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1940–1957

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Christian Ludwig wurde am 28. August 1940 in Bratislava, auf deutsch Pressburg, der heutigen Hauptstadt der Slowakei, geboren. Nicht 1941, 1942 oder 1943, auch nicht in Wien oder Linz, wie es in diversen Publikationen, Katalogen und Presseberichten einst verlautete. Es gab eine Zeit, da hielt der junge Künstler nichts von derlei biografischen Festlegungen, weil das alles viel zu wichtig genommen wird (Schmölzer 2008, 30). Entsprechend nonchalant ging er mit seinen Geburtsdaten um. Der Einzige, der sich irgendwann wunderte, war Horst, Christians jüngerer Bruder, der so zwischenzeitlich in die Lage kam, der ältere von beiden zu sein. Doch all das kam viel später, das Verwirrspiel mit Geburtsort und -datum ging einher mit einer Erweiterung des Namens, als aus Ludwig ein zweiter Vorname wurde und aus dem Christian der Attersee.

„Die Konstellation war glücklich; die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau und kulminierte für den Tag; Jupiter und Venus blickten sie freundlich an, Merkur nicht widerwärtig; Saturn und Mars verhielten sich gleichgültig: nur der Mond, der soeben voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheins um so mehr, als zugleich seine Planetenstunde eingetreten war.“ Johann Wolfgang Goethe setzt mit diesen Worten in seinen Lebensbericht „Dichtung und Wahrheit“ ein, dessen erste Zeile im ersten Buch lautet: „Am 28. August 1749, mittags mit dem Glockenschlage zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt“ (Goethe 1998, 10). Damit ist festzustellen, dass Goethe und Attersee den Geburtstag teilen. Wenn auch nicht die Stunde: Der kleine Christian wurde Erdenbürger um halb drei Uhr morgens. Zu ergründen, ob die Konstellation der Gestirne am 28. August 1940 so glücklich war wie 191 Jahre vorher, mag sich damit erübrigen.


Im Krankenhaus in Pressburg. 1941


Blick in den Weinkeller des Palais Palugyay. 1943

Mitte des 19. Jahrhunderts waren drei Brüder aus Asch im Egerland, damals zum österreichischen Teil der Doppelmonarchie gehörend, auf die Wanderschaft gegangen, um irgendwann in Pressburg in deren ungarischer Hälfte anzukommen. Einer brachte es im Lauf der Jahre zum Bürgermeister, ein anderer eröffnete ein Wirtshaus. Als der spätere Attersee zur Welt kam, war die Sippschaft weitverzweigt und wohlhabend, seit Generationen schon verstand sich die Linie des Gastronomen auf den Weinhandel. Der Erfolg, den die Familie damit hatte, ist heute noch nochvollziehbar: Wo einst die Firma Christian Ludwig & Sohn ihre Zentrale hatte, residiert jetzt das slowakische Außenministerium. Einer gewissen Tradition entsprechend wurde der erstgeborene Sohn auf den Namen Christian getauft, einer anderen Tradition, in den Weinhandel einzusteigen, hatte sich jedoch bereits Christians Vater verweigert. Nach einer Ausbildung an der Metallgewerbeschule war es zunächst der Wunsch des älteren Christian Ludwig gewesen, sich professionell der Malerei zu widmen, doch wie so oft stieß dieses Ansinnen auf nur wenig Akzeptanz des Vaters. Architektur lautete der Kompromiss, das Studium in Brünn und München schloss Christian Ludwig (1901–1967) mit Diplomen für Hoch- und Tiefbau ab. Zurück in Bratislava arbeitete er zunächst im Büro Kimmer-Szõny, 1928 machte er sich selbständig.

