auf meine Frage, was sich in seinem Leben Besonderes ereignet habe, als er selbst 22 Jahre alt war, fiel ihm auch bei verstärktem Nachdenken nichts ein: Er erinnere sich gut an jene Zeit, weil sie gerade relativ gleichmäßig, nämlich sehr langweilig verlaufen sei. Da er nach dem frühen Tod des ersten Bruders geboren wurde, war der Patient der einzige lebende Sohn seiner Eltern. Insofern verwirrte mich seine Antwort. Ich hätte aufgrund meiner bereits jahrelangen Erfahrungen mit genografischer Analyse meine Hand dafür ins Feuer legen mögen, dass dies Lebensalter von außerordentlicher Dramatik hätte sein müssen - auch wenn ich nicht zu sagen wagte, ob es sich bei dem von mir Erwarteten um ein erfreuliches oder unerfreuliches Ereignis handeln werde.

Ich wollte dies - ohnehin für die Therapie nicht vordringlich scheinende - Thema schon wechseln und hatte mir vorgenommen, meine Analyse am Abend für mich allein im Stillen fortzusetzen, um meinen Irrtum zu ergründen, während ich ihm noch erklärte, dass ich selbstverständlich an seinem Wohlbefinden in höherem Maße interessiert sei als an meiner Theorie und mich durch Tatsachen sehr wohl bewegen lasse, von vorgefassten Meinungen abzugehen - da änderte ich meinen Entschluss und fragte ihn, was denn in seinem Leben geschehen sei, als er 21 Jahre alt wurde. Seine Antwort kam ohne jedes Zögern: Genau damals habe sein Problem begonnen. Er habe auf eigenen Entschluss die Fachoberschule verlassen, die er - mit innerem Widerstreben - nur zwei Monate lang besucht hatte. Er habe gegen den dort herrschenden Leistungsdruck rebelliert und sich auf das konzentrieren wollen, was ihm Spaß machte. Das aber sei ihm fortan nicht mehr gelungen.

Mit dieser Bestätigung der Korrektur meines Ansatzes, die ich gerade erst hypothetisch eingeführt hatte, kamen wir unverhofft auf das Kernproblem der Therapie: Das erste Kind seiner Eltern, sein älterer Bruder, war fast genau ein Jahr vor ihm geboren worden und nach einem Tag gestorben. Dieser erste Sohn war zugleich der ursprüngliche Stellvertreter des Großvaters väterlicherseits und wäre zu der Zeit 22 Jahre alt gewesen, als der Patient erst 21 Jahre alt war. Damit wurde anscheinend die schwere Aufgabe der Stellvertretung für ihn um ein Jahr vorverlegt. Nicht genug also, dass der Patient den Großvater zu repräsentieren hatte - er hatte dies auch noch stellvertretend und ein Jahr zu früh zu tun. So wurde die grundlegende Hypothesen in erweitertem Maße sinnträchtig. Erst anschließend erfuhr ich, dass ein Jahr darauf doch noch etwas Wichtiges passiert war: Der Vater des Patienten war genau zu der Zeit als Frührentner aus dem Berufsleben ausgeschieden, als der Patient 22 Jahre alt war.

Ich greife hier wiederum dem übernächsten Kapitel vor, wenn ich bemerke, dass der zweite Sohn Stellvertreter seines eigenen Vaters ist, was im Ergebnis oft dazu führt, dass der Vater schicksalhaft eine Ausgleichsbewegung vollzieht, die er damit dem Sohn erspart. Es scheint dann unter den Gesichtspunkten der Stellvertretungsordnung, als wäre der Vater Stellvertreter des Sohnes. In Wirklichkeit erinnert hier das Alter des Sohnes den Vater unbewusst an dessen eigene Stellvertretungsaufgabe im Dienst der Großeltern, auf die dann das Geschehen symbolisch eingeht.

