Читать книгу Fjodor M. Dostojewski - Rainer Buck - Страница 8
Entkommen in die Literatur
ОглавлениеImmer stärker kapselt sich Dostojewski auf der Ingenieursakademie von seinen Kommilitonen ab und zieht sich in die Welt seiner geliebten Lektüre zurück. Gleich zu Beginn der Zeit in Petersburg macht er die Bekanntschaft mit dem Dichter Iwan Nikolajewitsch Schidlowski. Der träumerische und beständig an Weltschmerz leidende Romantiker, sechs Jahre älter als Fjodor, wird für diesen zu einer prägenden Person und macht ihn mit verschiedenen literarischen Meisterwerken vertraut. Dostojewski bewundert zudem Schidlowskis eigene Kunst. Möglicherweise ist die Freundschaft zu dem jungen Dichter ausschlaggebend dafür, dass in ihm der Gedanke an eine eigene Autorenkarriere erwacht.
Zunächst aber ist er vor allem ein leidenschaftlicher Leser. Schiller bleibt weiterhin sein Liebling unter den Klassikern; sein Bruder Michail steht ihm in der Bewunderung des deutschen Dichterfürsten nicht nach und übersetzt später sogar Werke Schillers ins Russische. Auch die neuere Generation der deutschen Romantiker, insbesondere E. T.A. Hoffmann, studiert Dostojewski intensiv. Vom Philosophen Schelling übernimmt er begeistert die Ansicht, dass man die elementarsten Dinge des Lebens mit dem Herzen und nicht mit dem Verstand erkennt.
Von den bedeutenden russischen Autoren liest er neben Puschkin nun auch Gogol und Lermontow, die mit ihrem scharfen Blick auf die Miseren der russischen Gesellschaft Dostojewskis eigenes literarisches Schaffen nachhaltig beeinflussen werden. Beeindruckt ist er ebenfalls von Honoré de Balzac, George Sand und Viktor Hugo, Autoren zwischen Romantik und Realismus mit ausgeprägter Gesellschaftskritik. Daneben ist die Lektüre von Eugène Sues spannenden, aber allgemein der Trivialliteratur zugerechneten Fortsetzungsromanen wegweisend für Dostojewski. Aus dem angelsächsischen Sprachraum wäre (neben dem obligatorischen Klassiker Shakespeare) vor allem Charles Dickens zu nennen, der durch seine Romane den Blick der Leserschaft bewusst auf das Los der Armen und Rechtlosen in der Gesellschaft lenkt.
Dostojewski bewundert neben den Sprachgenies und den reinen Poeten mindestens genauso die Autoren, die ihre Werke als Mittel begreifen, bewusstseinsbildend zu wirken, und somit deutlichen gesellschaftlichen Einfluss ausüben. Ich bilde mich an den Charakteren der Schriftsteller, mit denen ich meine besten Stunden frei und froh verbringe, schreibt er im Sommer 1839 an Michail. Leidenschaftlich diskutiert er mit dem Bruder, der sich selbst an Gedichten und Dramen übt, über literarische Vorlieben und kann sich regelrecht ereifern, wenn ihre Geschmäcker auseinandergehen. Er verspürt die Sehnsucht, sich selbst in der Kunst zu verwirklichen, und beklagt die Fesseln, die ihm das Leben in der Akademie auferlegt. Mein einziges Ziel ist es, frei zu sein. Dafür opfere ich alles. Doch sehr oft überlege ich, was mir diese Freiheit bringen wird … Werde ich vielleicht allein sein in der namenlosen Menge? Ich kann mit alldem fertig werden, doch gestehe ich, es bedarf eines starken Glaubens an die Zukunft, eines großen Selbstvertrauens, will ich mit meinen gegenwärtigen Hoffnungen leben.
Trotz dieser Vorwehen einer späteren literarischen Karriere absolviert Dostojewski das ungeliebte Studium mit Erfolg. Er schafft die Zwischenexamen bis auf das Fach Mathematik im ersten Anlauf und kommt in den Genuss der vorgesehenen militärischen Beförderungen. 1841 rückt er in den Rang eines Ingenieur-Fähnrichs auf und erhascht damit immerhin einen kleinen Zipfel Freiheit. Er muss nun nicht mehr in der Kaserne wohnen. In den folgenden Jahren wird er in Sankt Petersburg immer wieder die Wohnung wechseln. Es entwickeln sich Freundschaften, hauptsächlich zu literarisch Interessierten. Er besucht Konzerte, nimmt Einladungen an, wird Teil von Salonrunden und kommt zum ersten Mal mit dem verhängnisvollen Glücksspiel in Kontakt. Sein Umgang mit Geld ist chaotisch. Wenn er an Mittel gelangt, zerrinnen sie ihm unter den Fingern, oder er muss damit alte Verbindlichkeiten begleichen. Oft hungert er klaglos tagelang. Einerseits versucht er minutiös zu haushalten und zu berechnen, was er zum Lebensunterhalt braucht, andererseits machen seine Großzügigkeit und seine mangelnde Scheu, sich ausnutzen zu lassen, alle persönlichen Budgetplanungen zunichte.
