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Steine im Weg

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Wir verließen Athen Richtung Norden auf der E75 nach Thessaloniki. Wie immer war diese Straße hoffnungslos verstopft, obwohl sie zu den am besten ausgebauten Autobahnen des Landes gehörte. Doch sie war die wichtigste Lebensader dieser beiden größten Städte Griechenlands und dementsprechend stark befahren. Zum Entsetzen der Archäologen führte die Autobahn quer durch Attika, jeder Quadratzentimeter historischer Boden.

Eilige Grabungen hatten wertvollste Relikte davor behütet, für immer unter dem grauen Betonband zu verschwinden. Die Auswertung der Funde würde noch die nächsten Generationen an Altertumsforschern beschäftigen. Ganze Fabrikhallen hatte die Regierung angemietet, um alles unterzubringen.

Was besonders wertvoll schien, kam sofort in die Keller-Tresore des Nationalmuseums, es gab ja genug Zeitgenossen, die mehr an den materiellen Werten interessiert waren und reiche Abnehmer dafür suchten.

„Was soll die ganze Buddelei auf unsere Kosten!“, schimpfte ein Taxifahrer am Tag zuvor, als er uns vom Institut abholte. „Meine Familie stammt aus Néa Ionia. Da gräbt man den Garten hinterm Haus um und will Oliven pflanzen, dabei kommen eimerweise alte Scherben aus dem Boden! Wie soll da was Vernünftiges wachsen? Meiner Meinung nach müsste man das alles ins Meer kippen, dann ist Schluss!“

Der Fahrer wusste scheinbar nicht, wen er da spazieren fuhr. Vor allem wusste er nicht, wie nahe er dem Tode war ... Schnaubend vor Wut wollte Melina ihm antworten, ihr Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes. Beruhigend legte ich meine Hand auf ihren Arm und schüttelte unmerklich den Kopf. Spätestens beim Trinkgeld sollte dem Taxifahrer ein Licht aufgegangen sein; dieses Mal war es an ihm, ein beleidigtes Gesicht zu machen. Grußlos fuhr er davon.

„So ein gottverdammter, hirnloser Ignorant!”, platzte es aus Melina heraus. „Ich hätte nicht übel Lust, diesen Idioten anzuzeigen und seinen Garten noch einmal umzugraben!”, wetterte sie erregt.

Sie hatte ja recht, aber ich hatte die Erfahrung gemacht, dass selbst die Götter vergebens gegen die Dummheit kämpften. Das alles kam nun wieder hoch, als wir auf der Autobahn die Abfahrt von Néa Ioniá passierten.

„Soll ich abbiegen?”, grinste ich.

„Lass gut sein, sonst gibt es einen Mord hier!” Melinas Blick verfinsterte sich. „Ich kann solche Leute nicht verstehen! Es sind doch auch gerade deren Wurzeln, die wir zu Tage fördern, wollen die nichts über das Leben ihrer Vorfahren wissen?”

„Ich denke schon”, erwiderte ich. „Aber bitte nach dem Sankt-Florian-Prinzip!”

„Florian??”, echote Melina.

„Ich meine damit, Antike wunderbar, aber bitte nicht auf meinem Grund und Boden! Stell dir vor, du willst Feldfrüchte anbauen und findest beim Pflügen etwas Antikes. Schon hast du ein Dutzend Leute da, die ein Jahr oder länger auf deinem Acker alles aufwühlen ...”

„Ist schon klar, aber es gibt doch eine Entschädigung dafür!”, verteidigte sie ihre Zunft.

„Natürlich, aber ob sie ausreichend für den erlittenen Ausfall ist, kommt wohl auf die Seite an, von der man es betrachtet.”

Melinas Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, das konnte ich regelrecht spüren, obwohl ich mich auf den Verkehr vor mir konzentrieren musste.

„Felix Menzl! Ich frage mich langsam, auf wessen Seite du stehst!”

„Immer auf deiner, Glyka mou! Meine Süße!”, besänftigte ich sie. „Ich bin ja mal gespannt, was die Bauarbeiten für die olympischen Spiele im nächsten Jahr noch ans Tageslicht holen, die Athener werden da auf eine harte Probe gestellt.” Sie lenkte etwas versöhnlicher ein.