Und das durchaus mit Erfolg, denn wie einige Exempel noch heute veranschaulichen, darf Christian Ludwig als einer der Väter des modernen Bauens in Bratislava gelten. Gemeinsam mit dem Kollegen Augustín Danielis realisierte er, dessen Familie selbst der reformierten protestantischen Kirche angehörte, das Lutherhaus (heute das Generalbischofsamt, Palisady 46–48), ein fünfgeschossiges Paradestück des Funktionalismus, das der Administration und mehreren Wohnungen Platz bot. Zu einer Art „signature building“ für die Stadt wie auch für die beteiligten Architekten Ludwig, Danielis und Emrich Spitz avancierte das Manderla-Gebäude, das erste Hochhaus Bratislavas aus dem Jahr 1935. War da nicht ein Hauch von Metropole zu spüren? Der Auftrag kam von Rudolf Manderla, der, eben zurückgekehrt aus den USA, seine Vorstellungen hatte, das staunend Gesehene in der Heimat für sein Metier zu nutzen. Manderla, ein Wurstfabrikant, hatte sein Verkaufsgeschäft im Parterre, und es gab Platz genug für eine Vielzahl von Läden. Die Architekten hatten einen elegant gebogenen Arkadengang angelegt, eine Passage, die abzweigte von der Betriebsamkeit der Straße und eine großstädtische Gelegenheit bot, einzutreten in eine Welt des Konsums und der Flanerie. Ganz oben, nach dem zehnten Stock mit dem schicken Aussichtscafé, war von weitem sichtbar der Name des Auftraggebers in Leuchtbuchstaben zu lesen.


Weinetikett der Firma Christian Ludwig & Sohn


Der Weinhändler Karl Ludwig, Attersees Großvater. 1943

Multifunktional ist eines der Adjektive, das immer wieder in Beschreibungen der Bauten von Christian Ludwig dem Älteren zu lesen ist; er selbst wiederum war durch seine beiden Diplome so vielseitig wie seine Bauten. Es dauerte nicht allzu lange, bis sich weitere Aufträge einstellten: ab 1939 dann eine Wegstrecke donauaufwärts, aber der Zeit entsprechend nicht in Wien, sondern in Linz. Als sein erstgeborener Sohn zur Welt kam, pendelte der Architekt bereits zwischen seinen beiden Arbeitsplätzen, nicht, wie man meinen würde, zu Land, er pendelte zu Wasser. Die Distanz wurde mit dem Motorboot zurückgelegt. Wie später die beiden Söhne war auch der Vater mit Schiffen vertraut und verbunden, er feierte Sporterfolge in der Klasse der motorbetriebenen Rennboote, zudem waren damals bereits zwei Jollen im Besitz der Familie.


Blick auf das Manderla-Haus und die Stadt Pressburg. 1935

Die Mutter Susanne (1912–2003) und der Neugeborene, der naheliegenderweise „Christi“ gerufen wurde, blieben vorerst in der Heimatstadt. Man kann nicht behaupten, dass das Kind die ersten Jahre seines Lebens gesund gewesen wäre. Mit dem feinen Lächeln, das bis heute für ihn einnimmt, blickt der Einjährige tapfer in die Kamera, gebettet auf ein weiches Kissen, den Kopf dick eingebunden, sodass die Ohren mit ihren schweren, von Zwiebelhälften ausgebeulten Wattepaketen verdeckt sind. Eine in Kriegszeiten mit ihrem Mangel an Medikamenten schwer zu behandelnde Entzündung der Gehörgänge und dazu noch eine Erkrankung der Atemwege erwiesen sich als so hartnäckig wie folgenreich und erforderten in den ersten Jahren mehrere Krankenhausaufenthalte. Mit drei Jahren erst beginnt der Junge zu sprechen, das linke Ohr bleibt taub, der Rücken durch das viele Liegen gekrümmt. Mit einer seinerzeit gängigen Therapie versuchte man, die Wirbelsäule des Kindes zurechtzubiegen. Einen Stock hinter dem Rücken in die beiden Armbeugen geklemmt, machte sich Christian Jahre später auf den Weg zur Schule.


Das Lutherhaus in Pressburg. 1930


Das Warenhaus Brouk und Babka in Pressburg, errichtet nach den Plänen des Architekten Christian Ludwig. 1936


Stehend die Brüder Wilhelm, Aurel, Christian und Karl Ludwig, sitzend die Großeltern Aurora und Karl Ludwig. Nach 1945

