Читать книгу Bochumer Häuser - Neue Geschichten von Häusern und Menschen - Rainer Küster - Страница 7

Kunst auf Lothringen

Оглавление

Man möchte es gar nicht glauben, aber Politiker können unter Umständen Menschen sein, in besonderen Fällen sogar Menschen mit Sinn für die Kunst. Das Beispiel von Norbert Lammert, dem Bochumer Bürger und Berliner Bundestagspräsidenten, zeigt dies aufs Glücklichste. Im Februar des Jahres 2012 saß er an einem winterlich-frischen Samstagvormittag ein paar Reihen hinter mir in dem kleinen Veranstaltungsraum des Kulturrats in Bochum-Gerthe und freute sich mit denen, die auch gekommen waren, dass man dem Dichter Hugo Ernst Käufer die Ehre erwies und ihn dort anlässlich seines 85. Geburtstags feierte. Das war genau an dem Tag, als Herr Lammert in Berlin noch als möglicher Nachfolger des ausgemusterten Bundespräsidenten Wulff gehandelt wurde. Aber er hatte wohl intern schon abgewinkt, hatte sich anders entschieden. Vielleicht hat ihm damals auch seine Ehefrau abgeraten. Man muss eben Prioritäten setzen, und es ist immer gut, wenn jemand weiß, wo er hingehört.

Auch dem Künstlerischen im engeren, folglich im bildenden Sinne ist das Ehepaar Lammert zugetan. Als Horst Dieter Gölzenleuchter vor ein paar Jahren zur Feier seines Fünfundsechzigsten in Wattenscheid eine Ausstellung eröffnete, war auch Herr Lammert dabei und erwarb ein Bild des Bochumer Künstlers, bei dessen intensiver Betrachtung (gemeint ist das Kunstwerk) allerdings der Ehefrau unseres Bundestagspräsidenten nachträglich erhebliche Bedenken kamen. Das Bild – ein großformatiger Holzschnitt, auf dem man auf den ersten Blick nur Linien erkennt, von denen aber einige bei genauem Hinsehen zu ausdrucksstarken Gesichtern werden – erinnerte Frau Lammert zumindest entfernt an diese unsäglichen Präparate des Anatoms Gunther von Hagens. Das ist ein Arzt und Unternehmer, der damit sein Budget erheblich aufbessert, dass er menschliche Leichen konserviert oder plastiniert, wie er selbst dieses Verfahren nennt, und in spektakulären Ausstellungen, die durch die Welt reisen, von noch lebenden Menschen angucken lässt. Wer jemals das Pech hatte, diesen Anatom von Hagens in einer Talkshow wahrnehmen zu müssen, kann auch aus diesem Grund gut verstehen, dass man sich nichts ins Haus hängen möchte, was mit ihm auch nur gefühlt zu tun hat.

Was genau Frau Lammert auf dem Bild gesehen hatte, blieb auch dem Künstler Gölzenleuchter nicht vollends verschlossen; er hatte allerdings nicht das unbedingte Bedürfnis, den assoziativen Bezug zwischen seinem Werk und den Präparaten des besagten Gruselmediziners bis in die letzte Konsequenz hinein nachzuvollziehen. Trotzdem freute er sich, als Frau und Herr Lammert ein paar Wochen später in seinem Atelier im Kulturrat an der Lothringer Straße erschienen und ihn darum baten, das zuvor erworbene Kunstwerk wieder umtauschen zu dürfen. Klar, sagte Gölzenleuchter, umtauschen sei völlig in Ordnung. Die Lammerts haben sich dann ein bisschen vor Ort umgesehen, und sie sollen am Ende sogar mehr aus dem Atelier mit nach Hause getragen haben, als sie mitbrachten, was den Künstler wiederum gefreut hat.

Als mir Horst Dieter Gölzenleuchter, genannt Oskar, diese Geschichte erzählt, sitzen wir genau in demselben Atelier, in dem das Ehepaar Lammert seine künstlerische Auswahl getroffen hat, und trinken Kaffee. Hier sieht es so aus, wie es sich für ein Atelier gehört. Wenn man sich irgendwo hinsetzen möchte oder eine Tasse abstellen will, muss immer erst mal etwas anderes weggeräumt werden. Aber das gehört eben dazu, man fühlt sich trotzdem willkommen. Kaffee gibt es aus einer Stempelkanne, die Becher sind bunt.