Lebensbedrohliche Schilddrüsenüberfunktion

Bei den obigen Beispielen habe ich Wert darauf gelegt, dass es sich um Probleme handelt, die scheinbar völlig verschiedenen Bereichen des Lebens entnommen sind. Die Beziehungskrise eines Paares wurde neben den Ausbruch der schweren seelischen Krise eines Mannes gestellt, und es folgten die biografisch orientierte Betrachtungen eines Unfallhergangs sowie einer chronifizierten Versagensangst. Die familienbiografischen Bemerkungen über die letzteren Beispiele, in denen sowohl systemische als auch psychoanalytische Gesichtspunkte schon sehr viel konkreter berücksichtigt und neu vermittelt worden sind, sollen mir als Vorbereitung für die - diesmal ungleich ausführlichere - Demonstration der Untersuchung einer weiteren, wiederum ganz anderen Erkrankung dienen:

Eine 32-jährige ledige Patientin geriet in ein durch Schilddrüsenüberfunktion (Basedowsche Erkrankung; Thyreotoxikose) ausgelöstes Koma und musste intensiv behandelt werden, um nicht daran zu sterben. Mir wurde sie vorgestellt, weil sie - offenkundig wegen seelischer Probleme - mit den Konsequenzen ihrer Erkrankung nicht zurecht kam und nach anfänglicher erfolgreicher Intensivbehandlung kaum mehr medikamentös einstellbar war, sobald ihre eigene Mitarbeit erforderlich wurde.



Abb. 2.5: Schilddrüsenüberfunktion (1996)


Aus der Familiengeschichte, die im Genogramm (vgl. Abb. 2.5) schematisch zur Darstellung kommt, geht hervor:


- dass ihr Vater im Alter von 53 Jahren an Pneumonie verstorben ist;

- dass der Großvater mütterlicherseits mit 29 Jahren gefallen ist;

- dass der Vater eine jüngere Schwester hatte, die nur zehn Tage alt geworden ist.


Alle diese früh Gestorbenen hatten aber nicht an Schilddrüsenüberfunktion gelitten. Überhaupt war in der Familie die Schilddrüsenerkrankung bislang nicht in Erscheinung getreten. Wenn ich hier die frühen Todesfälle erwähne, so möchte ich die Aufmerksamkeit wiederum auf eine Dynamik lenken, die allerdings hier erst auf Umwegen deutlicher werden kann.

Die Zahlen, die als Altersangaben, Geburts- und Sterbedaten im Stammbaum auftauchen, erscheinen zunächst ganz unauffällig. Setzen wir sie allerdings zueinander in Beziehung und nehmen dabei Bezug auf die schmerzlichsten Verluste, die es in den beiden Zweigen der Familie gegeben hat, so finden sich einige Merkwürdigkeiten. Es zeigt sich:

Der Großvater väterlicherseits. war 29 Jahre alt, als seine (zweite) Tochter starb. 29 Jahre war auch das Alter des Großvaters mütterlicherseits, als dieser starb. Das mag bereits seltsam erscheinen, lässt sich aber vielleicht noch als „zufälliges“ Zusammentreffen abtun.

Anders wird die Situation allerdings, wenn man erkennt, dass der Bruder der Patientin ebenfalls 29 Jahre alt war, als der Vater starb. Und nun scheint es vollkommen verrückt: Fragt man sich, was denn geschah, als die Pat. 29 Jahre alt war, so findet man, dass damals ihr Neffe, der Sohn des Bruders, geboren wurde. Und wenn man einen Schritt weiter geht und fragt, was denn geschehen ist, als sie so alt war wie ihr Bruder bei des Geburt des Neffen, dann gelangt man schließlich zu dem Punkt, weswegen ich überhaupt so weit ausgeholt habe: Das ist genau die Zeit, in der sie ins Koma fiel und ohne ärztliche Hilfe gestorben wäre..

Als die Patientin so alt war wie die schwangere Großmutter mütterlicherseits. beim Tod des Großvaters, trennte sich übrigens die schwangere Freundin vom Bruder: zwei Monate vor der Geburt des Neffen, d.h. ähnlich, nur merkwürdig umgekehrt im Vergleich zu der Situation der mit der Mutter schwangeren Großmutter.