Bekanntlich können Kinder beim Anblick der Fehlbarkeiten anderer gnadenlos sein, doch auf Hänseleien wegen seines verformten Rückens entgegnete Christian entwaffnend, dass er seinen Brustkorb eben am Rücken habe. Diese Behinderung wurde ohnedies von jener anderen, dass ein Ohr nicht funktionierte, in den Schatten gestellt, auch später stellte der Buckel, wie ihn der Leidtragende selbst nennt, eine eher geringe Herausforderung an das Ego dar: Ich war ja sonst unheimlich hübsch, und den Buckel hab’ ich ja selbst nicht gesehen, man hat mich auch so ins Bett geliebt. Aus der Zeit der vielen Krankenhausaufenthalte stammt die früheste wie auch seltsamste Erinnerung des schwächelnden, fiebernden Knaben: Von allen Erstprägungen gibt es eine, die ich mir bis heute nicht erklären kann: In meiner Erinnerung sehe ich, im Spitalsbett liegend, im Gegenlicht drei oder vier dunkelhäutige Krankenschwestern auf und ab spazieren. All das wäre – bis auf die Hautfarbe der Schwestern – nicht weiter bemerkenswert, wenn die Damen nicht einzig und allein mit dem einschlägigen Häubchen bekleidet gewesen wären und sich dem Knaben nicht besonders die nackten Hintern ins Gedächtnis geschrieben hätten. Bis zu seinem dritten Lebensjahr war Christian immer wieder im Spital, mit fünf oder sechs schon hat er versucht, dieser in jeder Hinsicht komischen Vision auf den Grund zu gehen. Weder seine Eltern noch irgendwer sonst konnten eine Erklärung bieten, eine Recherche vor Ort noch Jahrzehnte später blieb erfolglos – eigentlich sucht Attersee noch immer nach einer Antwort. Ich bin ja vieles, auch ein Gesäßfetischist, aber auf Krankenschwestern war ich noch nie fixiert. Jedenfalls legt er Wert darauf, dass die obskuren Gesichte mehr sind als ein Traum.


Susanne und Christian Ludwig, Attersees Eltern. 1938


Susanne, Horst und Christian Ludwig. 1943

Zwei Jahre nach Christian kam Horst zur Welt, dessen erste Erinnerungen in Bratislava sich notgedrungen auf den älteren Bruder beziehen. Dass dieser stets größer war und ihm dadurch der Blick aus dem Fenster oder das Ergreifen der höher im Regal platzierten Spielsachen möglich war, erklärt sich rein körperlich; dass der Ältere mehr Zuwendung und diverse Luftveränderungen benötigte, dagegen psychologisch. In Sachen einer Kur für die angegriffenen Lungen von Christian reiste die Mutter mit den beiden Söhnen in die Karpaten, was anfangs als Keuchhusten diagnostiziert wurde, stellte sich im Laufe der Jahre dann als Asthma heraus, ein weiteres Handicap, mit dem das Kind zu leben lernen musste.

Für „Deutsche“, als die die weitverzweigten Ludwigs galten, wurde es in Bratislava vorhersehbarerweise immer schwieriger, sodass Christian Ludwig begann, sukzessive das Hab und Gut der Familie donauaufwärts zu schaffen. Manches auf dem Landweg, vieles aber auch auf einem selbstgebauten Floß, an dem befestigt auch die zwei Motor- und die zwei Segelboote, die der Familie gehörten, in Richtung Oberösterreich verschifft wurden. Über Wien reiste die Ehefrau mit ihren beiden Kindern 1944 hinterher, ein Bombenangriff auf die Stadt, bei dem den dreien der Zutritt in einen Luftschutzkeller nahe dem Schwarzenbergplatz verwehrt wurde, zählt zu den eindrücklichsten Kindheitserinnerungen. Landshaag war die erste Station, wo die Familie bei einem Freund, dem Primarius Dr. Kurt L. Müller, unterkommen konnte. Ein Jahr später setzten die Ludwigs dann, gewarnt vom Vordringen der russischen Truppen, mit dem Floß – in der Mitte des Floßes befand sich eine bescheidene, fast würfelförmige Wohnhütte aus Holz–über die Donau: ins gegenüberliegende Aschach, in die amerikanische Besatzungszone.


