Читать книгу Die Tränen der Pythia - Rainer Kilian - Страница 7
Die Quelle
ОглавлениеHunderte von Jahren, bevor der Gott der Christen Einzug in Griechenland hielt, regierten die alten Götter vom Olymp aus die Erde. Doch wer letztendlich das Land beherrschte, war den beiden jungen Menschen ziemlich egal, die mit ihren Schafherden den engen Pfad zu den Weidegründen der hoch gelegenen Ebene emporstiegen. Seit alters her waren ihre Familien Schafhirten gewesen und wohnten im Tal des Pleistos, dessen grüne Weiden reiche Nahrung für Tier und Mensch boten. Um so ungewöhnlicher war es, dass sie den beschwerlichen Weg hier hinauf nahmen.
Kaleandros, so hieß der junge Hirte, half der gleichaltrigen Nike die steilen Felsen zu erklimmen. Ein aufmerksamer Beobachter hätte bemerkt, dass er dabei ihre Hand länger festhielt als unbedingt nötig. Die beiden waren zusammen aufgewachsen und spielten schon als Kinder jeden Tag zusammen; eine tiefe Freundschaft verband sie, eine unschuldige, ahnungslose Liebe.
Ihren Eltern war es nicht entgangen, dass Nike zu einer jungen Frau voller Schönheit erblüht war, Kaleandros knabenhafter Körper war sehniger und kraftvoller geworden und zum Mann gereift.
Gleichzeitig hatte sich der Umgang der beiden miteinander verändert. Als Kinder balgten sie sich im Gras und badeten nackt in einer nahe gelegenen Quelle, doch nun war jede ihrer Berührungen von einem seltsamen Gefühl begleitet, das schön und verwirrend zugleich war. Sie schämten sich voreinander und vermieden es, sich dem anderen unbekleidet zu zeigen. Nikes Körper hatte sich verändert, Kaleandros sah sie plötzlich mit anderen Augen. Ihre Hüften waren runder geworden, ihre Brüste voller. Ein seltsames Sehnen nach ihrem Körper quälte ihn und bereitete Lust zugleich. Auch sie genoss das kraftvolle Spiel seiner Muskeln und spürte ein ihr bisher unbekanntes Verlangen nach seiner Nähe.
Das war der Grund, warum die beiden es vorzogen, unbeobachtet zu sein. Das Paar trieb seine Schafe den Berghang empor, damit sie ungestört waren, denn sie hatten das Getuschel im Dorf bemerkt, wenn sie ihre Herden zur Weide trieben.
Sie erreichten eine kleine Ebene, die einen herrlichen Ausblick auf das Tal bot, mehrere Quellen nährten das saftige Gras, das hier wuchs. Die Schafe überließen sie sich selbst und freuten sich an den übermütigen Sprüngen der jungen Lämmer. Bäuchlings lagen die beiden nebeneinander und beobachteten die Herde. Sie drückten sich mit der Seite ihrer Körper aneinander und genossen die wundersame Wärme, die bei jeder sanften Berührung ihrer Haut in ihnen aufstieg.
„Wir dürften gar nicht hier sein ...“, begann Kaleandros zaghaft das Gespräch. „Dieser Platz ist verhext, sagen die Alten.“
Sie lächelte ihn an. „Warum sind wir dann hier?“
Er nahm vorsichtig ihre Hand in die seine. „Weil du hier bist! Und weil dies der einzige Ort ist, wo wir ungestört sind. Darum habe ich auch keine Angst vor den Warnungen der Alten im Dorf. Wahrscheinlich haben sie sich selbst hier oben mit ihren Liebsten getroff ...“
Er erschrak über seine Offenheit und wünschte sich, dass sie seine letzten Worte nicht gehört hätte. Mit einem Ruck setzte sie sich auf und entzog ihm ihre Hand. Nike fühlte sich geschmeichelt und doch peinlich berührt. Sie wollte auf keinen Fall eine Eroberung für Kaleandros sein, mit der er vor den anderen jungen Männern des Dorfes prahlen würde.
„Warst du schon öfter hier oben?“, prüfte sie ihn.
