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Der Traum

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Die alten Götter gibt es noch, doch sie haben sich, enttäuscht von den Menschen, zurückgezogen und ziehen es vor, diese ihre Intrigen und Verleumdungen alleine austragen zu lassen.

Ich hatte Angst. Angst vor dem, was kommen würde. Angst vor der Gewissheit, vor einer Aufgabe zu stehen, die mich meine gesamte Kraft oder vielleicht sogar mein Leben kosten würde. Ich hatte ihn gesehen. Klar und deutlich konnte ich ihn vor mir sehen. Ich erhob mich leise vom Bett und ging hinaus auf die Terrasse.

Die kühle Luft des frühen Morgens trocknete die Schweißtropfen auf meinem Körper.

In solch einem Moment sehnte ich mich danach, wieder ein Kind zu sein. Ich dachte daran, wie ich damals am Ufer des Rheins gespielt hatte. Das sanfte Plätschern der Wellen am Ufer, das Rauschen des Windes in den alten Kastanien, es war wieder da. Wir spielten Versteck im Gebüsch rund um die Kirche meiner Heimatstadt Geisenheim im Rheingau, radelten um die Wette am Rhein entlang und plantschten im seichten Wasser des damals noch sauberen Flusses. Leicht und unbeschwert war meine Jugend, liebevoll umsorgt von meinen Eltern. Später war ich in die Firma meines Vaters eingestiegen und arbeitete als Antiquitätenhändler in der Tradition meiner Familie. Mein Leben schien gerade und vorbestimmt zu verlaufen, fast etwas langweilig.

Doch jetzt war ich ein Mann, dem die Götter ein zweifelhaftes Geschenk gemacht hatten. Der „Löwe von Ios“, der geheimnisvolle Inselheilige der griechischen Insel Ios, hatte mir die Gabe verliehen, die Vergangenheit zu sehen. Ich hatte seine Seele erlöst, indem ich das Geheimnis seiner Herkunft entdeckte. Doch zugleich hatte ich geschworen, es in meinem Herzen zu wahren.

Er ließ mich in die Vergangenheit sehen, wenn ich etwas berührte. Steine zum Beispiel haben die Eigenschaft, starke Emotionen wie ein Schwamm aufzunehmen und sie zu bewahren. Es gelang mir nicht aus eigener Kraft, doch wenn er es wollte, konnte ich Dinge sehen, die vor langer Zeit passiert waren.

Wenn ich einen alten Tempel berührte, konnte es passieren, dass ich in seinen Steinen die Geschichte seiner Erbauer erblicken konnte. Doch es geschah niemals aus meinem eigenen Willen, sondern stets war eine Aufgabe damit verbunden, die ich zu lösen hatte. Seit es Menschen auf diesem Planeten gab, passierten Dinge, für die ein Menschenleben allein nicht ausreichte, sie zu vollenden. Wie Strudel auf einer sonst ebenen Wasserfläche erschienen sie mir in Visionen. Voller Brüche und Unebenheiten war die menschliche Geschichte. Wenn der „Löwe von Ios“ es wollte, ließ er mich in die tiefste Vergangenheit sehen, doch war ich darüber nicht glücklich. Ich selbst hatte mich aber damals dazu entschieden, diese Fähigkeit zu bewahren, denn er hatte mir die Wahl gelassen.

Doch jetzt hatte ich einfach nur Angst. Meine Träume hatten sich erneut verändert. Immer wieder sah ich den geheimnisvollen Krieger bei der Vollendung seines Werkes, doch dessen Bedeutung war mir nicht bewusst. Ich ahnte nur, dass etwas bevorstand, dessen Tragweite ich noch nicht kannte. Ich hielt das Geländer der Brüstung meines Hauses umklammert und sah hinaus auf die Bucht des natürlichen Hafens von Ios. Direkt an der Straße, die am kleinen Strand von Plati Gialos entlang führte, hatte ich ein kleines, zweistöckiges Haus erworben. Es lag nur rund zwanzig Meter vom Strand entfernt, der jetzt um diese Jahreszeit noch menschenleer war.