„Ja, du hast wirklich Recht. Ich möchte bis zum nächsten Jahr kein Bewohner Athens sein.” Wir konnten schon einige Baustellen sehen, an deren Stelle einmal Sportstätten für die olympischen Spiele stehen sollten. Doch bis jetzt konnten wir keinen großen Fortschritt erkennen. „Mach dir keine Gedanken, Felix!”, erriet sie diese. „Wir Griechen sind Meister der Improvisation! Bis nächsten Sommer ist das alles fertig! Das werden Spiele, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat!”

Tatsächlich mehrten sich die Stimmen im Ausland, die eine rechtzeitige Fertigstellung der Sportstätten bezweifelten. Aber nur im Ausland …

„Die einzigen, die sich über die schleppenden Bauarbeiten freuen können, sind wohl die Archäologen”, folgerte ich.

„Na klar, so mancher Bagger hat Grabstätten gefunden, die man wer-weiß-wo gesucht hat. Plötzlich sind so viele Grabungen wie nie zuvor genehmigt worden. Natürlich unter enormem Druck, denn die Organisatoren wollen weiter bauen!”

Unter den wachsamen Augen der Weltöffentlichkeit konnte man es sich natürlich nicht leisten, antike Stätten unter Beton verschwinden zu lassen. Ich möchte nicht wissen, wie oft so etwas in der Vergangenheit geschah, aber ich wollte Melina nicht weiter aufregen, darum behielt ich meine Zweifel für mich.

Das halsbrecherische Überholmanöver eines Propangas-Lasters zwang mich zu einer Vollbremsung. Melina rief dem Fahrer durchs geöffnete Fenster ein paar deftige Schimpfwörter zu, die ich nicht übersetzen möchte.

„Das war aber nicht gerade damenhaft!”, tadelte ich sie. „Ich wusste gar nicht, dass du solche Wörter in deinem Sprachschatz hast!”

„Da du sie verstehst, hast du sie ja wohl auch in deinem!”, konterte sie selbstbewusst.

„Okay, unentschieden!”, gab ich klein bei.

Langsam änderte sich die Umgebung. Wir erreichten Wiotia, auf deutsch „Böotien”, die weite Landschaft wurde zunehmend hügeliger, am Horizont waren hohe Gebirgsketten sichtbar. Wir verließen die Autobahn und nahmen unseren Weg bei Thira über Landstraßen bis nach Livadia. Der Verkehr nahm deutlich ab, dafür wurde die Straße immer enger, kurviger und nahm an Steigung zu. Überall konnten wir sehen, dass das Beben Bergstürze und Rutschungen ausgelöst hatte. Man hatte die Straße zwar freigeräumt, aber es bestand die Gefahr, dass weitere Stürze folgten.

Bei Livadia standen wir schließlich vor einer Straßensperre. Etwa dreißig Kilometer trennten uns von unserem Ziel. Eine Polizeistreife leitete den Verkehr um. Wir stiegen aus und gingen auf die beiden Polizisten zu.

Der Ranghöhere gebot uns schon von Weitem, den Weg freizumachen und weiter zu fahren, doch so schnell ließ Melina sich nicht abschütteln.

„Ti ejine? Was ist passiert?”, richtete sie ihre Frage an den Ordnungshüter.

„Wo waren sie gestern? Ein Erdbeben!”, belehrte uns der Polizist unwirsch. Melina blieb erstaunlich ruhig.

„Deshalb bin ich hier. Ich will den Zustand der Ruinen von Delphi begutachten.” Der Polizist spielte mit seiner Gesundheit, ohne dass er es wusste:

„Da müssen Sie ein anderes Mal wieder kommen! Die Straße ist gesperrt, basta! Und ob in Delphi ein paar Steine mehr oder weniger umgefallen sind dürfte doch keinen interessieren!”

Und ob es das tat! Melina war so ruhig wie ein Vulkan unmittelbar vor dem Ausbruch.