Gölzenleuchters Atelier besteht aus einem langen Flur und viereinhalb zum Teil recht großen Räumen, die allerdings gut angefüllt sind mit größtenteils eigenen Kunstwerken aller Art, die an den Wänden hängen, irgendwo angelehnt stehen, auf Tapeziertischen liegen oder vorübergehend abgelegt wurden, und natürlich einer Fülle von Gegenständen und Materialien, die demnächst einmal Kunstwerke werden sollen. In den Ecken oder an den Wänden gibt es ein paar Vitrinen, in denen kleinere Arbeiten aufbewahrt sind, darauf Skulpturen, die hier und da afrikanisch anmuten, und immer wieder stehen da Tische und Regale mit Farbtöpfen und Geräten, die der Hausherr wohl zum eigenhändigen Drucken und Reproduzieren von Kunst gebraucht. Holz, in Scheiben, Planken, Stangen, bearbeitet oder frisch, ist allgegenwärtig.

Manchmal stecke im Holz etwas Erotisches, sagt der Künstler, es habe etwas Sinnliches, müsse in die Hand genommen, müsse gestaltet werden. Manchmal wird aus einer Holztür ein Holzschnitt, ein Druck, menschengroß. Alles ist da, Tischplatten, Baustellenholz, Vierkantbalken, Keilrahmen, Paletten. Wie man in diesem Ensemble allerdings genau das finden kann, was man gerade sucht, kann wohl nur der Künstler selbst wissen. Vielleicht sucht man aber als Künstler ohnehin nur das, was man auch findet. In dem Band »Holzschnittgeschichten« aus dem Jahre 2008 widmet Gölzenleuchter seinem Atelier einen kleinen Hymnus:

Ein Ort der gefangen nimmt. Einer der Inspiration. Eine andere Welt inmitten von sich immer mehr beschleunigenden, unübersichtlichen Lebens- wie Arbeitsabläufen, -verhältnissen. Eine andere Welt inmitten der Sachzwänge und Konsumbanalitäten. Scheinbar ein Ort der Langsamkeit. Noch nicht aus der Hand gegeben: Pinsel, Stift, Kreide, Messer …

Scheinbar ein Ort der stehengebliebenen Zeit. Angefüllt mit Arbeitsmaterialien, Werkzeug, mit Brauchbarem und Nutzlosem. Angefüllt auch mit Nachdenklichkeit, Grübelei, Enttäuschung, Hoffnung, Resignation und Handlung. Angefüllt mit Einsamkeit und Begegnung, Angefangenem, Verworfenem und Akzeptiertem.

An der Wand stehen ein paar großformatige Bilderrahmen, in denen dem Besucher, der Lust hat zu lesen, Zeitungsartikel präsentiert werden, deren Autorinnen und Autoren über die Jahre die Kunst in ihrer ganzen Vielfalt, wie sie hier vor Ort oder in den früheren Ateliers des Künstlers produziert wurde, kommentiert haben. Ein Frauentorso, gearbeitet in einen Baumstamm, zieht meinen Blick auf sich. Und natürlich die große Menge an kunstvoll bebilderten und eingebundenen Büchern, die alle in diesen Räumen hergestellt worden sind.

Hier ist die »Edition Wort und Bild« zu Hause. »Wort und Bild«, das ist Gölzenleuchters schlichtes Etikett, hinter dem sich die Produktion bibliophiler Bücher, gedacht für jedermann, verbirgt. Man hat das Gefühl, nicht nur in einem Atelier zu sein, sondern auch in einer Werkstatt, in der Kunst in einem beinahe archaischen Sinn gearbeitet wird. Der Blick aus dem Fenster erfasst Industriedenkmale aus der unmittelbaren Nachbarschaft. Der Gedanke, sich noch einmal dieser Nachbarschaft – auch in ihrer historischen Dimension – zu vergewissern, liegt nahe.

Die Atelierräume der »Werkstatt und Edition Wort und Bild« befinden sich im ersten Stockwerk des Bochumer Kulturrats e. V., eines soziokulturellen Zentrums im Norden der Stadt, das seit 1988 seinen Sitz in dem ehemaligen Magazingebäude der Zeche Lothringen im Stadtteil Gerthe hat. Ein gemeinnütziger Verein ist der Träger des Konzeptdachs »Kultur-Magazin Lothringen« und organisiert in seinen Räumen eine Fülle von unterschiedlichen kulturellen Aktivitäten. Der Bogen dessen, was hier passiert, ist weit gespannt, er reicht von traditionellen Formen der Literatur, Musik, Kunst, des Theaters und des Films bis hin zu Experimentalbereichen wie Performance und multimedialen Ausdrucksformen. Auch die Arbeit H. D. Gölzenleuchters gehört in dieses Konzept. Als Mieter seiner Atelier- und Werkstatträume ist er gewissermaßen Partner im »Kultur-Magazin Lothringen«. Arbeit und Initiativen des Kulturrats sind, wie man in Bochum weiß, eng verbunden mit dem Namen seines langjährigen Vorsitzenden Gerd Kivelitz. Seit dessen Tod im Jahre 2010 leitet seine Frau das verdienstvolle Unternehmen.