Die Eltern Susanne und Christian Ludwig mit ihren Söhnen Christian (li.) und Horst. 1946

Aus „Deutschen“ in Bratislava waren in der Gegend von Linz „Slawen“ geworden, aus alteingesessenen Bürgern Flüchtlinge, und dementsprechend war der Empfang. Mit der einschlägigen Etikettierung „Du Slawensau“ konnte das Kind Christian zu seinem Glück wenig anfangen, viele Jahre später, 1980, hat er mit dem Zyklus „Der Slawe ist die herrlichste Farbe!“ auch die allfälligen Ressentiments abgearbeitet, die in der Kindheit angebrandet waren. Zumindest aber war die gesamte Familie in Sicherheit. Mit einem ausgeprägten Spürsinn für die politischen Entwicklungen hatte der Vater Vorsorge getroffen, dass auch seine Eltern und die Brüder mitsamt Familien irgendwo unterkommen konnten. Nur zwei Tage, bevor die Rote Armee in Bratislava einzog, war er ein letztes Mal vor Ort, um Wertsachen in Sicherheit zu bringen, sodass man in den Nachkriegsjahren, auch wenn es an vielem fehlte, irgendwie das Auskommen hatte. „Es ist uns nie richtig schlecht gegangen“, erinnert sich Horst.


„Slawinocker (Der Slawe ist die herrlichste Farbe)“. 1980. Mischtechnik auf Karton. 87,5 x 62,5 cm

In diese Zeit fallen auch zwei einschneidende Erlebnisse, die, auf ihre Art Initiationen, das Leben und Denken des Jungen nachhaltig prägten: als mein vater nach dem blonden knabenschopf einen meter tief in die donaufluten griff, zog er nicht nur seinen ins stromwasser gefallenen sechsjährigen sohn christian ludwig aus dem flußsog, es war gleichsam auch die geburtsstunde der liebe und des vertrauens des jungen zu wasser, zu blau. weder scheu noch angst wirkte aus dem kind, ein nasses stück menschenobst lachte am landshaager donauufer, der sturz ins wasser war schnell vergessen (Archiv Attersee, 1990, unpubliziert). Der Vater hatte seinem Sohn das Leben gerettet, er hatte mit seiner unaufgeregt-schnellen Reaktion dem Jungen dabei auch die Furcht vor dem nassen Element genommen, und ähnlich sollte es auch beim Eintritt in die Schule sein. Christian war der einzige evangelische Schüler in einer sehr ländlich und sehr katholisch geprägten Lehranstalt. Gleich zu Beginn ließ man ihn das merken, der Junge musste woanders sitzen, und er durfte nicht mit den anderen in den Religionsunterricht. „Gott gibt es nicht, aber du musst hier mitmachen“, hatte der Vater seinem Buben mit auf den katechetischen Weg gegeben. Er hat sich plötzlich umgedreht, und durch seine Ausstrahlung habe ich sofort gewusst, das ist das größte Geheimnis, das ich erfahren werde – und so war es auch. Mit dieser Nachricht musste ich leben und ich musste überleben in diesen Schulen. Bald wurde immerhin das zeichnerische Talent des ruhigen, allein durch die Hörprobleme schüchternen Kindes erkannt: Er durfte für den Lehrer alles an die Tafel malen, was im Unterricht an Illustrationen gebraucht wurde.


„Nachtslawin (Der Slawe ist die herrlichste Farbe)“. 1980. Mischtechnik auf Karton. 62,5 x 87,5 cm


„Zärtlich färbt die Slawin, das Wetter füttert (Der Slawe ist die herrlichste Farbe)“. 1979. Mischtechnik auf Karton. 56,5 x 44 cm