Es war der Monat Mai im Jahr 2003, die Sonne hatte zusammen mit den kräftigen Niederschlägen des Winters die ganze Insel in frisches Grün gehüllt. Sogar am Strand war alles am Blühen, Vögel zwitscherten, Schwalben fegten pfeilschnell dicht über die Wasserfläche der Bucht. Die Touristen, die normalerweise die Insel bevölkerten, waren noch nicht eingetroffen. Das Bild im Hafen wurde vorläufig noch von einheimischen Fischerkähnen bestimmt, auch die Segelyachten waren noch selten.

Ich lebte jetzt hier, wenn ich nicht gerade in Ägypten weilte. Dort hatte ich zusammen mit meiner Frau Melina Ausgrabungen geleitet, die ich durch meine besonderen Fähigkeiten erfolgreich unterstützen konnte. Sie war Archäologin, wir hatten uns auf Ios kennengelernt. Wir waren nicht tatsächlich verheiratet, aber wir lebten zusammen und hüteten das Geheimnis der Herkunft des Inselheiligen. Meine alte Tätigkeit im Antiquitätenhandel hatte ich aufgegeben.

Zwei Arme schoben sich sanft unter den meinen hindurch und umarmten mich.

„Kalimera, agapi mou! Guten Morgen, Geliebter! Warum bist du schon auf, Felix?“, fragte sie mich, während sie sich von hinten an mich drängte.

Ich drehte mich um und erwiderte ihren zärtlichen Kuss. Ihre Anwesenheit verscheuchte die düsteren Gedanken der Nacht mit einem Mal. Diese großen, dunklen Augen sahen mich an. Ihr Gesicht war so schön, dass ich es einfach immer wieder mit Küssen bedecken musste. Ich umarmte sie und so standen wir zusammen; ohne ein Wort zu wechseln hielten wir uns umschlungen. Ich brauchte nichts zu sagen, sie wusste es auch so.

„Deine Träume sind zurückgekehrt, nicht wahr?“

„Ja. Sie sind wieder da.“ Sie nickte nur, vermied es aber, mich mit weiteren Fragen zu nötigen. Es war meine Entscheidung, ihr davon zu erzählen oder auch nicht. Wir gingen zurück ins Haus und duschten, zogen uns an und frühstückten in der warmen Frühlingssonne.

Melina erwähnte meine Träume nicht mehr und ich war froh, dass wir über andere Dinge sprachen. Wir unterhielten uns über die kommenden Wochen.

„Ich muss nach Athen und unsere Forschungsergebnisse im Institut abgeben, die können da die Feinarbeit machen.“ Ihre Augen blitzten schelmisch. „Wir haben dann frei bis zum Inselfest!“

Ich verstand ihre Freude. „Das haben wir uns redlich verdient! Wir sind lange genug im glühenden Sand der Wüste Ägyptens herumgekrochen, jetzt hätte ich es auch gerne etwas feuchter!“

„Geht mir genau so, Felix. Was hältst du von den Thermopylen?“

„Die Thermo- was??“

„Die Thermopylen in Zentralgriechenland! Das sind hohe Berge mit heißen Quellen! Sie sind seit dem Altertum als Heilquellen bekannt.“

Ich war neugierig. „Noch nie davon gehört. Aber wenn du möchtest, ich schau sie mir gerne an, Heilquellen können niemals verkehrt sein.“

Sie sah mich mit einem Leuchten in ihren Augen an, dass ich nur zu gut kannte.

„Ich finde die Landschaft unbeschreiblich schön, Felix“, sie streichelte meine Hand. „Wenn ich an unsere letzte Nacht denke, hast du Heilquellen nicht unbedingt nötig ...“, gurrte sie.

Ich lächelte zurück. „Dann warte mal ab, wenn ich erst in der Heilquelle gebadet habe ...“

Sie warf den Kopf empor und sah mich skeptisch an. „Wenn ich es mir recht überlege ..., schaden kann es ja nicht, du wirst ja auch älter!“

Das hatte gesessen! „Danke vielmals“, schmollte ich gespielt. Es war ein Wink mit dem Zaunpfahl, denn dieses Jahr würde ich meinen vierzigsten Geburtstag feiern. Melina hingegen war noch einige Jahre davon entfernt.

„Also los, du Faulpelz! Koffer packen, in vier Stunden kommt unsere Fähre nach Athen!“, kommandierte sie. Ich war es gewohnt, denn sie hatte vorwiegend traditionell erzogene Arbeiter in Ägypten als Helfer.