„Ich bin vom nationalen Institut für Archäologie und damit beauftragt, nach Delphi zu fahren und ...”

„Und wenn du der Präsident selber wärst, mein liebes Mädchen, ich lass dich da nicht durch! Da hängen ein paar mächtig große Felsbrocken über der Straße und niemand weiß, ob sie runter kommen. Ob von deinem Tempel noch was übrig ist oder nicht interessiert mich einen Scheiß! Also pack deinen Lover in dein Auto und verpiss dich!”

Dieser agressive Schwenk ins plumpe „Du” war zu viel für Melina. Ich bemerkte, dass das Blut aus ihrem Gesicht entwich. Wie viele Jahre gab es auf Polizisten-Mord? Sind die Gefängnisse in Griechenland so komfortabel wie die deutschen? Vielleicht würde ich Bewährung bekommen, wenn ich glaubhaft darstellen konnte, dass ich alles versucht hatte, es zu verhindern?

Während ich einen Schritt auf den Polizisten zu machte und vermitteln wollte, geschah das Unglaubliche: Melina drehte auf dem Absatz um und setzte sich wieder ins Auto, ohne ein Wort zu sagen! Ich glaubte an ein Wunder und war bereit, des lieben Friedens willen die Staatsmacht am längeren Hebel zu akzeptieren.

Doch voller Entsetzen sah ich sie im Handschuhfach des Autos wühlen. Hatte sie dort eine Waffe versteckt? Tatsächlich zog sie etwas daraus hervor, zu meiner Erleichterung war es nur ein Mobiltelefon. Das flaue Gefühl im Magen wich etwas. Während Melina telefonierte, hatten sich die Polizisten triumphierend in die sichere Umgebung ihres Wagens zurückgezogen.

Ich stand als einziger draußen und kam mir ziemlich nutzlos vor. Sollte ich nicht doch noch einmal die Chance nutzen und quasi von Mann zu Mann alles regeln? Wenn die Straße wirklich so unsicher war, taten die beiden Beamten nur ihre Pflicht. Allerdings war es noch lange kein Grund für ein solches Benehmen!

Ich beschloss, dass die Lage bestimmt auf sachlicher Ebene zu regeln war und trat an das geöffnete Fenster des Streifenwagens. Ich sah noch einmal hinüber zu Melina und bemerkte die seltsame Ruhe in ihrem Verhalten. Sie hatte ihre Arme hinter dem Kopf verschränkt, das Telefongespräch war beendet. Ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, sie wirkte sonderbar ruhig …

Ich atmete kräftig durch und wollte meine sorgsam gewählten Worte loswerden, als das Funkgerät des Wagens losplärrte. Der stumme Beifahrer und Kollege unseres überaus freundlichen Wortführers kurbelte einfach das Seitenfenster des Streifenwagens hoch und ließ mich stehen. Erregte Wortfetzen drangen nach draußen zu mir: „Kyrie??? Mein Herr??? Ali mia fora! Noch einmal von vorne ... Nè, amessos! Ja, sofort! ... Ke wäwia, natürlich, ... lipame para poli, tut mir sehr leid, then to ixera, das habe ich nicht gewusst, .... nè, nè! Ja, ja!”

Melina konnte unmöglich die Worte gehört haben, trotzdem hatte sich ihr Lächeln zu einem verdächtig breiten Grinsen gesteigert, während das blanke Entsetzen in den Mienen der Beamten stand. Sie winkte mich zu unserem Wagen zurück, ich nahm wieder neben ihr Platz und harrte der Dinge, die da kommen mussten.

Sichtlich betroffen und verstört entstiegen unsere Kontrahenten ihrem Fahrzeug, rückten ihre Uniformen zurecht und setzten sogar ihre Mützen auf. Sie wirkten blass und angeschlagen. Melina machte sich nicht die Mühe auszusteigen, ich folgte einfach ihrem Beispiel. Die Seitenscheibe kurbelte sie nur halb herunter, mit perfekt gespielter, gelangweilter Miene erwartete sie den Wortführer der beiden.

„Kyria Venizelou, ...” Er räusperte sich verlegen.

