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DIE BALKANROUTE
GEHT AUF FLÜCHTLINGE
AUF DEM FAHRRAD

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Peter Kitzberger traut seinen Augen nicht, als er Anfang Juni 2015 in seinem Audi von einer Sicherheitsinspektion des neuen österreichischen Konsulats in Bitula zurück in die mazedonische Hauptstadt Skopje fährt: Auf der Autobahn kommen ihm auf den Pannenstreifen beider Fahrtrichtungen Flüchtlinge auf Fahrrädern entgegen. Bei 288 hört er auf zu zählen. Der österreichische Polizeiattaché beschließt, sich die Situation an der griechisch-mazedonischen Grenze in Gevgelija genauer anzusehen.

„Las Vegas des Balkan“ nennt sich das schmucklose, staubige 15 000-Seelen-Städtchen kokett. Seine glitzernden Attraktionen heißen Princess, Flamingo und Senator. Mit Kasinos und Zahnarztpraxen lockt Gevgelija Griechen aus dem Nachbarland; die Hafenstadt Thessaloniki ist nur 70 Kilometer entfernt, weniger als eine Autostunde. Doch in diesem Frühsommer suchen hier andere ihr Glück. Sie stechen dem österreichischen Polizeiattaché sofort ins Auge. In kleinen Gruppen streifen Flüchtlinge mit Rucksäcken umher. Noch dürfen sie die Züge der Staatsbahn nicht besteigen, noch müssen sie sich irgendwie weiter in Richtung Norden nach Serbien durchschlagen. Wer Geld hat, nimmt ein Taxi zu maßlos übertriebenen Preisen. Andere gehen bei Nacht zu Fuß über Landstraßen und Bahntrassen, immer der Gefahr ausgesetzt, überrollt oder von Räuberbanden überfallen zu werden. Und manche kaufen sich in Gevgelija für 300 Euro alte Fahrräder, die sie am Ende ihrer Autobahntour in Tabanovce an der serbischen Grenze für höchstens 30 Euro wieder verscherbeln können oder einfach liegen lassen. Von dort bringen Wucherer die Gefährte wieder zurück nach Gevgelija. Ein einträgliches Geschäft. Doch das ist erst der Anfang. Die mazedonische Gemeinde an der Grenze zu Griechenland wird zu einem Markt- und Umschlagplatz der Flüchtlingskrise. Händler bieten Getränke, Essen, Zigaretten und Handy-Ladekabel, verlangen für einen Laib Brot bis zu 16 Euro.

Kitzberger hat den Exodus schon länger auf seinem Radar. Seit April sickern Migranten in großer Zahl aus Griechenland ein. Im Frühsommer wird der Strom breiter, im Vergleich zum Vorjahreszeitraum verdreifacht sich die Zahl der illegalen Migranten. 1000 pro Tag überschreiten nun die Grenze zu Mazedonien. Es hält sie niemand mehr auf. Die Balkanroute ist aufgegangen: In Kos, Lesbos, Leros, Samos und Chios, den griechischen Inseln nahe der türkischen Küste, landen jeden Tag Hunderte Flüchtlinge in überladenen Schlauchbooten, manchmal direkt vor den Augen der badenden Touristen. Weggeworfene orange Schwimmwesten made in China säumen die Strände. Die nächste Etappe auf dieser Reise der Hoffnung ist weit weniger riskant. Fähren bringen die Gestrandeten nach Athen oder Thessaloniki, und von dort geht es gen Norden nach Mazedonien, dann über Serbien und Ungarn bis nach Österreich und nach Deutschland und Schweden. Auf sozialen Medien kursieren detaillierte Reiseführer für Flüchtlinge – mit konkreten Tipps und Warnungen. Auf WhatsApp und Viber haben sich Selbsthilfegruppen gebildet. Für einen Teil des Trips, auf jeden Fall bis an die ungarische Grenze, sind schon im Juni 2015 keine Schlepper mehr nötig.