Christian Ludwig auf dem Floß. 1951

Nun blieb auch Zeit, musikalische Neigungen bei Christian wahrzunehmen und zu fördern. Blockflöte, Klavier und Okarina, jenes kleine tönerne, meist in Vogelform gestaltete Blasinstrument, wurden eingeübt, später kam Gitarre hinzu. Hatte der Vater Muße, zeichnete er mit ihm, und dann gab es noch das Wasser, den Wind und die Boote: siebenjährig wurde derselbe bub mitten am attersee in eine alte, von südwindwellen umspielte olympiajolle, baujahr 1936, bootsname „thetis“, gesetzt, und ob er wollte oder nicht, alleine sollte er ans festland segeln. eine stunde später legte der junge segler das bugtau der jolle um den alten anlegepöller des union jacht club attersee, ein relikt aus dem alten österreichischen kriegshafen pula und lange zierde des jachtclubufers. es war die erste wetterstunde des später so erfolgreichen seglers, es war aber auch der beginn des knabens liebe zu wetter, zu wetterfarben (Archiv Attersee, 1990, unpubliziert). Das Floß, mit dem man sich nach Westen gerettet hatte, das über die gesamte Zeit an der Donau als Ponton gedient hatte, wurde 1947 an das Ufer des Jachtclubs am Attersee verschifft, wo es, nochmals um eine Plette und einen Raum erweitert, das Sommerdomizil der Ludwigs sowie Anlauf- und Anlegestelle aller Freunde wurde. Ein dramatisches Ende erlitt die „Arche Noah“, wie die Leute es nannten, zwei Jahrzehnte später, als sie bei den Dreharbeiten zu Luchino Viscontis 1969 fertiggestelltem Spätwerk „Die Verdammten“ ihre eigene Götterdämmerung fand und verbrannte.

Mit dem Abschluss der Grundschule begann für den gerade Zehnjährigen auch schon die Zeit der Abnabelung. Aus dem Jungen sollte schließlich, wie es sich gehörte, etwas werden, er musste aufs Gymnasium, und das bedeutete, dass er in einem evangelischen Schülerheim in Linz zu wohnen hatte. So hätte er seine Eltern früh verloren, erzählt Attersee heute, vielleicht bezeichnet er auch deshalb die Beziehung speziell zu seiner Mutter als schwierig. Um 36 Jahre überlebte Susanne Ludwig ihren Mann, sie konnte den Lebenslauf ihres Sohnes in allen Facetten verfolgen, und zur Ausstellung anlässlich von dessen 60. Geburtstag erschien die betagte Dame mit sichtlichem Stolz. Der Vater – schwer herzkrank, er starb 1967 – sollte hingegen nur den zaghaften Beginn der Künstlerkarriere erleben. Zweieinhalb Jahre nach Christians Übertritt auf das Linzer Gymnasium zog 1953 dann die gesamte Familie in die Landeshauptstadt. Man wohnte wieder wie vor der Flucht: in einer schönen Gründerzeitvilla. Christian Ludwig senior, vorerst als kommunaler Architekt am Wiederaufbau der Stadt beteiligt, wollte es im Alter von 48 Jahren noch einmal wissen, verabschiedete sich von der sicheren Beamtenlaufbahn und machte sich selbständig.


Das Floß am Attersee mit den Booten „Brummer“ (X 39) und den beiden Piraten „Thetis 2“ (OE 108) und „Wasserfloh 2“ (OE 103). 1953

Für den künstlerisch begabten Sohn organisierte er privaten Zeichenunterricht bei Alfons Ortner, Lehrer an der Kunstschule Linz und Gründungsrektor der Hochschule für künstlerische und industrielle Gestaltung, die heute Kunstuniversität Linz heißt. Eine Handvoll Streichholzschachteln wurden auf den Tisch geworfen, der Mittelschüler sollte sie originalgetreu und in penibler Perspektive zeichnen. Das Künstlertum war vorgebahnt. Nicht zuletzt weil die Lehrer am Gymnasium wenig Rücksicht darauf zeigten, dass ihr Schüler einseitig taub war, gab es wenig Interesse an den Fächern; motivierter zeigte er sich beim Verfassen kleinerer Theaterstücke, von Partituren für Kurzopern, und auch ein Kriminalroman floss dem Eleven aus der Feder. Englischsprachige Comics, von den US-amerikanischen Soldaten zurückgelassen, faszinierten den Jugendlichen, und der Rock ’n’ Roll, vor allem von Elvis, tat sein Übriges. So bitter für Christian das Regime des Schuljahres gewesen sein muss, im Sommer, am Attersee, war er in seinem Element. Aus der Musicbox des Strandcafés kam Einschlägiges, und neben „She’s Got It“ von Little Richard ist es „Heimweh“ von Freddy Quinn, die die Erinnerung prägen, wie schön die Zeit war. Wenn ihm schon eine Laufbahn als Opernsänger gleich dem Vorbild Mario Lanza versagt war, so blieb dem Teenager zumindest der Traum, als Rock ’n’ Roller zu reüssieren. Bis weit in seine Wiener Studienzeit hing er diesem Traum nach, und als Attersee Jahrzehnte später nach dem Tag gefragt wurde, den er ein zweites Mal erleben wollte, war die Antwort: Als bei meinem Konzert das Publikum tobte (Oberösterreichische Nachrichten, 10. August 1985).