Wer vor dem Gebäude des Kulturrats steht und sich umsieht, spürt trotz einiger Modernisierungen, die im Eingangsbereich vorgenommen wurden, dass er sich hier gewissermaßen auf historischem Boden, in einem Restensemble von Industriearchitektur aus der Jahrhundertwende befindet. Auf der Schachtanlage Lothringen, in deren ehemaligem Magazin heute Kultur gemacht wird, wurde knapp neunzig Jahre lang Kohle gefördert. Die Anlage zählte eher zu den jüngeren Zechengründungen. Im Jahre 1880 war die Förderung aufgenommen worden. Zu jeder Zeche gehörte als unverzichtbare Einrichtung ein Magazin, also ein Lager für alle möglichen Dinge, die der Kumpel untertage brauchte, vom Nagel und Hammer über die Arbeitskleidung bis zum Gezähe. Es gab einen Magazinverwalter, und die Ausgabestelle des Magazins musste gewöhnlich Tag und Nacht besetzt sein, so dass sich die Bergleute jederzeit die für sie nötigen Utensilien abholen konnten. Dafür brauchten sie einen Bezugsschein, der zuvor vom Steiger unterschrieben wurde. Das System muss trotz oder auch wegen dieser Bezugsscheine gut funktioniert haben, denn unter Bergleuten erzählt man sich, dass ein umsichtiger Kumpel immer eine gut sortierte Auswahl an Nägeln im Hause hatte.

Bis 1913 wurden auf der Zeche Lothringen insgesamt fünf Schächte abgeteuft. Im Jahre 1912, also exakt vor hundert Jahren, erlangte die Anlage traurige Berühmtheit, denn bei einer schweren Schlagwetterexplosion auf Lothringen 1/2 starben 112 Bergleute. Kaiser Wilhelm II., der sich damals gerade zur Jahrhundertfeier der Firma Krupp in Essen aufhielt, besuchte höchstpersönlich die Unglückszeche.

Am 1. August 1929 wurde Gerthe nach Bochum eingemeindet. Die Zeche Lothringen war nun auch eine Bochumer Zeche, gehörte ins Kohlengräberland. Bochum war 1929 die zechenreichste Stadt auf dem Kontinent und hatte nach den vielen Eingemeindungen im Nordosten nun auch gemeinsame Grenzen mit Herne, Castrop-Rauxel und Dortmund.

Dann kam die Nazizeit, und ein paar Jahre später kam der Krieg. Im Gewerbegebiet an der Gewerkenstraße, im nordöstlichen Teil von Gerthe, und zwar direkt bei der Schachtanlage III, wurde während des Zweiten Weltkriegs das Zwangsarbeiterlager Zeche Lothringen errichtet, um den erforderlichen Bedarf an Arbeitskräften zu sichern. Wenn man auf den Stadtplan guckt, erkennt man, dass dieses Lager nur etwa tausend Meter vom Magazingebäude der Zeche entfernt lag.

Heute erinnern neun von ursprünglich elf Baracken an das Lager, in dem im Sommer 1943 einhundert Zwangsarbeiter und über dreihundert sowjetische Kriegsgefangene untergebracht waren. Auch in Gerthe galt, was im gesamten Ruhrbergbau praktiziert wurde: Seit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden die Belegschaften Schritt für Schritt durch ausländische Arbeitskräfte ergänzt. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 begann in der Gerther Zeche wie in den anderen Bergwerken des Ruhrreviers der Masseneinsatz sowjetischer Kriegsgefangener unter unmenschlichen Bedingungen. Zwischen Januar 1942 und Mitte 1944 wurden rund 215.000 sogenannte Ostarbeiter und Kriegsgefangene in die Zechenlager deportiert. Ihr Anteil an den Belegschaften betrug nun fast 40 Prozent.