2.5. Zwölf grundlegende Thesen zur Familienbiografik

Derartige Berechnungen von Altersrelationen und Stellvertretungen lassen sich beliebig in allen Familien weiter anstellen. Immer findet man gleichermaßen erstaunliche biografische Zusammenhänge zwischen den Generationen, die sämtlich zum Verständnis unbewusst wirkender Lebensbezüge herangezogen werden können. Auf den ersten Blick wirken sie allerdings schockierend. Denn sie erscheinen über weite Strecken wie eine monströse Aneinanderreihung von Bösem, von Übeln, Verlusten und Unheil. Man kann sich des Eindrucks kaum erwehren, den Schiller in die Worte kleidete: „Das ist der Fluch der bösen Tat, dass sie, fortzeugend, nur neues Unheil kann gebären.“ Oder man wird an Shakespeares Worte erinnert, die er Hamlet in den Mund legt: „Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode!“

Ich jedenfalls bin versucht, an die Erfahrungen Hiobs mit dem Unrecht und dem Bösen zu denken. Denn es drängt sich die Vermutung auf, dass die Patientin an Thyreotoxikose erkrankt, „weil“ ihr Vater gestorben ist, als ihr Bruder 29 Jahre alt war, und dass dies geschehen ist, „weil“ der Großvater väterlicherseits mit 29 Jahren eine Tochter verloren hat oder „weil“ die Großmutter mütterlicherseits als schwangere Frau mit 29 Jahren ihren Ehemann verloren hat. Unter dieser Vorstellung möchte man vielleicht, diesmal gewissermaßen als ein besserer Mensch im Vergleich zu den falschen Freunden Hiobs, mit der Patientin in eine nicht-enden-wollende Anklage gegen die Ungerechtigkeit des Schicksals ausbrechen. Das aber ist gerade nicht die Absicht meiner Ausführungen. Ich verfolge vielmehr einen entgegen gesetzten Zweck: Ich will den grundlegenden Unterschied zwischen der blinden Verantwortlichkeit des Kindes einerseits und der wahrhaften Verantwortung des Erwachsenen in aller Schärfe heraus arbeiten, um die Aufgaben von uns Erwachsenen und die Aufgaben einer humanen Medizin zu verdeutlichen.

Meine Untersuchungen betreffen Familienbiografien nicht nur Kranke, sondern auch Gesunde Personen, unter den Kranken allerdings sowohl körperlich als auch seelisch Beeinträchtigte. Anfangs ist es für mich eine große Erschütterung gewesen, feststellen zu müssen, dass die auf den ersten Blick so grundsätzlich erscheinende Trennung zwischen körperlichen und seelischen Erkrankungen aus biografischer Sicht von untergeordneter Bedeutung ist. Die Problematiken waren sämtlich in ähnlicher Weise aufzuklären, auch wenn hier bereits Unterschiede zu erkennen sind, auf die ich aber an dieser Stelle nicht eingehen möchte. Dass sich bei der Behandlung gravierende Unterschiede ergeben, ist nicht erwähnenswert.

Aus diesen Erfahrungen ergeben sich allgemeingültige Einsichten in die Gesetzmäßigkeit der Bindungen zwischen Eltern und Kindern. Da es sich dabei um lehrbares Wissen handelt und da sich dies Wissen auf die Gesetzmäßigkeiten von Lebensläufen bezieht, da es also ein Wissen um Lebensgesetze ist, erscheint es angebracht, dafür einen eigenen Begriff zu entwickeln. Ich sehe mich hier in Einklang mit Ideen Viktor von Weizsäckers, der in seinem „Entwurf einer speziellen Krankheitslehre“ mit programmatischer Absicht den Begriff „Biografik“ prägte (1967, 241 ff). Da die Methode, mit deren Hilfe sich die biografischen Gesetze erkennen lassen, phänomenologisch ist, ziehe ich es vor, von „phänomenologischer Biografik“ zu sprechen. Diese ist mir nicht nur aus therapeutischer Arbeit erwachsen, sondern ich habe auch den Eindruck, dass sie die für therapeutische Zielsetzungen einzig geeignete ist. Jedenfalls hat mein Buch den Zweck, die therapeutische Bedeutung dieser phänomenologischen Biografik darzulegen. Ich werde sie nunmehr thesenhaft formulieren:


1. Für das Verständnis dessen, was im Leben eines Menschen an auf den ersten Blick Unverständlichem geschieht, ist nicht die Betrachtung seiner Kindheit entscheidend, sondern die Betrachtung seiner Kindschaft. Unter „Kindheit“ wird ja üblicherweise eine bestimmte, vorübergehende Lebensphase verstanden, in der ein Mensch noch nicht auf eigenen Füßen stehen kann, sondern die Voraussetzungen seiner Selbständigkeit noch erwerben muss und darum von seinen Eltern oder anderen Erwachsenen mehr oder weniger vollständig abhängig ist. Unter „Kindschaft“ aber ist die unabänderliche Tatsache zu verstehen, dass ein jeder Mensch, ob klein oder groß, das leibliche Kind seiner Eltern ist. Denn jeder Mensch entstammt der Verbindung seiner Eltern und verkörpert allein darum die Ziele der Liebe seiner Eltern. Das bedeutet: Es steht unmittelbar mit Leib und Leben ein für die Erfüllung der in der Paarbeziehung seiner Eltern leibhaftig eingegangenen Verbindlichkeiten. Das Kind hat den Eltern zu bieten, was die Eltern durch ihre Paarbindung anstreben, wozu sie einander unwissentlich benutzen bzw. durch Ehevertrag unwillentlich verpflichten. Der wesentliche Zweck des Kindes besteht darin, dass es das Leben, das die Eltern von den Großeltern erhalten haben, fortsetzt. Bei dieser Fortsetzung handelt sich aber nicht etwa um die Einlösung eines Blankoschecks auf das Leben schlechthin, sondern um die Einlösung von nicht ausgehandelten, primär wirksamen Bedingungen, die allesamt als Ausgleichsbewegungen im Dienst der Eltern bezeichnet werden können.


2. Dem der Kindschaft eines Menschen innewohnenden leibhaftigen Debet, der unverhandelbaren Verpflichtung, die mit der Tatsache seines Entstehens aus der innigsten Verbundenheit der Eltern gegeben ist, entspricht der Hauptaspekt seiner lebenslangen Abhängigkeit. Sie macht es ihm nämlich letztlich unmöglich, sich durch Leistung aus dem Bann der elterlichen Leibeigenschaft zu befreien. Es bleibt immer ein uneinlösbarer Rest seiner kindlichen „Schuld“ - darum uneinlösbar und nicht abgeltbar, weil er in der Vergangenheit hätte erfüllt werden müssen. Das Kind kommt jedoch als Funktionsträger des seinen Eltern Entgangenen, als Stellvertreter der seinen Eltern Vergangenen immer „zu spät“, um nach den Kriterien seiner Leiblichkeit unschuldig bleiben zu können. Diese Ausgangsposition erlegt einem jeden Menschen jene lästige Befindlichkeit auf, die ihm insbesondere das Erwachsenwerden zum Risiko macht. Denn der Befreiung zur Selbständigkeit des Erwachsenseins fällt der Charakter des Ungehorsams gegenüber den Eltern, des Aufstands gegen sie zu. Dennoch ist das Erwachsenwerden ein Anspruch, der sich seinerseits aus der ebenfalls unabweisbar wirksamen - gleichsam geschwisterlichen - Bindung eines Menschen an die Bedürftigkeit seiner Mitmenschen ableitet. (Lévinas, 1992 a, 50 ff) In dem Widerspruch zwischen der tiefen Bindung durch die „Schuld“ der Vergangenen auf der einen Seite und durch die aktuelle Schuldigkeit in der Gegenwart auf der anderen Seite liegt das Problem der Entwicklung eines Menschen. (Boszormenyi-Nagy & Spark, 1983; U. Franke, 1997, 69) Wo dies Problem unlösbar erscheint, zeigt sich ein Symptom, das auf das Fehlen der Lösung ebenso hinweist, wie es die ungelöste Aufgabe selbst symbolisiert. Alle Symptomatik ist darum Erinnerung an die Verpflichtung zur Wahrnehmung des Unterschieds zwischen der illusionären vergangenen, fremden Verantwortlichkeit einerseits und der wahrhaften, aktuellen, eigenen Verantwortung andererseits.


3. Das Leben der Nachfahren vollzieht sich also der Form und dem Inhalt nach als eine - zuweilen nur symptomatische - stellvertretende Ausgleichsbewegung in Bezug auf das ungelebte Leben der Vorfahren. Diese - nach dem Prinzip lebendiger Komplementarität - stattfindende Bewegung entspricht der einem jeden Kind angeborenen oder später übertragenen Aufgabe, seinen Eltern zu ersetzen, was diesen Eltern in ihren Leben fehlt. Es geht dabei in erster Linie um das verlorene oder gefährdete Leben anderer Familienmitglieder, in zweiter Linie um die vermisste oder erschöpfliche Verantwortlichkeit dieser Familienmitglieder. Darum sind die wesentlichen Ereignisse, an denen sich das Leben eines Kindes orientiert, zuerst die Zeugung, die Geburt und der Tod jener Personen, sodann aber auch die Zeitpunkte des Zustandekommens oder des Scheiterns der Liebesbindungen zwischen den betreffenden Männern und Frauen in der Familie.