„En daxi, effendikos mou! In Ordnung, Chef! Wenn sie denn kommt.“ Wir konnten die Einfahrt des natürlichen Hafens von Ios von unserer Terrasse sehen. Wenn die Fähre am Horizont erschien, blieb immer noch genug Zeit die Koffer zu schnappen und zum Anleger zu gehen. Wir hatten sogar einen Chauffeur, mein alter Freund und Melinas Bruder, Noda. Er besaß eine Bar am Strand und hatte den gleichen Ausblick. Die griechischen Fähren sind von der Witterung abhängig, wenn der Wind zu stark blies, waren Verspätungen Normalität. Darum war es eher Lotto gespielt, sollte man auf die pünktliche Abfahrt setzen.

Ich sah mich noch einmal auf meiner Terrasse um. Wir waren erst vor einer Woche aus Ägypten angekommen, ich verließ Ios nur ungern wieder. Aber wir waren mit interessanten Ergebnissen im Gepäck gereist, die in Athen im archäologischen Institut auf ihre Auswertung warteten. Erst danach konnten wir uns eine Erholungspause gönnen. Also ging ich schweren Herzens nach innen und half Melina beim Packen. Dann begannen wir, die Fenster und Türen zu verriegeln.

Ungebetene Gäste gab es auf Ios eher selten, aber Vorsicht war oberstes Gebot, immerhin lagen hier im Haus Dokumente unserer Forschungsarbeit. Als alles getan war, begaben wir uns zu Noda's Paradise. Schon von Weitem sahen wir die hünenhafte Gestalt Nodas. Er war fleißig damit beschäftigt, seine Bar auf Vordermann zu bringen. Er sah erst kurz vorher auf und begrüßte uns auf seine Art, soll heißen, mit einer kräftigen Umarmung fast meine Rippen zu brechen.

„Felix, file mou! Mein Freund! Willst du uns schon wieder verlassen?“, dröhnte sein tiefer Bass.

„Und ich zähle wohl gar nichts?“ Melina boxte ihn in die Seite.

„Schwesterchen, wie könnte ich dich vergessen? Der kleine Yannis wird dich noch mehr vermissen, jetzt wo er schon drei Jahre alt ist!“

Melina schnaufte. „Ich weiß, ich weiß. Du musst es mir nicht ständig aufs Brot schmieren, dass ich den Geburtstag deines Sohnes verpasst habe. Wenn die Fähren irgendwann einmal pünktlich in diesem Land fahren werden, dann ...“

Ein lautes Schiffshorn unterbrach unsere Diskussion. Ungläubig starrten wir auf die einlaufende Fähre, die schon sehr nah am Anleger war.

„Then pistewo! Das glaub ich nicht! Schnell in mein Auto!“, forderte uns Noda auf. In beängstigender Fahrweise kutschierte er uns zum Anleger, den wir noch rechtzeitig erreichten, um voneinander Abschied zu nehmen.

„Zum Fest des Inselheiligen sind wir wieder da!“, rief ich Noda zu, als wir ablegten.

Langsam wurde unser Haus immer kleiner, nur noch die schmale Passage trennte uns vom offenen Meer der Kykladen. Ich hielt Melina im Arm, wir schauten zurück auf die kleine Bucht von Ios, als ich eine mir wohlbekannte Stimme hörte.

„Gehorche deiner Bestimmung, finde sie!“ Ich sah mich um, doch ich wusste, dass außer uns niemand an diesem Punkt des Schiffdecks stand. Ich zitterte leicht, Melina drehte sich zu mir. „Felix, ist etwas? Du zitterst ja!“

„Nein, nein“, beruhigte ich sie. „Es ist nur der Fahrtwind. Mir ist etwas kühl!“

Sie blickte mich einen Moment forschend an, dann drehte sie den Kopf von mir weg in Richtung des schäumenden Wassers. Das Heck drehte sich, der Bug des Schiffs zeigte in Richtung Athen. Ganz hinten am Horizont erkannte ich die Silhouette von Santorin. Als wir Ios kleiner werden sahen, konnte ich die Stimme in meinem Kopf nicht mehr los werden. Immer wieder hörte ich sie sagen: „Folge deiner Bestimmung!“

Die Tränen der Pythia

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