Zur Unterbringung wurden in der Regel Barackenlager errichtet. Das Lager der Schachtanlage III entstand als eine von vier vergleichbaren Einrichtungen der Zeche Lothringen. Die Baracken gruppierten sich um zwei ältere Backsteingebäude: die Elektrozentrale und die Waschkaue. Nach dem Krieg wurden die Baracken in kleinere Wohneinheiten aufgeteilt. Zunächst wurden sie als Notunterkünfte für Ausgebombte und angeworbene Bergleute genutzt. Später lebten hier Gastarbeiter aus der Türkei, Italien und Griechenland.

In den achtziger Jahren wurde auf dem Areal ein studentisches Wohnprojekt entwickelt, das die Gebäude mehr oder weniger in den heutigen Zustand versetzte, und zwar – wie es in dem entsprechenden Wikipedia-Eintrag heißt – ohne Wissen um die Geschichte des Lagers. Später kamen andere Mieter, die wussten, wo sie waren, und die sich energisch für den Erhalt der Siedlung einsetzten. Trotz aller Umbauten scheint die Grundstruktur des Lagers heute noch weitgehend bewahrt; das Gerther Barackenlager kann damit als eines der wenigen vorhandenen Beispiele seiner Art in Deutschland gelten.

Wenn man die Anlage besucht und mit einigen der Anwohner spricht und die Kinder auf den Rasenflächen spielen sieht, hat man den Eindruck einer kleinen Insel der Seligen. Natürlich mussten, um hier dauerhaft leben zu können, die vergifteten Böden saniert, die Holzbaracken weiterhin renoviert werden. Sogar zwei Bunker, die vermutlich von den Zwangsarbeitern selbst angelegt worden waren, hat man im Zuge der Sanierungsmaßnahmen unter dem Gelände entdeckt. Dem mehrmals drohenden Abriss durch die Ruhrkohle AG, die alle Bewohner liebend gern umgesiedelt hätte, entging das Lager aufgrund vielfältiger Initiativen und Anstrengungen der heute dort lebenden Menschen, die gegenüber den politischen Gremien, die involviert waren, auch auf die komplexe historische Bedeutung der Wohnanlage verweisen konnten. Das glückliche Ende kam, als das ehemalige Zwangsarbeiterlager der Zeche Lothringen mit Hilfe des Bochumer Ratsmitglieds Dr. Hans Hanke im August 2005 in die Denkmalliste eingetragen wurde.

Was die Zeche selbst betraf, so war hier in den achtziger Jahren längst Schicht im Schacht. Im Jahre 1964 waren auf Lothringen im Verbund mit der Zeche Graf Schwerin in Castrop-Rauxel noch 1,6 Millionen Tonnen Kohle gefördert worden; doch nur kurze Zeit später kam das Ende. Schuld war die Krise im westdeutschen Steinkohlebergbau, die dazu führte, dass im Jahre 1967 die Gesamtanlage stillgelegt wurde. Das ist nun auch schon wieder 45 Jahre her. Aber zum Glück gibt es immer Leute, die nicht nur ein paar Ideen haben, was man mit den unterschiedlichen Restbeständen einer Industriearchitektur, die es so nie wieder geben wird, anfangen könnte, sondern die auch die Kraft haben, ihre Vorstellungen durch- und umzusetzen.

Und damit zurück zu dem Künstler Gölzenleuchter, der in dem alten Magazinhaus eine kongeniale Arbeitsstätte gefunden hat. An Werktagen reist er, aus Querenburg kommend, mit öffentlichen Verkehrsmitteln an. Hier arbeitet er, empfängt Besucher, führt Workshops für angehende Künstler durch, erklärt im Rahmen von Führungen seine Arbeit, betreut Gruppen von Kindern, die die Kunst für sich entdecken wollen.

Wie alles anfing, möchte ich wissen. Geboren ist er 1944 in Freiburg. In Dahl bei Hagen lebte die Familie nach dem Krieg, dort gab es beim Friseur die Zweigroschenhefte, Sigurd, Akim, Silberpfeil – hier schon die wechselseitige Erhellung von Wort und Bild –, die es dem Jungen angetan hatten. Später, als die Familie nach Bochum übergesiedelt war, kamen die Landserhefte hinzu. Auch hier wieder Worte (manchmal auch nur Wörter) und Bilder, und zwar der ganz besonderen Art: Der deutsche Held im Zweiten Weltkrieg, Geschichten vom ehrlichen Kämpfer an der Front, das waren die Themen und auch die Botschaften. Neben den deutschen Soldaten gab es noch ganz andere Helden: Aus der Leihbücherei in der Brückstraße holte er sich Tom Prox und andere Wildwestgrößen ins Haus oder unter die Bettdecke.