4. Der Leib eines Menschen fungiert wie ein Uhrwerk, das - innerhalb gewisser Grenzen - zeitgenau die unerlöste Thematik seiner Vorfahren anzeigt. Er tut dies in der Form einer Bezugnahme auf die vergangenen Relationen zwischen seinen Eltern und den Personen, in deren Stellvertretung dieser Mensch selbst den Eltern unmittelbar zu dienen hat. Die leibliche Befindlichkeit orientiert sich in genau bestimmbaren zeitlichen Rhythmen an der unerfüllten Liebe zwischen den Vorgängern des Kindes und seinen Eltern. Im Leben eines Menschen werden also die Themen der Beziehung zwischen den Eltern einerseits und den Vorfahren andererseits, deren unerfüllte Aufgaben dem Kind durch Zeugung und Geburt übertragen werden, nach dem Prinzip der Relationalität wirksam. Das heißt, sie treten - jeweils als lösbar oder unlösbar - in Erscheinung, sobald dieser Mensch so alt ist wie die Eltern waren, als die Erfüllung der Aufgaben versäumt wurde, und wenn er so alt ist wie jene Vorfahren, als sie die Erfüllung der ihnen zufallenden Aufgaben vermissen ließen. Es ist dann, als würde der betreffende Mensch zurückgetragen (lat. „relatus“) in jene Zeit, da sich die bis dato unerfüllte Aufgabe stellte.

Die Frage nach dem Befinden erweist sich unter den genannten Gesichtspunkten biografischer Analyse als die Frage nach dem Eigentumsrecht am Leibe. Alle Symptomatik bringt zur Geltung, dass die Eigentümlichkeiten des Leibes aus der Kindschaft, also aus der Zugehörigkeit zu den ursprünglich Nächsten dieses Menschen erwachsen. Sie entstammen dem ebenso dunklen wie unauslöschlichen primären Zweck jeder Zeugung: als verlängertes Organ im Dienst der Zeugenden zu fungieren, woran schon der etymologische Bezug erinnern sollte: dass aus „Zeugung“ in erster Linie „Zeug“ entsteht. Und „Zeug“ heißt ursprünglich „Hilfsmittel“. Diese Tatsache wird zwar gewöhnlich weder unter „Kindheit“ noch unter Kindschaft verstanden, ist aber deren Wesen und Wirklichkeit.


5. Die „Freiheit“ des Kindes ist das Spiel. Spielerisch kann das Kind alle Rollen annehmen, die ihm von den Eltern übertragen werden, ohne darunter ernstlich zu leiden. Der Ernst des Lebens erinnert dann aber daran, dass seine wahre Position nicht die Position derer ist, die es vertritt. Der Ernst des Lebens bestimmt sich sowohl zeitlich und örtlich als auch funktionell durch den Unterschied, der das Kind als Vertreter von den Vertretenen trennt. Dieser Unterschied entspricht zunächst nicht dem zwischen Original und Kopie, sondern er entspricht dem Unterschied zwischen dem ursprünglich Verantwortlichen und dem nachträglich Verurteilten. Die Frage nach dem Leibe bleibt also oberflächlich und unhistorisch, wenn sie nicht darauf gerichtet ist, den Ort und die Zeit der eigentümlichen Verrücktheit eines Kranken zu erkunden, die sich in der Art seiner Funktionsstörungen als Ausdruck einer Ungerechtigkeit des leiblichen Befindens darstellen und die nach der Gerechtigkeit geistiger Zuordnung verlangt.