Susanne Ludwig auf dem Floß am Attersee, rundum die Boote der Familie. 1953


Horst Ludwig am Steuer, Christian Ludwig an der Vorschot. 1951

Ob sich Horst jemals von den Talenten des Bruders in den Schatten gestellt sah? Dieser Frage steht der Jurist und vierfache Familienvater damals wie heute entspannt gegenüber. Anfangs war es Christians Gesundheitszustand, der nicht nur eine erhöhte Aufmerksamkeit und Zuwendung der Eltern einforderte, sondern auch eine gewisse geschwisterliche Nachsicht gestattete. Später gingen die Neigungen und Talente des Jüngeren ohnedies in eine ganz andere, lebens- und ausbildungspraktische Richtung. Schließlich hatten die ungleichen Brüder ein gemeinsames Faible: die Freude am Segeln, die sie bis heute teilen, wie neuerdings auch wieder ein Boot. Richtig wasserfeste Kleidung hätte es nicht gegeben, erzählt Attersee von damals, eigentlich wären Horst und er immer im Nassen gesessen, und wenn sie dann vollkommen durchfroren heimgekommen sind, gab es von der Mutter zuallererst eine gehörige Portion heißen Tee mit Rum. Das konnte nicht verhindern, dass ihm eine gewisse Empfindlichkeit gegen Kälte geblieben ist.

Blau ist Attersees koloristisches Markenzeichen. Selbstverständlich hat es mit dem Wasser zu tun, doch vielleicht nicht mit dem Fluss, der seiner Familie eine stete Perspektive gab. „Die Donau“, schreibt Claudio Magris in seiner Monografie des Stromes, „die Donau ist nicht blau, wie es die Verse von Karl Isidor Beck wollen, die Strauß zu seinem verführerischen und verlogenen Titel seines Walzers inspiriert haben. Die Donau ist blond, ‚a szöke Duna‘, wie die Ungarn sagen“ (Magris 1988, 204). Aber, fügt Magris an anderer Stelle hinzu, die Donau ist weiblich, das grammatikalische Geschlecht stimmt mit dem natürlichen überein, und wer hätte nicht ein Werk von Attersee vor Augen angesichts dieser Sätze: „Um diesen Mund, unter dieser Nase, in der leichten Andeutung einer Falte, in dem dunklen Glanz der Augen wandern die vergangenen und gegenwärtigen Jahre, hat die Zeit sich eingeprägt und eingezeichnet; die geschwungene Linie das Halses ist das Bett der Zeit, das Bett ihres Flusses. Der Mund, den dieser Fluß mit sich führt, ist der gestrige und heutige; vielleicht hat Heraklith unrecht, man badet doch immer in demselben Fluß, in der unendlichen Gegenwart seines Fließens“ (ebd., 171). Man badet in demselben Fluss; doch mit dem Boot befährt man andere Gewässer. Nochmal Magris, der Mitteleuropa-Programmatiker, der aus Triest stammt: „Jenes Blau, das die Kultur der Donau nicht kennt, ist das Meer, das gespannte Segel, die Reise nach Westindien“ (ebd., 158). Im Jahr 1979 hat Attersee dann eine solche Tour im Fahrwasser von Kolumbus angetreten, er hat den Atlantik überquert, 17 volle Segeltage bis zur Landung auf Barbados.