„Ich kann sie nicht verstehen, sprechen sie bitte lauter!”, provozierte sie ihn.

„Kyria Venizelou”, begann er noch einmal brav. „Es ist mir eine Ehre, Ihnen und Ihrem Begleiter unsere Eskorte nach Delphi anzubieten! Selbstverständlich ...” Es kostete ihn sichtlich Überwindung, weiter zu sprechen.

„Selbstverständlich möchte ich mich für die Äußerungen von meiner und meines Kollegen Seite in aller Form entschuldigen ...”

Komisch, von dem hatte ich bisher nicht einen Pieps gehört.

„Wenn Sie uns bitte folgen möchten! Bitte, bleiben Sie direkt hinter uns und achten Sie auf Steinschlag auf der Straße!” Sie entfernten die Straßensperre und winkten uns durch, hinter ihrem Fahrzeug verbarrikadierten sie den Weg erneut. Danach setzten sie sich vor uns und wiesen uns den Weg.

Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. „Wen hatten die denn am Funkgerät? Den Teufel persönlich?”

Melina griente. „So ähnlich! Der kommt doch auch wenn man ihn ruft ... Und der Esel von Polizist wollte vorhin nicht einmal den Präsidenten durchlassen. Das brachte mich auf die Idee, ihn anzurufen.”

Sie erzählte mir das so beiläufig, als ginge es um einen Plausch mit der eigenen Mutter am Telefon.

„Du willst mir weiß machen, dass du den Staatspräsidenten von Griechenland angerufen hast?!?”

„Nicht ganz!”, winkte sie bescheiden ab. „Aber den Polizeipräsidenten von Athen. Das reicht doch, oder?”

Nicht zu fassen! Meine Melina klimpert kurz mit den Wimpern, und schon steht der Polizeipräsident Athens stramm? Das klappt offensichtlich auch am Telefon... Aber so war sie eben, ich konnte ihr ja auch nichts abschlagen. Ich resignierte.

„Ich meine, das ist ja nicht so wichtig”, bemerkte ich ironisch. „Aber woher bei allen Göttern hast du seine Nummer?”

„Wir sind um ein paar Ecken verwandt, habe ich dir das nicht erzählt?”, fragte sie mit unschuldigem Augenaufschlag.

„Nein, hast du nicht!!! Ich glaube langsam, dass es einfacher ist, dem Wüstensand Ägyptens seine Geheimnisse zu entlocken als dir!”, schmollte ich.

Sie kraulte meinen Nacken auf diese ihr eigene Weise, dass es mir eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken jagte

„Du musst halt noch ein bisschen tiefer graben, Felix!”, gurrte sie.

„Warte ab, bis wir in Delphi sind!”, drohte ich ihr. Fordernd strich ihre Hand an meinem Körper herab nach unten und blieb auf meinem Schoß liegen, sodass ich Mühe hatte, mich auf die Straße zu konzentrieren.

„Nun ja, bei der einen oder anderen Säule wird es kein Problem werden, sie wieder aufzurichten!”, stellte sie zufrieden fest.

Unser erotisches Geplänkel wurde von den Steinen unterbrochen, die das Beben auf die Straße gerollt hatte. Ich war zuerst etwas abgelenkt gewesen und holperte über einen größeren Brocken, der heftig gegen den Unterboden unseres Wagens schlug. Wir waren uns schnell einig, dass es sinnvoller war, sich mehr auf die Straße zu konzentrieren. Steil ansteigend forderte sie tatsächlich meine gesamte Aufmerksamkeit.

Tief durchschnitt das Pleistos-Tal das Parnass-Massiv, die Felsenkulisse war mehr als beeindruckend. Die Straße schmiegte sich eng und kurvig an den schroffen Stein, dessen frisch aufgerissene Wunden überall sichtbar wurden. Weiß oder Rot-Braun leuchtete frisch abgebrochenes Gestein im Gegensatz zu den sonst grauen Felsen.

„Mir ist gar nicht wohl in meiner Haut, Melina”, kommentierte ich meine Eindrücke.

„Mir auch nicht, Felix. Wer weiß, was da alles beim Heiligtum runter gekommen ist!”