6. Kinder sind zwar der Trost ihrer Eltern, aber sie sind allzu oft nur ein kleiner Trost im Vergleich zu dem großen Unglück auf der anderen Seite der Waage. Kranke leiden an der Unerfüllbarkeit von Aufgaben, die ihnen als den Kindern ihrer Eltern unbewusst auferlegt werden. Das Wesen von Kindheit liegt überhaupt in der Kindschaft, d.h. in einer unentrinnbaren Dienstbarkeit gegenüber den trostbedürftigen Eltern, in dem Drang (oder „Trieb“), für die Eltern „gut“ zu sein, der Liebe zwischen den Eltern, der sie ihre Entstehung verdanken, gerecht werden, d.h. den Eltern ersetzen zu müssen, was diesen fehlt. Diese Grundregel aus der Beziehung des Kindes zu seinen Eltern lässt sich auch so formulieren: Ein jedes Kind muss, einer ursprünglichen Abhängigkeit folgend, den Eltern als Stellvertreter für diejenigen Personen dienen, die die Eltern verloren haben, und ausgleichen, was im Verhältnis zwischen den Eltern und diesen Vergangenen unausgeglichen geblieben ist. Dort, wo eine Ausgleichsbewegung symbolisch versucht oder real vollzogen wird, spreche ich vom leiblichen Prinzip der Komplementarität. Die schicksalhaften Ausgleichsbewegungen beschreiben indirekt, d.h. nach Art einer Negativkopie, die Vorgeschichte der Familie und umfassen vor allem den - immer unwillentlichen - Versuch eines Ausgleichs von Fehlendem über Generationen.


7. Wenn man sich also die Familiengeschichte eines Patienten über Generationen in dieser Weise anschaut, dann sieht man, dass es in allen Familien so etwas gibt wie „unerledigte Geschäfte“ früherer Generationen und dass diese als fortgetragene Verantwortlichkeiten in den nachfolgenden Generationen unbewusst zur Geltung gebracht werden. Von den unerfüllten Aufgaben der Vergangenheit geht gleichsam ein Sog aus, der die Nachfolgenden leibhaftig, gewissermaßen mit Haut und Haaren, in den Bann zieht und ihnen eine ihnen eingeborene Schuldigkeit auferlegt. Dies Schulderbe erweist sich als ganz unabhängig von Bewusstsein und Kenntnissen der betroffenen Nachfolger. In ihr ist mit wissenschaftlicher Präzision aufzufinden, was in der christlichen Dogmatik als „Erbsünde“ oder was im Hinduismus als „Karma“ bezeichnet wird.


8. Im Leben von Kranken ebenso wie im Leben von Gesunden lässt sich eine Regelhaftigkeit von Stellvertretertum innerhalb von Familien beobachten: Zum Beispiel steht eine erste Tochter immer für ihre beiden Großmütter und setzt ihr Leben für das ein, was die Großmütter den Eltern dieser ersten Tochter nach deren Gefühl schuldig geblieben sind. Und eine zweite Tochter steht für die verlorenen Schwestern der Eltern und für die Partnerin(nen) des Vaters, vor allem für die eigene Mutter. Sie lebt also vor allem das „ungelebte Leben“ ihrer Mutter in Bezug auf den Vater. Für einen ersten Sohn gilt sinngemäß dasselbe wie für die erste Tochter. Und einem zweiten (bzw. dritten) Sohn werden ebenso vornehmlich jene Aufgaben übertragen, die auf der Ebene der Elterngeneration unerfüllt geblieben sind. Ohne hier schon auf die Einzelheiten der empirisch prüfbaren Stellvertretungsordnung eingehen zu können, stelle ich fest: Neben einer Grundordnung des Stellvertretertums gibt es zwar präzise begründbare Sonderfälle, diese ändern an dem allgemeinen Gesetz der Stellvertretung nichts, sondern spezifizieren es nur.


9. Die Frage „Warum gerade jetzt?“ ist die wichtigste, um das Symptomatische von leidvollen Stellvertretungen zu verstehen. Gänzlich ohne die Frage „Worum gerade hier?“ bliebe der Versuch einer Orientierung an der Ordnung der Zeit aber noch vergeblich. Die Ergänzung durch die Frage nach dem Ort ist eine doppelte. Erstens: Warum tritt die Erkrankung gerade an diesem Kranken in Erscheinung? Und zweitens: Warum zeigt sie sich gerade an diesen Organen dieses Kranken? Damit wird sowohl auf die Position des Kranken unter den Geschwistern als auch auf sein spezifisches Verhältnis zu den Eltern verwiesen. Und damit wird die Frage „Warum gerade so?“ schließlich darauf ausgerichtet, im krankhaften Leibgeschehens die Symbolik eines spezifischen Scheiterns als Komplementarität zu erfassen.