Die mazedonische Polizei wird der Lage nicht mehr Herr, sie stellt die Grenzkontrollen ein. Es kommen einfach zu viele. Am 20. Juni kapituliert die ehemalige jugoslawische Teilrepublik offiziell. Das Parlament in Skopje verabschiedet ein neues Gesetz: Fortan hat jeder Einreisende 72 Stunden Zeit, Asyl zu beantragen oder das Land zu durchqueren und zu verlassen. Asyl in Mazedonien will niemand, alle wollen in den Norden. Jetzt dürfen die Flüchtlinge auch in Zügen und Bussen weiterreisen. Serbien verfügt bereits über ähnliche Regelungen. Der staatlich organisierte Weitertransport auf der Balkanroute hat begonnen. Mazedonien winkt durch. Das spricht sich herum und zieht noch mehr Flüchtlinge an. Auf dem Provinzbahnhof von Gevgelija spielen sich chaotische Szenen ab. Zwei Züge fahren pro Tag nach Serbien. Doch das ist zu wenig. Regelmäßig bricht Panik auf dem Bahnsteig aus.

Ungarn schlägt eine komplett andere Richtung ein. Es will einen Zaun hochziehen. Das hat die Regierung in Budapest am 17. Juni, nur drei Tage vor der mazedonischen Öffnung, bekanntgegeben. Ministerpräsident Viktor Orbán muss dafür heftige Schelte einstecken. Europa ist tief zerrissen und damit in der Flüchtlingsfrage gelähmt. Chaos breitet sich aus. Die Kombination aus offenen Grenzen, Taktiken des Durchwinkens und einsetzender Torschlusspanik nach den angekündigten Abschottungsversuchen löst eine gewaltige Dynamik auf der Balkanroute aus. Auf dem Flüchtlingstreck setzt ein regelrechter Run ein. Im Juni wagen 31 000 Menschen ihr Glück, im Juli 63 000, im August 108 000 und im Oktober dann 208 000. Griechenland, Mazedonien und Serbien sind nur die ersten Staaten, die die Kontrolle verlieren. Weitere werden im Sommer, Herbst und Winter 2015 noch folgen.

Der perfekte Sturm

Peter Kitzberger, Österreichs Polizeiattaché in Skopje, hält seine Beobachtungen in Berichten an das Bundesinnenministerium fest. Er meldet bereits im Juni, dass die Einführung der 72-Stunden-Regeln in Mazedonien und Serbien zu einem nicht mehr bewältigbaren Strom von Migranten an die Schengen-Außengrenze in Ungarn führe. Wien ist vorgewarnt. Nicht erst seit jetzt. Das Heeresnachrichtenamt hat die Krisenregionen in Europas Nachbarschaft von Nordafrika über Syrien bis Afghanistan schon lange im Blick. Die Analytiker hinter den dicken Mauern der Theodor-Körner-Kaserne in Wien-Penzing sehen bereits im März 2011 in einem Bericht höchste Belastungen für die Grenzsicherheit heraufdämmern.

Kriege und Armut lösen Migrationsströme aus. Das ist keine große Erkenntnis. Doch man nimmt sie erst wahr, sobald die Flüchtlinge vor der eigenen Haustür stehen. Ob in politischen, polizeilichen oder nachrichtendienstlichen Runden: Seit Jahren beklagen sich Italien, Griechenland, Spanien oder auch Bulgarien, die Länder an Europas südlicher Außengrenze, über den Andrang von Migranten. Doch die Vertreter der anderen Staaten hören meist weg. Sie sind nicht betroffen. Das ändert sich dramatisch im Flüchtlingssommer 2015. Auf einmal drängen die Flüchtlinge massiv in den Fokus. Eine verdrängte Realität wird sichtbar. Und mit den Bildern kommen auch die Emotionen, mitfühlende und abweisende.