In diese Zeit reicht auch die Geburt des Namens Oskar zurück, der sich bis heute gehalten hat. Kreiert, weil benötigt, wurde er auf dem Fußballplatz. Da müssen die Namen kurz sein. Horst Dieter war zu lang, Gölzenleuchter noch länger. Hinzu kam, dass sich der Junge einen Igelschnitt, die damals beliebte Meckifrisur, zugelegt hatte. Nun sah er aus wie der österreichische Filmschauspieler Oskar Sima, der in den Filmkomödien der fünfziger Jahre gern die zwielichtigen Typen spielen durfte. Inwieweit die Wahl dieses Spitznamens Oskars Fußballspiel kommentierte, ist nicht überliefert. Auf jeden Fall brauchte man auch auf dem Fußballplatz, der wohl eher ein Bolzplatz gewesen sein dürfte, ein paar Helden.

Aber der junge Gölzenleuchter, der nach dem Schulabschluss in einer Gärtnerei arbeitete, wollte eigentlich kein Held werden. An seinem Arbeitsplatz rettete er lieber Maikäfer, wenn sie in einen Wasserkübel gefallen waren. Das tat der Seele des Jungen gut. Auch optische Reize gab es schon sehr bald: In der Woolworth, gegenüber der elterlichen Wohnung, konnte der Junge Ölbilder sehen, die es ihm angetan hatten, solche mit glühenden Heiden, plätschernden Bächen, röhrenden Hirschen. So wollte er gerne malen können.

Dann kam so etwas Ähnliches wie eine Erweckungsphase. Der Junge hörte von Aktionen der Gewerkschaftsjugend, die sich gegen die kriegsverklärenden Tendenzen der Landserhefte richteten. Das half ihm, wie er heute sagt, »auf die Sprünge«. Er desertierte vom Landser zum Leser einer sozialistisch-pazifistischen Wochenzeitung, sie hieß »Die Andere Zeitung«. Da entdeckte er zuvor nie Gelesenes, Texte von Tucholsky, Brecht, Ossietzky und von der Seghers, zuvor nie Gesehenes, Bilder von Grosz, Pankok, Dix und von der Kollwitz. Er entdeckte die Kunst und die Literatur »der Verbannten, Verbrannten, der Emigration«.

Vom Trinkgeld, das er fürs Blumenaustragen erhielt, kaufte der junge Gölzenleuchter »nicht immer Trinkbares, sondern auch Linolschnittmesser, Druckfarbe und eine Walze«. Damit besaß er nun sein allererstes Druckwerkzeug. Die anfänglichen Schnitt- und Druckversuche erbrachten eine Hafenlandschaft, Tiere nach Franz Marc, eine Trauernde, dem Stil der Kollwitz nachempfunden. Das Logo der Friedensbewegung schnitt er ins Linol, druckte es auf Tapetenreste und schrieb dazu: »Denkt an Hiroshima – nie wieder Krieg!« Das waren dann seine ersten Plakate, die er an die Bauzäune gegenüber dem Bahnhof klebte.

Es kamen die Ostermärsche, auf denen man neue Freunde gewann. Die »Proletenpresse« wurde gegründet, Asphalt-Hefte publiziert, die ersten »abgenudelt mit Wachsmatrizen«. Die Grafiken zu den Heften wurden mit einem selbstgebauten Siebdruckgerät erstellt, die ersten im Keller der künftigen Ehefrau Renate in Wanne-Eickel. Gölzenleuchter erzählt:

Wir agierten gegen den Kapitalismus, war ja nicht so falsch, gegen die Notstandsgesetze, den aufkommenden Neo-Faschismus im Mantel der NPD. Gegen NSDAP-Mitglieder in der Regierung. Aber auch für Mitbestimmung in den Betrieben, waren für den Sozialismus.

In dieser Sache gab es auch in Bochum viele Fraktionen. In unserer Kneipe in der Innenstadt, der »Krim«, war jeder Tisch eine andere Fraktion. Bis weit in den Morgen hinein wurde hier die Welt revolutioniert, lautstark und hemmungslos.