„Piratenregatta“. 1956. Aquarell auf Karton. 31 x 44 cm

Noch ist der Aktionsradius überschaubar. Mit einem segeltauglich umgebauten Ruderboot namens „Wasserfloh I“ bestritten die Brüder Ludwig ihre ersten Regatten gemeinsam, mit „Wasserfloh II“ und seinem Vorschoter Karl Haitzinger (1938–1988) konnte Christian dann 1952 den ersten Sieg einfahren. Beim Segeln war ich nicht nur ein Genie des Wetters, sondern auch des Schachspieles auf dem Wasser, immer zwischen Risiko und Naturinstinkt, ich konnte den Wind früher sehen als die andern, hatte ein Gefühl für jeden Baum am Ufer und dachte, da könnte ein Windzug sein. Zu erkennen, wie dem Wind eine Optik zukommt, ist das Privileg eines Augenmenschen – um nicht zu sagen: eines Impressionisten. Offenbar war hier ein synästhetisches Talent vorhanden. Nach den Erfolgen in der Klasse „Pirat“ wechselte das Genie des Wetters bald zum schnellen, anspruchsvollen, als Königsdisziplin erachteten Flying Dutchman. Sein Vorschoter wurde Erich Moritz (1941–2005).


Attersees erster Flying Dutchman, „Susanne“ (OE 27), mit dem er seinen zweiten österreichischen Staatsmeister-Titel ersegelte. 1957

Dieter Gottwald, Konkurrent in der FD-Klasse mit Heimathafen am Wörthersee, erinnert sich an Christian Ludwig als „beständig guten Segler; ein sehr ruhiger Mensch damals, sehr überlegt, er wusste genau, was er wollte und wie er es wollte. Er ist immer alles sehr genau angegangen und war damals eigentlich kaum zu schlagen.“ Auch im Ausland trat man gegeneinander an, in Triest beispielsweise. „1. Tag sehr stürmisch“, ist als Eintrag vom 11. September 1960 im Logbuch der Familie Gottwald zu lesen, „hinter Ludwig Chr. falscher Kurs, weit nach Jugoslawien gefahren. Durch hohe Wellen, schweres Segeln“. Im Vertrauen, der Ludwig würde schon das Richtige machen, waren ihm ausnahmslos alle Teilnehmer hinterhergesegelt, vorbei an Motorbooten mit schwer bewaffnetem Militär in fremdes Hoheitsgebiet hinein und wieder retour in die Triestiner Bucht, allen voran der Ludwig. Auch in den beiden folgenden Jahren konnte der Segler vom Attersee die Herbstregatta in der Adria für sich entscheiden, dafür gab es das „Blaue Band“ und den Triestiner Goldpokal auf Dauer.


„Starterhaus des Union-Yacht-Club Attersee“. 1959. Öl auf Karton. 45 x 60 cm (auf dem Floß gemalt)

Dem wachsenden Erfolg beim Segeln gingen Reisen einher – und dem Reisen der Zugang zur Kunst. Einen Bildband über Vincent van Gogh und eine Wilhelm-Busch-Ausgabe hatte es im ludwigschen Haushalt nach der Flucht aus Bratislava gegeben. Das war natürlich Prägung; ein van-Gogh-Buch und ein Wilhelm-Busch-Buch, und genau diese Mischung bin ich als Künstler dann auch geworden. Nun, da die vierköpfige Familie samt Vorschotern und den Booten zu Wettkämpfen in ganz Europa unterwegs war, boten sich reichlich Gelegenheiten, Ausstellungen zu besuchen und das Gewusste mit Angeschautem zu verbinden. Wohin man auch immer und auch jenseits der Wettkämpfe reiste, Kunst war fester Bestandteil, das nächste Museum immer der nächste Weg. Am meisten beeindruckte den damals 17-Jährigen die Fahrt mit einem Dampfer von 1906 von Triest nach Athen. Dort waren es weniger die antiken als die christlichen Bilder: Ich habe nie vorher etwas Besseres, Tolleres gesehen als die Ikonen, die ich in Athen im Museum antraf. Michelangelo in Florenz, van Gogh in Amsterdam, in Split Mestrowitsch, in Paris Toulouse-Lautrec und nochmals, in Augenschein genommen 1962 im Art Institute von Chicago, der Meister der Sonnenblumen und, von Attersee besonders geliebt, der Blütenzweige: Van Gogh hatte gute und schlechte Tage, gemalt hat er die letzteren, die guten hat er für sich behalten, zum Schutz der Schmerzhändler, sicher auch, um Kadaversinne in Schwung zu halten, um Zufluchtsorte zu malen für die Rast abseits von Blüten. An malfreien Tagen saß er bei den jungen Vögeln im Nest, weit weg von Krankheit und Geldnot, saß er zwitschernd in veronesergrünen Hellen, zwitschernd in den Farben lebensfroh vagabundisierender Karren, so wollen wir es jetzt sehen. Nur wer Meister der linkischen Hand ist, versteht auch die wahre Rechte im warmen Schatten des Lichtes. Vincent gehört zu den Auserwählten, zu den beidhändigen Meistern, sein schwarzer Fleck im Sonnigen Tag ist nicht der Schatten des Herzens eines Geisteskranken, sein schwarzer Fleck ist der gemalte Anspruch auf Mitsprache bei der ununterbrochenen Weiterschöpfung dieser Welt (Taulocke 1992, 91).