„Ich meine eigentlich unsere eigene Situation! Die Felsbrocken da über uns mag ich nicht auf unserem Dach haben!”

„Ach was! Die Polizei macht uns den Weg frei!” Auch eine Art, im dunklen Wald zu pfeifen ... Dass meine Befürchtungen nicht ganz unbegründet waren, bewiesen unzählige faust- bis kopfgroße Steine, denen wir ausweichen mussten. Dem Polizeifahrzeug vor uns ging es ähnlich, schlingernd suchten sie sich freie Bahn. Ich wäre zu gerne Gast bei der Diskussion gewesen, die da vorne gewiss ablief.

Irgendwann bogen wir um eine Kurve, als Melina mich aufgeregt am Arm zupfte.

„Felix, Felix! Da ist es! Wir sind in Delphi!” Offen gestanden war mein erster Eindruck alles andere als überwältigend. Alles, was ich sah, waren drei einzelne Säulen auf einer kleinen Ebene, die von einem ehemals runden Tempel übrig geblieben waren, überragt von Fragmenten des Architravs darüber. Melina gebot mir anzuhalten, ohne die Augen von dem Tempelchen zu nehmen. Fast wäre sie beim Aussteigen vor den Polizeiwagen gelaufen, der inzwischen gedreht hatte. Durch das geschlossene Fenster verabschiedeten sich die Polizisten mit süßsaurer Miene.

Melina beachtete sie nicht weiter, sondern betrat den schmalen Pfad, der uns auf die Ebene des Tempels führte. Ich zog den Schlüssel des Wagens ab und eilte ihr hinterher.

Die kräftigen Strahlen der Frühjahrs-Sonne hatten auch hier das Grün fast mannshoch sprießen lassen, darum sah ich Melina erst wieder, als ich selbst die Tempel-Ebene erreicht hatte. Sie stand vor den Resten des Tempels und strich über die marmornen Säulen. Soweit ich es beurteilen konnte, lag nichts herum, was erst jetzt umgefallen war. Weitere Steine auf dem Boden wirkten auf mich so, als seien sie sortiert abgelegt worden. Ich konnte die Grundrisse von vier größeren Gebäuden identifizieren, vielleicht waren es Tempel, in denen entweder die Götter oder auch die römischen Kaiser verehrt wurden.

Da ich zuvor noch nie in Delphi gewesen war, konnte man mein Wissen mehr als lückenhaft bezeichnen. Ich wartete auf meine Fremdenführerin und deren Erläuterungen, aber Melina studierte noch immer die Struktur der Säulen und suchte nach Schäden. Wenn das alles sein sollte, was von Delphi noch übrig war, konnte ich nicht so ganz nachvollziehen, wie man über drei Marmorsäulen eine Doktorarbeit schreiben konnte. Doch diese Ansicht wollte ich gewiss für mich behalten, ich hielt das für klüger.

„Scheint ja noch alles da zu stehen wo es hingehört, oder?”, versuchte ich das Gespräch wieder in Gang zu bringen.

„Ja ..., sieht so aus ...” Gedankenverloren strich Melina über einen Riss im Gestein.

„Fein! Dann können wir ja vielleicht heute noch zu den Thermopylen fahren und unseren Urlaub antreten!”, freute ich mich. „Wenn ich das auf der Karte richtig gesehen habe, sind wir ja nicht ganz so weit weg davon!”

Melina sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren. „Felix, warst du schon mal in Delphi?”, begann sie mein Wissen zu prüfen.

„Nein, ich habe keine Ahnung. Ich habe mir das alles hier etwas größer vorgestellt. Alles was ich weiß ist, dass das Orakel von Delphi in der ganzen antiken Welt berühmt war. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass das alles gewesen sein soll!”

Melina nickte. „Zumindest mit der Größe hast du recht, Felix! Wir sind hier noch nicht im Orakel, wir sind in der Marmaria! Das hier ist das Heiligtum der Athena Pronaia!”

„Moment, Moment! Alles noch einmal zum Mitschreiben! Marmaria klingt nach Marmor, richtig?”