Gölzenleuchter wirkt mit in Werkstätten verschiedener Werkkreise, so auch im Dortmunder »Werkkreis Literatur der Arbeitswelt«. Er lernt zahlreiche Autorinnen und Autoren aus dem Ruhrrevier kennen, darunter Michael Klaus und Hugo Ernst Käufer. Er selbst arbeitet in der »Wedag«, einer Maschinenfabrik in Bochum. Es kommt die Zeit der K-Gruppen, Wohngemeinschaften, die sich anfangs auch Kommunen nennen, die Zeit der Kinderläden. Der bewaffnete Kampf macht blutig von sich reden, das ist nicht Gölzenleuchters Sache.

Im Jahre 1971 verlässt er die Fabrik und wird freischaffender Künstler, will etwas bewegen, schließt sich der Forderung für eine »Kultur für alle« an. »Ob das gelang«, sagt er heute, »ist die Frage.« Das Postulat einer »Kultur für alle« richtet sich auch, wie er resümiert, gegen eine »immer rabiatere Züge annehmende Konsumgesellschaft. Wir sprachen sogar von Konsumterror. Na ja, wir hatten viele Parolen.«

Eng an Gölzenleuchters Seite wirkt Freundin und Ehefrau Renate. Sie ermutigt ihn, die riskante freiberufliche Laufbahn einzuschlagen, hilft über finanzielle Engpässe hinweg, wirkt mit bei der Produktion von Texten, tippt auf der Schreibmaschine, beschreibt Wachsmatrizen. Heute ist sie es, die den Computer bedient, die ihren Mann in Fragen der Typografie berät, gerade wenn es um den Abdruck von Gedichten geht. Ohne Frau Renate geht im Grunde gar nichts, da hat der Künstler richtig Glück gehabt.

Noch in die sechziger Jahre reicht die Begegnung mit den Arbeiten von HAP Grieshaber zurück; irgendwann bei einer Bochumer Grieshaber-Ausstellung springt der Funke über. Gölzenleuchter ist so beeindruckt, dass er einmal sogar von Grieshaber träumt, und zwar trifft er ihn im eigenen Treppenhaus, und auf die Frage, wohin er denn des Wegs sei, bedeutet Grieshaber dem beglückten Gölzenleuchter, er wolle zu ihm. Aber das ist eben nur ein schöner Traum, im richtigen Leben lernen sie sich persönlich nicht kennen. Vielleicht hätte es die Möglichkeit gegeben, aber die Ehrfurcht, die dem Bochumer Künstler zugleich Zurückhaltung gebietet, ist wohl zu groß. Im Jahre 1976 schneidet er das Porträt des verehrten und bewunderten Künstlers ins Holz, nämlich in ein kleines Stück Tischlerplattenabfall. Stolz ist er, als die Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik »die horen« sein Grieshaber-Porträt in der Ausgabe zu dessen 70. Geburtstag veröffentlicht. Ein kleines Gedicht von Gölzenleuchter ergänzt und kommentiert das Porträt:

Wie der ausholt mit seinem Messer

noch immer

heilsame Wunden schneidendübers Holz

in unsere Köpfe

in unsere Herzen

entwirft er

grob und zart

Träume für uns

die nicht locker lassen

im Alltag der Gewalt

Gölzenleuchter räumt ein, seine Vision von einer gerechteren, sozialeren Gesellschaft sei nicht immer ohne Widersprüche gewesen. Aber das Falsche stecke eben manchmal auch im scheinbar Richtigen. Und tröstlicherweise entwickele sich ohne das Falsche selten das Richtige. Das Bedürfnis nach Zwischentönen, von denen »Väterchen« Franz Josef Degenhardt in merkwürdiger Selbstverleugnung noch behauptet hatte, sie seien nur »Krampf im Klassenkampf«, bildet sich bei dem Künstler Gölzenleuchter heraus, feine Unterschiede werden ihm immer wichtiger. Er verabschiedet sich von der proletkulthaften Geste, die noch für die »Proletenpresse« richtungsweisend gewesen ist, und gründet im Jahre 1979 die »Edition Wort und Bild«. Ort des Geschehens ist noch das frühere Atelier in Bochum-Langendreer.

Der erste Titel heißt »Nicht mit den Wölfen heulen« und ist durchaus programmatisch gemeint. Es ist gewissermaßen ein literarisches Bilderbuch mit etwa hundert Zeichnungen des Künstlers und Herausgebers, in die er Texte und Textauszüge von Autorinnen und Autoren aus zwei Jahrhunderten integriert hat. Das Vorwort schreibt Josef Reding; Autoren wie Fried, Kunert und Kahlauf stellen ihre Texte zur Verfügung. Der Anfang ist gemacht.