„Nein!“ wehrte er erschrocken ab. „Nur mit dir, glaube mir. Ich wusste von diesem Platz nur aus den Erzählungen der Alten. Er ist wirklich bezaubernd schön ...“
Gedankenverloren ließ er seinen Blick über die Weite schweifen und schwieg. Sie rückte wieder dichter an ihn heran und legte ihre Hand auf seine Schulter. Es tat ihr leid, dass sie ihn unlauterer Absichten verdächtigt hatte. Sie wollte ja ebenso seine Nähe.
„Mir gefällt es auch hier oben, wir sollten öfter hierher kommen!“, ermutigte sie ihn.
Er drehte sich zu ihr. Ihre Gesichter näherten sich einander langsam. Kurz bevor sich ihre Lippen berührten, schlossen sie die Augen, dann trafen sie sich zu einem allerersten Kuss, der ihre Kindheit für immer beendete. Sanft erforschten seine Hände ihre Gesichtszüge und glitten unendlich langsam über ihre Halsbeuge nach unten.
Er kniete vor ihr, umfasste ihre Hüften und zog sie auf seinen Schoß. Sie spürte seine pochende Begierde und umschlang ihn eng mit ihren Armen. Das Kribbeln in ihren Brüsten zog sich tiefer in ihren Leib, als sie sich an ihm rieb. Überall war diese Hitze, die sie atemlos machte und danach drängte, ihre Kleider zu öffnen.
Ungeduldig streiften sie ihre Gewänder ab und steigerten den Rhythmus, mit dem sie sich dichter aufeinander zu bewegten. Kaleandros Oberkörper glitt nach hinten, sein Arm stützte ihn, während er schwer atmend Nike mit dem freien Arm weiter über sich zog.
Sie unterbrach ihren langen Kuss und richtete sich etwas auf. Gierig betasteten ihre Hände seine muskulöse Brust. Sie spürte, dass er sich pochend gegen ihren erhitzten Schoß drängte, ihre Lust überwog schließlich die Angst davor. Ihre Körper verschmolzen endgültig miteinander, heftig atmend rollten sie herum.
Nike spürte Kaleandros um sich, tief in sich, überall war sein Körper und sein Duft, während sie lustvolle Schreie ausstieß. Er passte seine Bewegungen an den Takt an, den ihre Fingernägel vorgaben, während sie sich tief in seine Schultern gruben.
Dann, schließlich, zog es sie beide vorwärts in einen Strudel aus Farben und Explosionen, der immer wieder anschwoll und abebbte, bis sie erschöpft und erlöst auseinander glitten, entspannt lagerte sie ihren Kopf in seiner Armbeuge. Endlos lange streichelten sie sich, kein Wort störte ihre Zweisamkeit.
Sie hätten den Rest des Tages in dieser wundervollen Welt voll neuer Gefühle verbringen können, doch plötzlich unterbrach aufgeregtes Blöken ihre Zweisamkeit. Sie schreckten hoch und wurden Zeuge eines seltsamen Schauspiels: Mehrere Schafe rannten wie toll über die Ebene, ohne Rücksicht auf ihre anderen Artgenossen stoben sie mitten durch die grasende Herde. Laut blökend, als sei ein böser Geist hinter ihnen her, sprangen sie hoch in die Luft. Gleich danach wälzten sie sich im Gras und warfen die Beine wild nach oben. Schaum stand ihnen vor dem Mund, sie rollten mit den weit aufgerissenen Augen.
Entsetzt sprangen Nike und Kaleandros hilflos zwischen den aufgeregten Tieren hin und her, nachdem sie eilig ihre Kleider angezogen hatten. Es gelang Kaleandros einige Tiere davon abzuhalten, sich den Hang hinab zu stürzen. „Die Alten haben doch recht!“, rief Nike verzweifelt. „Dieser Ort ist verflucht!“
Kaleandros war es ebenso nicht wohl in seiner Haut. Sie hatten reichlich damit zu tun, die Herde zusammenzuhalten. Die Unruhe der wild im Kreis springenden Tiere steckte auch die Schafe an, die sich bislang normal verhalten hatten.
Nur allmählich konnten sie die Ordnung in der Herde wieder herstellen, die Schafe, die sich so seltsam verhalten hatten, lagen keuchend auf dem Boden und waren zu erschöpft, um auf den Beinen zu bleiben. Jetzt sank auch Nike atemlos in Kaleandros Arme. Er strich ihr beruhigend über den Kopf.