10. Die biografisch-phänomenologisch ausgerichtete Therapie ermöglicht das Verständnis unseres leiblichen Befindens. Sie verlangt ein eingehendes Betrachten lebenswichtiger Ereignisse in der Generationenfolge und setzt ein - die Grenzen der außerordentlichen Dienstbarkeit und Funktionalität der Kindheit überschreitendes - Verstehen leibhaftiger Verrücktheit voraus. Sie ist keine einfache Reflexion, kein Abbilden oder Spiegeln, das auf bloßer Rückwendung oder Umkehrung eines Strahlengangs beruhte. Vielmehr ist sie, um in der Metapher zu bleiben, ein Brechen der Strahlen des (als bloßes Aufscheinen gegebenen) Phänomens, ein Aufspalten, um die Weise des Erscheinens in der Tiefe zu differenzieren. Die Brechung lässt das Einfache als Vielfalt, etwa von Spektralfarben, erscheinen, die den Ansatz zu neuem Ordnen bietet.


11. Praktischer ausgedrückt: Eine jede Lebensäußerung und eine jede leibliche Befindlichkeit hat an sich immer schon Bedeutung (bzw. ist bedeutsam), und zwar insofern, als die Befindlichkeit unseres Leibes auf unsere Stellvertreterfunktion im leibhaftigen Dienst an den Eltern zurückgeht und Bezug nimmt auf das, was im Leben unserer Vorfahren verfehlt worden ist. Die Kontinuität, die zwischen den Generationen und Geschlechtern durch das Band der zeitlichen Relationalität erzeugt wird und die in der Komplementarität der Funktionen und Verantwortlichkeiten wirksam wird, ist (unter günstigen Bedingungen erst an der Schwelle des Erwachsenwerdens, aber unter ungünstigen Bedingungen auch schon im Kindesalter) pathogen insofern, als sie Unmögliches um den Preis der leiblichen Gebrechlichkeit erzwingt. Die Bedeutung jeglicher Erkrankung liegt in der Verwirklichung des Unmöglichen (V. v. Weizsäcker 1967, 249 ff), das sich in der Erkrankung zeigt: Das Symptom zeigt die Gebrechlichkeit unseres Leibes als Grenze unserer Macht an, indem es offen die Unmöglichkeit unseres leibhaftigen Strebens ausdrückt und zum heimlichen Symbol vergangener „Schuld“ und zukünftiger Schuldigkeit wird.


12. Was in Krankengeschichten als Ausgleichsbewegungen vergangener „Schuld“ symptomatisch in Erscheinung tritt, ist als unbewusstes Bemühen um die nachträgliche Lösung ererbter Aufgaben immer frustran und damit virtueller Natur. Aus diesem Grund sind solche Lösungsversuche ebenso maßlos wie aussichts- und besinnungslos. Sie folgen einem inneren Drang der szenisch Beteiligten, auch wenn - oder: gerade weil - sie lediglich Ausdruck von deren Miss-Verständnissen sind: Es wird nicht verstanden, wer oder was es sei, den oder das man da aneinander missen muss. Und so sucht man dann auch das Verständnis vergeblich. Die daraus resultierenden Symptome treten als blindlings vollzogene Äußerungen der die Generationen- und Geschlechtergrenzen überschreitenden Dynamik in Erscheinung, wenn in einer Familie die Toten aus dem Blick geraten sind, wenn die Augen der Lebenden für die Welt der Toten trüb geworden, wenn sie nicht von Licht der Geistigkeit erfüllt werden und wenn sich daraufhin das Verhältnis dieser Lebenden zu ihren Toten ganz aus ihrer unmittelbar leiblichen Dienstbarkeit heraus gestaltet - gewissermaßen als unbewusster Götzendienst. Durch die dargestellte, auf die geheime Komplementarität und Relationalität der Leiber eingehende Form der Untersuchung wird die wirkliche, nämlich leibliche Genese, d.h. der körperlich-seelische Erbgang der „aetia“ (der „Ursache“ und der „Schuld“), erkennbar, auf dem sich einem Kranken die Erkrankung überträgt.

Familien-Biografik

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