Das war vor dreiunddreißig Jahren. Eine beachtliche Reihe von Publikationen liegt inzwischen auf den Tischen des Ateliers im Kulturrat, unverwechselbar in ihrem künstlerischen Anspruch, auch und immer noch in ihrer inhaltlichen Prägung. Joachim Wittkowski schreibt in dem kleinen Jubiläumsband »30 Jahre Edition Wort und Bild«:

In der »Edition Wort und Bild« ist es dem Buchkünstler H. D. Gölzenleuchter möglich, sein ihm eigenes Konzept vom Buch ins Werk zu setzen. In keinem anderen Verlag wäre es ihm vergönnt, Wort und Bild so kompromisslos nach seinen eigenen Vorstellungen in Einklang zu bringen und dem Objekt Buch so unverkennbar sein in Holz geschnittenes Gepräge zu geben. Dazu gehört auch, dass H. D. Gölzenleuchter seinen Blick auf die Gesellschaft frei von den Entscheidungen eines verkaufsorientierten Lektorats zum Ausdruck bringen kann. Nicht zuletzt vermag er mit seiner »Edition Wort und Bild« Autoren und Künstler unabhängig von Dritten zu fördern.

Die Geschichte der »Edition Wort und Bild« dokumentiert sich auch in den munteren Gästebüchern, die Gölzenleuchter mir zeigt. Ich lese mich fest in dem großformatigen Album, das die Einträge aus den Jahren 1996 bis 1997 festhält. Es war wohl das erste Buch, das Gästen im damals neuen Atelier des Gerther Kulturrats vorgelegt wurde; die Einladung zur Eröffnung am 5. Februar 1996 ist vorn im Gästebuch eingeklebt. Partner im Atelier war in der Anfangszeit der Gelsenkirchener Künstler Wolfgang Sternkopf.

Die ersten Eintragungen sind Glückwünsche zur Neueröffnung. Eher konventionell: gutes Gelingen, Wünsche für die Zukunft, viel Schwung im neuen Atelier, die Hoffnung auf bewegte Zeiten und so weiter. Hugo Ernst Käufer schreibt seinen Klassiker hinein: »Ohne Erinnerung hat die Zeit kein Gesicht.« Dazu viele Fotos von den ersten Tagen und verstreut die vielen Ausschnitte aus Zeitungen, in denen die Eröffnung gewürdigt wird. Nach der Eröffnungszeremonie folgen Einladungen zu Ausstellungen, wieder mit Kommentaren der Besucher, jetzt schon differenzierter, und wieder Presseberichte. Anfang September gibt es eine Einladung zu einem Kunstmarkt, wo Arbeiten von fünf bis fünftausend Mark angeboten werden, darunter solche von HAP Grieshaber, Horst Janssen und Alfred Hrdlicka.

Dann, im Oktober 1996, der Höhepunkt des Jahres: Sajitha R. Shankar aus Indien – eine der profiliertesten Künstlerinnen ihres Landes – arbeitet drei Monate lang in H. D. Gölzenleuchters neuem Atelier und präsentiert dort auch ihre Arbeiten in einer viel beachteten Ausstellung unter dem Motto »Women and Reality«. Die Künstlerin, die hier in Bochum-Gerthe Gölzenleuchters Holzschnitt-Technik kennen lernt, ist im südindischen Staat Kerala aufgewachsen; in der Werkmitte ihrer Kunst steht die Frau. Werner Streletz kommentiert in der WAZ Shankars Ausstellung an der Lothringer Straße:

Bei aller intellektuellen Wachheit der auf Einladung des Bochumer Künstlers H. D. Gölzenleuchter in Bochum ausstellenden jungen Frau scheint sich in den Mischtechniken und Kohlezeichnungen ein Bedürfnis nach Harmonie zu manifestieren. Was zudem das Verhältnis von Mann und Frau betrifft, fällt es Shankar schwer »zu differenzieren, wer Sieger und Opfer eines verhängnisvollen Systems ist, das über lange Zeit die menschliche Psyche beeinflusst hat.«

Auf der Suche nach dem ihr gemäßen künstlerischen Stil öffnet sie sich fremden Kulturkreisen. Obwohl von Themenwahl und Mentalität in den Traditionen ihres Landes verankert, sind somit die Einflüsse der europäischen klassischen Moderne unverkennbar. Die wallenden Formen der Zeichnungen erinnern an Picasso, die glühenden Farben der Mischtechniken an die Inbrunst eines Marc Chagall.