„Richtig! Hast in der Schule gut aufgepasst! Der Name wird von den Marmortempeln abgeleitet, die hier einst standen. Am schönsten ist die Tholos erhalten!” Damit meinte sie den Rundtempel vor uns, von dessen einstmals zwanzig Säulen gerade mal noch drei standen …

„Gut erhalten? Na ja, ich kann mir zumindest vorstellen, wie er einmal ausgesehen hat.”

„Das meine ich! Von den anderen Tempeln sind gerade einmal die Fundamente erhalten, der Rest bleibt unserer Fantasie überlassen. Auf alle Fälle ist die Marmaria das Heiligtum der Göttin Athene, und „Pronaia” bedeutet „die vor dem Tempel”, soll heißen des Apolls Tempel.”

„Wir sind also noch gar nicht beim Orakel angekommen? Ist das größer?”, fragte ich, langsam neugieriger werdend.

„Etwas, aber lass dich überraschen. Wir kommen gleich dort vorbei”, machte Melina es richtig spannend.

„Hab ich dich richtig verstanden, vorbei?” Mir kamen erste Zweifel an einem nahen Ende unserer Mission.

„Sieh mal auf deine Uhr, Felix. Wir haben fast drei Uhr am Nachmittag. Das letzte, was wir gegessen haben, war unser Frühstück in Athen. Ich würde vorschlagen, dass wir uns ein nettes Zimmer suchen und etwas zum Essen dazu.”

„Wie lange brauchst du denn für deine Untersuchung?”, fragte ich etwas ungeduldig.

„Wenn alles glatt läuft, vielleicht ein bis zwei Tage ...”

„Und falls nicht, können wir froh sein, wenn wir zum Fest unseres Inselheiligen auf Ios wieder zurück sind, oder?”, knurrte ich. Sie schlug die Arme um mich und küsste mich innig.

„Ach, Felix, du bist doch bei mir! Was soll denn schief gehen? Oder ist da etwas, was ich wissen sollte?”

Sie roch den Braten förmlich, ich konnte keine Geheimnisse vor ihr haben.

„Na ja, also ...”, druckste ich herum.

„Du hast wieder neue Visionen, oder?”, traf sie den Nagel auf den Kopf.

„Ja. Ich glaube, ja. Aber sie sind so unklar, so verschwommen. Ich kann so recht nicht daraus schlau werden. Manchmal denke ich fast, es sind einfach nur Träume, vollkommen ohne Bedeutung.”

Die aktuellen Geschehnisse mit dem Beben und der Slalomfahrt um die Felsstürze hatten mich auch so stark abgelenkt, dass ich meine neuerlichen Visionen regelrecht verdrängt hatte.

„Hat das Beben mit deinen Träumen etwas gemeinsam?”, forschte Melina weiter.

„Ich denke nicht, aber so langsam glaube ich nicht mehr an Zufälle. Jetzt wo du es sagst, ist es irgendwie komisch. Da ich die Visionen noch nicht deuten kann, weiß ich auch nicht, wohin sie mich führen. Aber ich habe auch nicht das Gefühl, dass ich hier verkehrt bin.”

Sie grübelte. „Es ist so, als wenn man Antworten bekommt, und muss die Fragen dazu finden ... Warum hast du mir nichts gesagt?”

Diese Frage schwebte die ganze Zeit wie ein Damoklesschwert über mir.

„Ich wollte nicht, dass du dir Gedanken machst. Jeder normale Mensch hat einmal wirre Träume, warum soll ich dich jedes Mal verrückt machen, vielleicht ist es am Ende doch nur ein Traum.“

Sie ließ nicht locker. „Seit wann bist du dir sicher?”

„Sicher? Überhaupt nicht. Aber als wir Ios verließen, hat ER zu mir gesprochen. Da war es mir klar, dass bald etwas passiert.”

„Der Löwe von Ios hat zu dir gesprochen? Du hast mir auf Ios von deinen Träumen erzählt, aber wenn der Inselheilige zu dir gesprochen hat, dann kannst du sicher sein, dass eine neue Aufgabe auf dich wartet. Doch wo?” Sorgenvoll sah sie mich an.

