Читать книгу Die Tränen der Pythia - Rainer Kilian - Страница 6
Athen
ОглавлениеBei unserer Ankunft in Piräus stand die Sonne dicht über dem Horizont und tauchte den Hafen und seine Luxusyachten in goldenes Licht. Wie lange war ich nicht mehr hier gewesen? Vor vielen Jahren war ich hier zu einem Segeltörn durch die Kykladen gestartet, schönstes Seglerwetter begleitete uns. Blauer Himmel und konstanter Wind, doch plötzlich zogen dunkle Wolken auf, der Wind frischte auf und wandelte sich zum Sturm. In letzter Sekunde rettete uns Melinas Bruder Noda vor dem Schiffbruch, indem er uns in die rettende Bucht von Ios lotste. Eine tiefe Männerfreundschaft war daraus gewachsen, die in der unverbrüchlichen Treue zum „Löwen von Ios“, dem Inselheiligen, gipfelte.
„Felix, hast du Oliven in den Ohren? Kommst du endlich?“ Melina war ungeduldig. „Unser Bus wartet nicht, und du zuckelst hier träumend durch die Gegend!“, tadelte sie mich.
„Ich komme ja schon, geht das auch ein bisschen freundlicher?“, grummelte ich. Versöhnlich drückte sie mir einen Schmatzer auf die Wange.
„'Tschuldigung, ich hab immer noch den Ton aus Ägypten drauf, kannst du mir verzeihen?“ Sie klimperte mit den Wimpern und sah mich aus ihren großen Augen an.
„Angenommen“, lenkte ich ein.
„Also dann, nimm die Koffer und komm!“ Sie ging voraus, während ich das Gepäck tragen „durfte“... Sie war einfach unverbesserlich! Aber dafür liebte ich sie.
Wir erreichten Athen, als es bereits dunkel war, doch die Stadt pulsierte rund um die Uhr voller Leben. Wir entledigten uns im gebuchten Hotel von unserem Gepäck und reihten uns voller Freude auf den kommenden Abend in die Ströme der lärmenden Menschen auf den Straßen ein. Der Verkehr füllte die Straßen mit einem konstanten Geräuschpegel.
Die Lichter machten die Nacht zum Tag, Athen schlief nicht. Unzählige Menschen bevölkerten die Bürgersteige, viele Einheimische kamen von der Arbeit oder gingen zur Nachtschicht. Sie vermischten sich mit den Besuchern Athens, meistens Touristen, die zum Abendessen in eines der unzähligen Restaurants der Altstadt strebten. Die „Plaka“, so hieß sie, war der Anziehungspunkt Nummer eins. Millionen Griechenland-Fans lernten hier die ersten Schritte des unvermeidlichen Sirtaki zu tanzen. Die Griechen selber gingen traditionell erst später essen.
Die „Volta“, das sehen-und-gesehen-werden, begann erst nach neun Uhr abends. Dann führte man alles vor, was man so besaß; die griechischen Frauen waren bekannt dafür, auch bei deutlichen Plus-Temperaturen ihren Nerz auszuführen.
Unabhängig davon kochte die Stimmung in den Restaurants dann regelmäßig über. Aber anders als vielleicht in Deutschland äußerte sich das überschäumende Temperament der Griechen in wilden Tänzen auf dem Tisch, bei denen einiges an Geschirr zu Bruch ging. Doch kein Mensch nahm Schaden, bis auf den Kater am nächsten Morgen vielleicht.
Melina schüttelte nur ungläubig den Kopf über die etwas „overstylten“ Damen der griechischen Gesellschaft, aber an der allgemeinen Stimmung in unserem Lokal nahmen wir gerne teil. Wir saßen auf der Terrasse eines Restaurants mit Blick auf die Akropolis, die majestätisch und unbeeindruckt über dem ganzen Treiben thronte.
Es dauerte nicht besonders lange, bis Melina und ich in der Reihe der Tänzer landeten und unsere Füße über Tische und Bänke wanderten.
„'Opa! 'Opa!“, feuerten wir uns alle gegenseitig an, ja keine Pause zu machen. Bis tief in die Nacht hinein ließen wir uns von der Musik in ferne Welten entführen, der griechische Wein tat sein Übriges dazu, dass wir im Hotel eng umschlungen und glücklich einschliefen.
Am nächsten Morgen hatte ich schon einige Probleme mein unrasiertes Gesicht im Spiegel zu entknautschen, während Melina wie das blühende Leben dem Bett entstieg. Ihr Anblick half mir allerdings über die Anlaufschwierigkeiten hinweg.
„Kalimera, Felix! Isse kala? Guten Morgen Felix, bist du in Ordnung?“ Ich bewunderte ihre Kondition, der die vergangene Nacht keinen Schaden zugefügt hatte.