Vorschoter Erich Moritz und Christian Ludwig erhalten nach dem dritten Regattasieg (1959, 1960, 1961) das „Blaue Band“ im Yachtclub Adriatico in Triest. 1961


Anton Lutz. „Junger Segler“. 1958. Öl auf Holz. 84 x 60 cm

Zwischen den musealen Werken das Wasser, Wind und Wetter vor den hungrigen Augen. Dreimal werde ich Staatsmeister, danach gehe ich nach Wien und werde ein berühmter Künstler, lautete die Prämisse. Als „Junger Segler“ stand er erst einmal auf der anderen Seite der Leinwand – nämlich dem oberösterreichischen Maler Anton Lutz 1958 Porträt. Es ist ein Werk von deutlich mediterraner Atmosphäre, das hier entstanden ist, der Sonnenhut wie bei van Gogh, das gestreifte Hemd wie bei Picasso und der Bildausschnitt, der am Oberschenkel Halt macht, wie bei Cézanne. Erster Flaum ist auf dem Weg zum Oberlippenbärtchen, der Blick weniger nach außen als auf die eigene Nachdenklichkeit gerichtet, und die Augenbrauen sind hochgezogen, schon einmal die Skepsis markierend, die Zurückhaltung und leise Melancholie, die sein Leben begleiten und leiten. „Junger Segler“ ist beileibe kein Meisterwerk. Aber seinerseits hat es dieses Leben begleitet. Heute findet man es in Attersees Wiener Atelier im dritten Bezirk.

Der junge Segler ist ein berühmter Künstler geworden. In beiden Metiers geht es darum, mit Eleganz Erfolg zu haben, das Elementare von Materie und Material überzuführen in den hochartifiziellen Einsatz von Kalkül, Geschick, Virtuosität. In beiden benötigt man bei aller Rationalität der Verfahren eine gewisse Instinktivität, und beide lassen ein gehöriges Quantum Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit im Raum zu: Die Kontingenz der Welt, die unhintergehbare Erfahrung, dass alles auch ganz anders kommen kann, haben im Sport und in der Kunst ihre speziellen Refugien, ihre Spielwiesen gewissermaßen, denn es sind Felder, wo ein Scheitern reversibel ist. Als Attersee in die Kunstwelt kam, vollzog diese gerade ihre physische Wende, ästhetische Arbeit nahm sich mit Happening, Fluxus, Performance und Body-Art auf neue Weise den Leitfaden des Leibes vor und wurde körperlich, als sei sie ihrerseits Ertüchtigung. Dass Attersee den Paradigmenwechsel zum eigenen Körper als Medium der Kunst weniger buchstäblich nahm als viele seiner Freunde im Wien der Sechziger, dass seine Arbeiten Schaubilder blieben und sich nicht zum Aktionismus radikalisierten und brachialisierten, mag speziell mit dem Segeln zu tun haben. Für diesen Sport braucht man ein Hilfsmittel, das Boot und seine Ausstattung, die eine Verlängerung bedeuten, eine Hybridbildung zwischen Körper und Instrument – und damit von vornherein ein Distanzmoment einbauen. Immer wieder tauchen in Attersees artifizieller Welt Prothesen auf, die ebenso als Hilfsmittel funktionieren und bisweilen, als Takelagen oder Ruderblätter, die Bilder als Motive bevölkern. Dass irgendwann, nämlich 1971/72, ein „Zyklus Segelsport“ in diesem Œuvre auftauchen würde, ist da nur konsequent. Um dort anzukommen, bedurfte es zunächst der Einführung in die Kunst: in Gestalt einer Ausbildung.

Christian Ludwig Attersee

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