Ein dumpfes Rumpeln unterbrach uns, dass schnell lauter wurde und aus der Richtung des Tales kam, aus der wir gekommen waren. Wie von einer unsichtbaren Hand wurden unvermittelt Bäume und Felsen mit unvorstellbarer Wucht nach unten gerissen. Auf einer breiten Schneise donnerten etliche Tonnen Geröll keine hundert Meter von uns ins Tal. Schlagartig war uns klar, dass eine höhere Macht ihre schützende Hand über unsere kleine Karawane gehalten hatte.

Der Boden unter unseren Füßen vibrierte von der Gewalt des Naturschauspiels. Dort wo noch vor einer Minute eine Straße gewesen war, gähnte jetzt eine klaffende Wunde in der Flanke des Berges, die sich bis tief unter uns ins Tal des Pleistos zog.

Sichtlich geschockt hielten wir einander fest. „Ich glaube, wir sollten von hier verschwinden, Melina!”, fand ich als Erster wieder meine Sprache. Sie nickte nur stumm und ließ sich von mir zum Auto zurückführen. Es stand unversehrt dort, als sei nie etwas passiert.

„Für heute haben wir genug gesehen”, fand Melina auch wieder Worte. „Lass uns fahren.”

Ich legte den Gang ein und gab Gas. Wir bogen um eine lang gestreckte Rechtskurve und konnten links, etwas tiefer unter uns, eine lang gestreckte antike Anlage sehen.

„Das antike Gymnasion”, erklärte Melina, bevor ich fragen konnte. „Das war nicht nur ein sportliches Zentrum, sondern auch ein kultureller Treffpunkt damals. Es gab da Laufbahnen, Ringschulen, Badeanlagen und sogar eine Bibliothek!”

Ich fuhr langsam genug, um einen Blick zu erhaschen, doch schon forderte die nächste Linkskurve Konzentration. Eine alte Brunnenanlage kam in unser Blickfeld.

Frauen in weißen Gewändern schöpften Wasser und reinigten sich rituell, während Priester betend ihre Hände zum Himmel erhoben. Sie erflehten den Segen des einen Gottes, der ihnen Antwort gab und sie sehen ließ.

„FELIX!!!” Melinas Schrei holte mich zurück in die Gegenwart. Der rechte Reifen unseres Autos holperte auf dem Seitenstreifen der Straße, während der Felsen keine Handbreit an Melinas Fenster vorbei schnitt. Mit einer heftigen Bewegung holte ich das Auto zurück auf die Straße.

Schon musste ich wieder gegenlenken, um nicht über den Weg hinaus in den Abgrund zu schleudern. Etwas zu heftig trat ich auf die Bremse und brachte uns schlingernd quer auf der Straße zum Stehen. Aus Melinas Gesicht war jede Farbe gewichen.

„Was ist passiert, Felix?”, stieß sie aufgeregt hervor. Erst beim zweiten Versuch gelang es mir, einen Ton zu sagen, mein Hals war wie zugeschnürt.

„Es war wieder da, ich sah Frauen und Priester an der Quelle!”, stieß ich hervor.

„Das ist die alte Kastalia, Felix. Dort vollzog man die rituelle Waschung vor dem Orakelspruch. Doch heute fließt dort kein Wasser mehr. Es speist ein Reservoir, dass das moderne Dorf versorgt.”, informierte mich Melina, immer noch leichenblass.

„Aber ich habe die Frauen und Männer gesehen! Und das Wasser auch! Dann war es eine Vision.”, stellte ich aufgeregt fest.

„Die uns beinahe das Leben gekostet hätte!”, stellte Melina nüchtern fest.

So kurz vor Delphi wurde es mir klar, dass dieser und kein anderer Ort der richtige war, an den mich meine Bestimmung führte. Ich hatte allerdings nichts dagegen, dass wir die Plätze tauschten und Melina den Rest der Strecke steuerte. Ich versank so tief in Visionen, dass ich es nicht bemerkte, als wir das Orakel passierten.

Die Tränen der Pythia

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