„Ne, ime kala! Ja, ich bin okay! Was ist mit Frühstück?“
„Das wartet unten im Erdgeschoss auf uns! Wir müssen uns beeilen, im archäologischen Institut sind alle schon gespannt auf unsere Ergebnisse!“, trieb sie mich an.
„Ja, ja, schon klar. Das lag aber alles mehr als dreitausend Jahre im Sand, da werden doch noch fünf Minuten Zeit für einen Kaffee sein ...“, bemerkte ich noch etwas müde. Melina sagte nichts mehr, statt dessen sorgte sie dafür, dass ich mein Frühstück genießen konnte. Sie wusste, dass es mir danach besser gehen würde, so war es auch tatsächlich. Gut gelaunt begaben wir uns durch das Gewimmel Athens ins Institut, wo Melina ungeduldig erwartet wurde.
Ein weißhaariger Herr empfing uns in seinem Arbeitsraum, ein Büro, das bis zur Decke mit riesigen Büchern vollgestopft schien. Auch sein Schreibtisch in der Mitte des Raumes war von Bergen aus Papier begraben.
„Kyria Venizelou, Kyrie Menzl! Kalos sas frika! Herzlich willkommen!“
Melina stellte uns vor. „Apo do Professor Dimitris Polatidis, Felix Menzl!“
„Chero me poli, Kyrie Polatidis, ich freue mich, Professor!“ Es war das erste Mal, das ich ihn persönlich traf, Melina hatte bei ihm studiert.
„Sie war meine beste Studentin, Herr Felix. Und von Ihnen habe ich auch schon viel Gutes gehört! Wenn Melina jemanden lobt, dann brauche ich kein anderes Urteil mehr.“
Er sah genau so aus, wie man sich einen Gelehrten vorstellt, schmales Gesicht, von der Sonne gegerbte Haut und zwei hellwache Augen, gekrönt von einer Nickelbrille.
„Ich danke Ihnen, Professor. Aber Melina ist die Chefin! Ich bin nur ihr Assistent!“
„Nun, dafür haben Sie aber einige zuvor unentdeckte Grabstätten gefunden, ohne dass Sie Ägyptologie studiert haben. Sie scheinen über ein erstaunliches Talent zu verfügen!“ Ich räusperte mich verlegen, da ich nicht wusste, ob dies lediglich eine Feststellung oder eine forschende Frage war. Woher meine besondere Fähigkeit stammte, wussten nur Melina und Noda. Und der Inselheilige, natürlich.
Ehe mein Schweigen peinlich wurde, unterbrach es Melina.
„Professor, wir haben in Ägypten tatsächlich einige Dinge zu Tage gebracht, die Sie interessieren dürften!“
Sie öffnete ihren Aktenkoffer und zeigte ihm die Abschriften der Hieroglyphen, die wir in den besagten Grabkammern entdeckt hatten. Sie verbrachten einige Zeit damit, sie zu übersetzen und stritten über ihren Inhalt.
Bis zum heutigen Tag ist die Bedeutung verschiedener Hieroglyphen oder deren Kombination untereinander strittig, sodass man sie unterschiedlich deuten konnte.
„Melina, ich glaube, dass Sie da etwas großzügig interpretieren!“, tadelte sie Professor Polatidis. Das Glühen in ihren Augen kannte ich nur zu gut, sie duldete nur selten Widerspruch. Doch was sollte sie auch sagen? Meine Visionen konnte sie nicht als Beweis vorlegen. Sie holte tief Luft und schluckte, dann sprach sie mit mühsamer Beherrschung.
„Professor. Stellen Sie sich doch einmal vor ...“
Ein dumpfes Grollen unterbrach sie, das schnell anschwoll. Gleichzeitig begann der Boden unter unseren Füßen zu schwanken. Im ersten Moment glaubte ich an eine Nachwirkung der vergangenen Nacht, doch schon krachten die ersten Regale mit Büchern auf den Boden, die Papierstapel auf dem Schreibtisch des Professors schwankten wie in Zeitlupe hin und her und kippten um.
„Ein Erdbeben! Raus hier, schnell!“, rief er uns zu, wie auf dem Deck eines Schiffes im Sturm wankten wir zum Ausgang, während ein Regal nach dem anderen umfiel. Nur wenige Sekunden währte das Beben, dann war alles gespenstisch still. Das Treppenhaus war ganz in der Nähe, ungewöhnlich diszipliniert verließen alle Bewohner das Institut ohne Panik und sammelten sich auf der Straße. Noch einmal spürten wir das Schwanken, wie Wellen auf dem Wasser bewegte sich der Boden, dann war es vorbei.