Bis zum Anfang des Sommers prägen noch Flüchtlingsboote vor der italienischen Küste das öffentliche Bewusstsein. Am 18. April kentert 200 Kilometer vor der Insel Lampedusa ein mit Flüchtlingen vollgepferchter Fischkutter. Anfangs geschätzte Opferzahl: 700 bis 800 Tote (14 Monate später wird die Zahl nach Bergung des Wracks auf 500 korrigiert). Europa ist bestürzt. Die Regierungschefs der EU eilen vier Tage später zu einem Sondergipfel. Sie beschließen einen Zehnpunkteplan, verdreifachen die Mittel für Seenotrettung und sagen wieder einmal den Schleppern den Kampf an. Auch von einer fairen Verteilung von Flüchtlingen ist die Rede. Auf dem Reißbrett der EU-Kommission nimmt sich alles ganz schlüssig aus. Künftig soll es sogenannte Hotspots geben. Und von diesen Erstaufnahmezentren auf italienischen und später auch griechischen Inseln aus sollen die Flüchtlinge zugeteilt werden. Niemand denkt daran, dass sich die Flüchtlinge dort nicht aufhalten lassen und die Kapazitäten dieser Einrichtungen binnen kürzester Zeit sprengen werden. Vor allem aber vergessen die Idealisten und Bürokraten, dass Solidarität auch in dieser Krise nur ein Wort ist.

Brüssel arbeitet einen Plan für verpflichtende Quoten aus; der Vorschlag fällt bei einem Gipfel Ende Juni durch. Die osteuropäischen Staaten stemmen sich gegen zwangsweise Zuteilungen, die Briten klinken sich aus. Und so bleibt es vorerst bei freiwilligen Willensbekundungen, binnen zwei Jahren 60 000 Flüchtlinge aufzunehmen, davon 40 000, die sich schon in Griechenland und Italien aufhalten. Eine lächerlich kleine Zahl, ein Tropfen auf den heißen Stein angesichts dessen, was in den kommenden Monaten auf Europa zukommen wird. Der schöne Verteilungsschlüssel, den Experten der EU-Kommission mit allerlei wirtschaftlichen, sozialen und demografischen Indikatoren gewichtet haben, wird von der Wirklichkeit weggespült. Doch der Streit um mangelnde Solidarität und ungleiche Lastenverteilung, um Regeln und ihre Ausnahmen, um die richtige Herangehensweise in dieser Flüchtlingskrise wird bleiben und eine immer tiefere Kluft ins Gefüge der Union reißen. Bei einer ihrer schwersten Herausforderungen lähmt sich die EU selbst. Die Zeit nationaler Alleingänge bricht an.

Spätestens im Juli 2015 ist klar: In diesem Jahr kommen erstmals mehr Migranten über den Balkan als über die zentrale Mittelmeerroute nach Italien. Oberst Gerald Tatzgern, Leiter der Zentralstelle zur Bekämpfung der Schlepperkriminalität und des Menschenhandels im Bundeskriminalamt, schlägt am 1. Juli in einer Pressekonferenz Alarm. Mehr als 20 224 Personen hätten bis Mai 2015 illegal die ungarisch-österreichische Grenze passiert, mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr. Doch das ist nur ein kleiner Vorgeschmack. Neun Tage später warnt der türkische Europaminister Volkan Bozkir die EU eindringlich vor einer neuen Flüchtlingswelle aus Syrien. Die Aufnahmekapazität seines Landes sei erschöpft. Zwei Millionen Flüchtlinge beherbergt das Land. Lediglich 70 Millionen Euro Flüchtlingshilfe hat die EU der Türkei zugesagt. Und auch dieses Geld kommt nicht an.