So eigenbrötlerisch er ist: Wenn die Unterhaltung auf Literatur kommt, ist er begeisterungsfähig und kann obendrein andere mitreißen. Er ist ein guter Deklamator von Gedichten und dramatischen Szenen. Seine Sensibilität kann sich allerdings mitunter schnell in Empfindlichkeit und beleidigtem Rückzug äußern.
Nach Abschluss der Akademie nimmt Dostojewski eine Stelle als Technischer Zeichner im Staatsdienst an. Von Anfang an hat er starke Zweifel, wie lange er es in seiner Stellung aushalten wird. Den Wunsch, sich als Literat zu verwirklichen, kann und will er nicht unterdrücken. Er denkt über das Wagnis nach, ohne Festanstellung und allein von der Literatur zu leben.
Dostojewski als Ingenieur (zwischen 1841/42)
Es ist nicht so, dass er weltfremd wäre. Er weiß um die Härte des wirtschaftlichen Überlebenskampfs – und wenn er sich in diesen Jahren mit Michail über literarische Pläne austauscht, spielen daneben immer geschäftliche Hoffnungen eine Rolle. Dostojewski möchte seine Petersburger Kontakte nutzen, die Schiller-Übersetzungen seines Bruders zu vermarkten. Selbst übersetzt er ein Buch des gleichfalls verehrten Balzac ins Russische: „Eugénie Grandet“, einen Gesellschaftsroman um Geld, Liebe, Generationskonflikte und menschliche Schwächen.
Sein Bruder vermittelt ihm eine übergangsweise Unterkunft bei dem deutsch-baltischen Arzt Dr. Alexej E. Riesenkampf und verknüpft damit die Hoffnung, dessen Ordnungssinn werde auf Fjodor abfärben. Doch der Hauswirt kann nur staunend konstatieren, dass Dostojewski es einmal fertigbringt, sich von ihm leihweise 5 Rubel zu erbitten, obwohl ihm erst tags zuvor aus Moskau 1000 Rubel aus seinem Erbe überwiesen worden waren.
Da Riesenkampf teilweise Patienten aus den ärmsten Schichten behandelt, knüpft Dostojewski in dessen Praxis erneut Kontakte zu Menschen mit harten Lebensschicksalen. Er schenkt einigen von ihnen Geld für Behandlungen und andere Nöte. Wieder ist er hier ein aufmerksamer Zuhörer, der am Los der Armen Anteil nimmt und später manches individuelle Schicksal in seinen Werken aufnehmen wird, um das soziale Gewissen seiner Leser zu stimulieren. Nicht von ungefähr wirken seine Darstellungen des Elends in den Petersburger Mietskasernen so authentisch.
Im Herbst 1844 droht dem Oberstleutnant Dostojewski eine längere dienstliche Versetzung, die ihn aus dem kulturellen Leben Sankt Petersburgs herausreißen würde. Dies nimmt er zum Anlass, sein Amt aufzugeben, obwohl ihn gerade zu dieser Zeit eine heftige Schuldenlast drückt. In seinem Brief an Michail vom 30. September heißt es: Ich nehme den Abschied, weil ich nicht länger dienen kann. Das Leben freut mich nicht, wenn ich meine beste Zeit so sinnlos vergeuden muss … Wegen meines weiteren Lebens musst Du Dir wirklich keine Sorgen machen. Ich werde immer ein Stück Brot finden. Ich werde höllisch viel arbeiten …“
Zu diesem Zeitpunkt hat er die Hoffnung, bald erste nennenswerte Einkünfte als Schriftsteller beziehen zu können, denn sein Roman-Debüt „Arme Leute“ steht vor der Fertigstellung. Dostojewski hofft auf einen Abdruck in einer recht bekannten Zeitschrift. So lange wie später kaum mehr an einem Werk hat er an dem literarischen Erstling gefeilt, denn er steht nirgends unter Vertrag und ist an keinen festen Liefertermin gebunden. Dennoch schwingt der ökonomische Gedanke mit. Der Roman ist recht originell. Ich bin bereits bei der Reinschrift. (Ich bin mit meiner Arbeit zufrieden.) Ich werde dafür vielleicht 400 Rubel bekommen; dies ist meine ganze Hoffnung.
Kunst um der Kunst willen, Schreiben, ohne schon einen Plan für die wirtschaftliche Verwertung seines Manuskriptes zu haben – das wird Dostojewski zeit seines Lebens nicht vergönnt sein. Wo andere immer wieder ein Manuskript überarbeiten können, ehe sie es für gut genug halten, um veröffentlicht zu werden, muss sich Dostojewski quälen, weil ihm Redaktionen und Verleger im Nacken sitzen und er nicht warten kann, bis die Muse ihn küsst. Stattdessen muss er schwitzend Vorschüsse abarbeiten, die schon längst wieder in die Taschen von Gläubigern geflossen sind. Ich bin ein proletarischer Schriftsteller, stellt er selbst fest. Statt wie andere Dichter edler Herkunft wie Tolstoi oder Turgenjew als Gutsbesitzer ein Auskommen zu haben, fließen für ihn Einkünfte aus dem elterlichen Erbe nur sporadisch; für Vorauszahlungen daraus nimmt er hohe Verluste in Kauf. Aber er ist es gewohnt, von der Hand in den Mund zu leben. Die verzweifelte wirtschaftliche Situation wird jedoch zunächst einmal kaschiert durch das Ansehen, das Dostojewski schon mit seinem literarischen Debüt erringt.