Jetzt machte sich die angestaute Erregung frei, alle schrien durcheinander, einige weinten oder sanken still in sich zusammen. Melina hielt sich an mir fest, Professor Polatidis war in der Menge verschwunden. In ganz Athen waren die Sirenen der Polizei und Rettungsdienste zu hören.
„Felix, das war knapp, wenn das Beben stärker gewesen wäre, hätten wir das Haus nicht lebend verlassen.“ Ich sah ihr die Anstrengung und Sorge an.
„Das war mein erstes Beben, das ich erlebt habe, Melina, ich habe mehr Angst um dich gehabt als um mich selbst.“
„Das war kein besonders starkes Erdbeben, Felix, ich habe schon öfter welche erlebt. Ich denke, dass keine großen Schäden entstanden sind.“
In der Tat begaben sich schon wieder einige der Umstehenden in die Gebäude zurück, so als sei die Mittagspause zu Ende. Nur wenige mussten noch getröstet werden, denen der Schreck noch tief in den Gliedern saß. Ich selbst wäre wahrscheinlich auch in Panik verfallen, doch die Ruhe der Athener war ansteckend, die Gebäude waren äußerlich auch noch in Takt. Die Sirenen der Polizei wurden auch schon stiller, wenigstens schien es mir so. Ich folgte Melina zurück ins Institut, wir benutzten allerdings die Treppe statt der Aufzüge. Diese waren erst einmal außer Betrieb.
Professor Polatidis war bereits dabei, das Chaos in seinem Büro zu ordnen, alles lag durcheinander. Er bemerkte meine ängstlichen Blicke, als ich mit Melina hereinkam.
„Keine Sorge, Kyrie Menzl. Diese Wände haben schon stärkere Erschütterungen ausgehalten.“
„Da bin ich aber beruhigt ...“, versicherte ich wenig glaubhaft. Allerdings schienen die Bewohner Athens in solchen Situationen geübt zu sein.
„Wir führen regelmäßig Übungen durch, um für Erdbeben gewappnet zu sein“, bestätigte er meine Vermutungen.
„Gegen ein starkes Erdbeben hilft die intensivste Übung nichts, da sind wir natürlich machtlos. Aber die meisten Toten bei so einer Naturkatastrophe gibt es durch die Panik. Menschen springen aus dem Fenster oder trampeln wild durcheinander. Die Aufzüge sind tabu, genau wie bei einem Brand. Wenn der Strom ausfällt sitzt man wie eine Ratte in der Falle. Glas ist gefährlich, also weg vom Fenster! Eine Tür bietet Schutz, der Sturz in der Wand darüber ist stärker als die übrige Mauer. Doch wenn es geht, verlassen Sie das Gebäude so schnell wie Sie können und suchen Sie einen freien Platz, entfernt von einstürzenden Häusern. Zum Schluss noch ein brutal klingender Rat: Jeder ist sich selbst der nächste! Kein Herumlaufen im Gebäude und Suchen von anderen Kollegen oder Freunden, die sind vielleicht schon längst draußen. Jeder Stoß kann das Gebäude zum Einsturz bringen, dann können Sie sowieso nicht helfen! Also raus!“
Ich schluckte betroffen. „Ich werde es beim nächsten Mal beherzigen, danke sehr, Professor.“
Während er mir die Verhaltensregeln dozierte, hatte er unter den Haufen Papieren um seinen Schreibtisch nach dem Telefon gesucht und dieses wieder auf seinem Platz postiert. Melina stand genau so wie ich etwas hilflos herum, da er unsere Mithilfe vehement ablehnte.
„Auch wenn es nicht so aussah, aber ich habe eine gewisse Ordnung in meinen Unterlagen. Wenn jemand anders jetzt alles auf einen Haufen wirft, finde ich gar nichts mehr. Darum seien Sie mir nicht böse, wenn ich Ihre Hilfe ablehne, im Grunde ist das jetzt wie bei einer archäologischen Grabung, die einzelnen Schichten liegen jetzt lediglich umgekehrt auf dem Boden.“
Ich musste an meinen eigenen Schreibtisch denken und lächelte in mich hinein. Die umgefallenen Regale ließ er mich dann doch aufrichten, Melina half mir dabei und schob die zugehörigen Bretter hinein. Auch die Bücher durften wir einräumen, da konnten wir kaum Schaden anrichten. So gelang es uns in kurzer Zeit, den Raum wieder einigermaßen herzurichten.
„Wird das Gebäude denn nicht auf Schäden untersucht, bevor überhaupt jemand hinein darf?“, wollte ich von Melina wissen. Sie winkte ab.