Die Regierungen zwischen Athen, Wien und Brüssel erkennen die Zeichen nicht. Sie stecken die Köpfe in den Sand, anstatt sich vorzubereiten. Kaum jemand rechnet jedoch zu diesem Zeitpunkt auch nur annähernd mit der Dimension dessen, was auf Europa in der zweiten Jahreshälfte zurollt, weder die Spezialisten vom UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) noch der österreichische Auslandsnachrichtendienst, der im Juni eine Taskforce zur Balkanroute einrichtet. Das Heeresnachrichtenamt (HNA) übernimmt eine Aufgabe, die in den kommenden Monaten unerlässlich sein wird. Es versorgt die Ministerien für Verteidigung, Inneres und Äußeres sowie das Bundeskanzleramt mit Zahlen und Fakten, mit einem Aviso, welche Migrationsströme in den nächsten 48 bis 72 Stunden zu erwarten sind. Das Ausmaß wird die kühnsten Prognosen sprengen.

Ein perfekter Sturm hat sich zusammengebraut, eine Mischung aus massivem Migrationsdruck und außer Kontrolle geratenen Sogwirkungen. Nach vier Jahren Krieg in Syrien haben viele Flüchtlinge die Hoffnung aufgegeben, bald in ihre Heimat zurückzukehren. Aus Aleppo, das syrische und russische Kampfflugzeuge bombardieren, strömen weitere Schutzsuchende außer Landes. In den Nachbarstaaten hat sich die Situation verschlechtert. Der Libanon hat die Grenzen dichtgemacht. 1,2 Millionen Syrer tummeln sich in dem Fünf-Millionen-Einwohner-Land. Wer es in den Zedernstaat geschafft hat, muss um teure Aufenthaltsgenehmigungen ansuchen. Die Gastfreundschaft neigt sich dem Ende zu. Flüchtlingslager gestattet die Regierung in Beirut nicht, sie hat die palästinensischen Camps noch in schlechter Erinnerung. Im Libanon hausen die Schutzsuchenden in Garagen oder auch unter Plastikplanen zwischen Gewächshäusern im Bekaa-Tal. Die internationale Gemeinschaft lässt sie im Stich. Dramatische Appelle sind verhallt, Hilfsorganisationen haben aus Geldmangel Lebensmittelrationen im Libanon und in Jordanien kürzen müssen. Auch Österreich leistet nur unterdurchschnittliche Beiträge. Viele kommen nun mit dem Flugzeug oder per Bus aus dem Libanon in die Türkei. Noch brauchen sie dort keine Visa.

In der Türkei selbst sind die Flüchtlinge nicht als solche anerkannt. Anfangs haben sie keinen Zugang zum regulären Arbeitsmarkt, Kinder dürfen nicht in die Schule. Das soll sich ändern, aber erst später. Zu spät. Immer mehr erkennen keine Perspektive mehr für sich und ihre Nachkommen. Außer in Europa. In Griechenland hat sich eine Lücke geöffnet, die nun Tag für Tag größer wird. Die Chancen, auf den gelobten Kontinent zu gelangen, steigen. Die Schlepperpreise sind gesunken. Und die Türkei lässt die Zügel locker, in Izmir treiben die Menschenschmuggler ihre Geschäfte ganz offen, in den Schaufenstern werden Schwimmwesten feilgeboten. Die türkischen Behörden wollen oder können die Migranten nicht aufhalten. Die Türkei wird zum Durchhaus. Und es strömen immer mehr auf die griechischen Inseln. Sie sehen nun: Der Weg ist frei. Freunde und Verwandte schicken erste Bilder aus Deutschland, Schweden oder Österreich. Die Masse macht die Migranten stark. Es kommen immer mehr. 56 Prozent der illegalen Ankömmlinge in Griechenland stammen aus Syrien, 24 Prozent aus Afghanistan, zehn Prozent aus dem Irak, rechnet die Internationale Organisation für Migration am Ende des Jahres vor. Ein ungefährer Richtwert. Denn Unzählige führen gar keine Ausweise mit sich. Viele versuchen nun ihr Glück, auch Pakistaner, Iraner und andere. Es ist leicht, in der Menge unterzutauchen. Es wird kaum noch registriert.

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