„Lass uns und unsere Tiere noch etwas ausruhen, dann verschwinden wir hier!“ Einen Moment lang standen sie so beisammen, jeder konnte den aufgeregten Herzschlag des anderen hören. Doch die Schafe waren ihr ganzer Besitz, die Pflicht überwog die Angst vor dem sonderbaren Vorgang.
„Es fehlen zwei Lämmer!“ Sie hatten die Herde kontrolliert. Nike war entsetzt. Wenn sie ohne die Lämmer ins Dorf zurückkehren würden, mussten sie mit harten Strafen rechnen.
„Wie sollen wir unseren Eltern erklären, warum wir nicht auf die Schafe aufgepasst haben? Noch dazu hier, an diesem verbotenen Ort?“, sprach Kaleandros aus, was sie beide zuvor gedacht hatten. Stumm errötend nickte Nike.
„Bleib du bei der Herde, du kannst die Böcke besser im Zaum halten!“, entschied sie. „Ich schaue mich einmal bei den Quellen um!“
Kaleandros wollte widersprechen, doch er wusste, dass Nike von einem einmal gefassten Entschluss nicht abzubringen war.
„Sei vorsichtig!“, ermahnte er sie. Sie wusste, dass es hier oben einige Felsspalten gab, in die sich die Lämmer vielleicht verirrt hatten. Es wäre ihr auch lieber gewesen, wenn Kaleandros sich auf die Suche gemacht hätte. Wenn er die erwachsenen Tiere im Zaum hielt, fühlte sie sich sicherer.
Sie streifte auf der Hochebene herum und schob sich durch das Buschwerk, das sich am Rand gebildet hatte. Überrascht stellte sie fest, dass sich hinter dem Gebüsch noch eine kleine Wiese befand, die außerhalb ihres bisherigen Blickfeldes gelegen war. Ein kleiner Wasserlauf durchzog sie. Erleichtert sah Nike die zwei Lämmer an einem Höhleneingang sitzen, als warteten sie nur darauf, abgeholt zu werden.
„Da seid ihr ja, ihr kleinen Ausreißer!“ Langsam ging sie auf die beiden zu, um sie nicht zu verschrecken. Die Lämmer saßen direkt am Eingang einer vielleicht mannshohen Höhle, aus deren Öffnung sich das Quellwasser des Bachlaufs ergoss.
Nike fiel ein süßlicher Geruch auf, der sie an blühende Blumen erinnerte. Tief zog sie das angenehme Aroma in ihre Nase.
Merkwürdig leicht fühlte sie sich, ihre Angst war vollkommen von ihr gewichen. Statt dessen hatte sie das Gefühl zu schweben. Ihre Füße berührten den Boden nicht mehr.
Als sie die Lämmer erreichte, hatte sie bereits vergessen, dass Kaleandros ungeduldig auf sie wartete. Sie setzte sich sonderbar euphorisch neben die Jungtiere, die keinerlei Anstalten machten zu entkommen. Der Duft der Quelle ließ sie alles vergessen, was vorher war. Sie wollte einfach nur hier sitzen, so wie die Lämmer. Sie musste lachen, obwohl sie nicht wusste, warum.
Wie von Ferne hörte sie plötzlich Stimmen, die ihr Unverständliches zuflüsterten. Als wären es lästige Fliegen, versuchte sie durch Handwedeln das Flüstern zu verscheuchen, doch es wurde lauter und deutlicher.
Es bereitete ihr Schmerzen in den Ohren, ja, es schwoll schnell zu einem Kreischen an. Ihre Angst kehrte zurück, sie hielt sich die Ohren zu, doch die Stimmen drangen tief in ihr Bewusstsein und stießen von allen Seiten auf sie zu. Nike sprang auf und versuchte panisch mit verzweifelten Bewegungen die Geräusche zu vertreiben.
In wilder Flucht brach sie durch das Gebüsch, ohne darauf zu achten, dass die Äste ihr die Kleider zerrissen und die Haut zerkratzten. Grässliche Schreie ausstoßend, stieß sie mit einem Riesen zusammen, der sie mit seinen Armen auffing. Die junge Frau versuchte vergeblich, sich seinem klammernden Griff zu entwinden, doch er hielt sie gefangen. Sie schlug um sich, bis sie eine gnädige Ohnmacht umfing. Wehrlos und schlaff sank Nike auf den Boden und ergab sich in ihr Schicksal.