Doch werden die Bilder dadurch nicht epigonal, sondern in ihrer kosmopolitischen Wärme umso anziehender.

Die vielen Fotos im Gästebuch des Ateliers sind nachträgliche Dokumente des großen Engagements der indischen Künstlerin, die die bunte Mischung ihrer Besucher in den Bann ihrer Kunst zu ziehen vermag. Die Anmerkungen zu ihrer Bochumer Ausstellung werden zunehmend international. Das Englische gerät zur Lingua franca, und es gesellen sich auch Einträge in Schriftzeichen hinzu, vor deren Enträtselung meine linguistischen Vorkenntnisse versagen. Sogar ein waschechter indischer Ministerpräsident besucht die Ausstellung seiner Landsfrau, bleibt länger als erwartet und erinnert in einer kleinen Ansprache staatsmännisch an die Verantwortung der Künstler innerhalb der Gesellschaft. Natürlich muss die Ausstellung bis in den Winter hinein verlängert werden. Der Zuspruch ist überwältigend. Zum Abschied von der Lothringer Straße kommentiert die Künstlerin das Unternehmen noch einmal im Gästebuch: »This is my great experience in my career – for art and for life.« Wer so etwas schreibt, nimmt nicht nur künstlerischen Gewinn mit nach Hause.

Einen Nachklang der Begegnung mit der indischen Künstlerin, die auch in den folgenden Jahren hin und wieder auf einen Sprung in Bochum vorbeigekommen ist, kann man in dem 1998 in der »Edition Wort und Bild« erschienenen Buch »Über die Jahre« begutachten. In diesem schönen, bibliophil gestalteten Buch geben Gedichte aus drei Jahrzehnten von H. D. Gölzenleuchter und fünf Holzschnitte von Sajitha R. Shankhar einander Kontext, kommentieren sich wechselseitig.

Leider ist die indische Künstlerin elf Jahre später nicht unter den zahlreichen Gratulantinnen und Gratulanten vertreten, die im Jahre 2009 Horst Dieter Gölzenleuchter zu seinem 65. Geburtstag die großformatige Hommage »Schnittwege« präsentieren. Hugo Ernst Käufer und Friedrich Grotjahn haben das Geburtstagsbuch beim Bochumer Brockmeyer-Verlag herausgegeben und mit einem Nachwort versehen. Die Schar der Gratulierenden ist vielfältig, stammt aus Kunst und Kultur, auch ein ehemaliges und ein derzeitiges Stadtoberhaupt sind dabei. Das ist sehr schön und auch so richtig, doch der junge Gölzenleuchter, der damals seine selbstgedruckten Plakate an Bochumer Bauzäune klebte, hätte es wohl nicht geglaubt, wenn man ihm diese Entwicklung vorhergesagt hätte. Aber so ein Künstlerleben hat eben Ecken und Kanten, lässt sich auch nicht in seinem Verlauf messerscharf prognostizieren.

Damit sind wir noch einmal beim Geburtstagsbuch. Den am Ende etwas frostigen Beitrag von Gerd Kivelitz, dem damaligen Hausherrn des Kulturrats, hätte ich wohl kaum verstanden, wenn mir Gölzenleuchter nicht erzählt hätte, dass es in den achtziger Jahren zu einem für beide bitteren Zerwürfnis gekommen sei, das nur schwer zu kitten war, das aber zehn Jahre später den Einzug der »Werkstatt und Edition Wort und Bild« in das Gebäude des Kulturrats nicht verhindert hat.

So sind wir am Ende auch fast unmerklich wieder am Anfang unserer Geschichte von Gölzenleuchters Kunst auf Lothringen gelandet und eigentlich auch bei Hugo Ernst Käufer, der in den Räumen des Kulturrats seinen 85. Geburtstag gefeiert hat. Der Dichter Käufer, selbst ein großer Kunstsammler, würdigt in der Hommage das Lebenswerk des Künstlers Gölzenleuchter, indem er unter dem Titel »Jenseits des Schweigens« noch einmal eine mahnend-versöhnliche Summe aus den beiden Begriffen »Wort« und »Bild« zieht:

Es sind noch Worte

zu suchen

zu finden

zu loben

zu lieben

zu sagen

Es sind noch Bilder

zu erleben

zu entdecken

zu schneiden

ins Holz

zu bringen

Jenseits des Schweigens

bevor es zu spät ist

[2012]

Bochumer Häuser - Neue Geschichten von Häusern und Menschen

Подняться наверх