„Das wird geschehen, aber in diesem Gebäude sitzt sogar das seismologische Institut im Keller, die müssen als erste wieder arbeiten. Darum sind die Wände und die Decke besonders erdbebensicher konstruiert.“
„Das wäre in Deutschland undenkbar, da wäre erst einmal wochenlang nichts passiert.“
„Da bebt die Erde auch nicht so oft ...“, war ihr lapidarer Kommentar.
Das Telefon klingelte, Polatidis hob ab.
„Ne,oriste? Ne. Imaste kala. Ola en daxi. Ja, wir sind in Ordnung. Wo? Ah, ja. Interessant...“ Er runzelte die Stirn. „Gibt es schon Berichte? Gut ... Ich werde jemanden beauftragen, sobald ich einen Experten dafür weiß. Ja, danke.“
Er legte auf und ließ sich schnaufend in seinen Schreibtisch-Sessel sinken.
„Schlechte Nachrichten?“, fragte Melina vorsichtig nach einem Moment.
„Nein, eigentlich nicht, die seismologische Abteilung hat mir bestätigt, dass das Beben nicht besonders stark war. Aber das Epizentrum macht mir Sorgen, es befindet sich auf achtunddreißig Grad und neunundzwanzig Minuten Nord, zweiundzwanzig Grad und achtundzwanzig Minuten Ost!“
Melinas Gesicht wurde blass. Ich verstand überhaupt nichts, wenn er lateinisch rückwärts gesprochen hätte, wäre es das Gleiche gewesen.
„Delphi ...?“, fragte Melina unsicher.
„Delphi!“ bestätigte der Professor. Ortsangaben in Grad und Bogenminuten kannte ich von meiner Leidenschaft, dem Segeln, sehr gut. Aber ich kannte nicht eine Ortsangabe auswendig. Außer vielleicht, dass der fünfzigste Breitengrad durch meine Heimat, den Rheingau, verlief. Die beiden dagegen wussten sofort den Ort des Geschehens, das machte mich stutzig. Melina drehte sich zu mir.
„Felix ...“, sie holte tief Luft. Ich ahnte, dass unser erhoffter Urlaub irgendwie in Gefahr war.
„Das Zentrum des Bebens war in Delphi, kennst du diesen Ort?“
„Schon mal gehört ...“, antwortete ich wahrheitsgemäß.
„Delphi war das bedeutendste Orakel des Altertums!“, klärte Melina mich auf.
Tief in mir kam eine dunkle Ahnung zum Vorschein, dass mein Traum etwas damit zu tun hatte. War der Ort des Kampfes gegen den Python etwa Delphi gewesen?
„Felix, geht es dir nicht gut? Du siehst blass aus!“ Melina riss mich aus meinen Gedanken.
„Nein, nein, alles klar bei mir. Aber was hast du mit Delphi zu tun?“
Polatidis sprang ein. „Sie hat ihre Doktorarbeit unter meiner Aufsicht über das Orakel von Delphi geschrieben!“
Ich war baff. „Du hast einen Doktortitel? Davon wusste ich gar nichts!“ Sie sah mit den Augen zur Decke wie ein Kind, das man verbotener Weise beim Naschen erwischt hat.
„Na ja, ich habe mich dann auch etwas anders orientiert und bin von der griechischen auf die ägyptische Archäologie umgeschwenkt. In der Wüste Ägyptens ist ein Titel uninteressant, ich hatte ihn selbst fast vergessen.“ Meine Partnerin war offensichtlich immer für eine Überraschung gut.
„Also schön, Frau Doktor ...“, resümierte ich etwas ironisch. „Wollen wir mal kurz zusammenfassen: In Delphi war das Zentrum des Bebens. So wie Professor Polatidis auf seinem Schreibtisch kennst du dich ungefähr in Delphi aus, soll heißen, du kennst da jeden Stein und weißt wo er runter gefallen ist ... Jetzt wird jemand gebraucht der untersucht, ob das Orakel Schaden genommen hat.
Im Moment bist du die einzige, die sofort Zeit hätte. Vorausgesetzt, du, also wir, verzichten auf unseren wohlverdienten Urlaub!?!“, knurrte ich.
Ich war ziemlich angesäuert. Polatidis kratzte verlegen auf seinem Schreibtisch herum.
„Also, wenn ich das mal so formulieren darf, jemand mit Ihrem analytischen Verstand würde dazu beitragen, dass die Operation schnell abgeschlossen wäre. Sie könnten Melina natürlich begleiten, auf Kosten unseres Institutes natürlich. Ein Auto kann ich Ihnen auch besorgen.“
Ich sah Melinas bittende Blicke und wusste genau, dass die Würfel bereits gefallen waren. „Wann fahren wir?“ resignierte ich seufzend.