Читать книгу Kleinstadt für Anfänger - Rainer Pleß - Страница 6

Pegau – die Stadt, die Menschen, das Universum und Alles

Оглавление

Die Stadt Pegau liegt in einer Lachfalte von Mutter Erde, dicht an deren Allerwertestem. Sie ist eine bescheidene hübsche Kleinstadt im Grenzgebiet Sachsens zu Sachsen-Anhalt, geprägt von vorwiegend zweigeschossiger, noch immer geschlossener Bebauung, die die mittelalterliche Stadtstruktur sehr schön erkennen lässt. Überragt wird die feine Stadt Pegau von den beiden Türmen der St. Laurentius Kirche, deren spitzem Dachreiter und dem Rathausturm, welcher nicht von ungefähr dem des Leipziger Alten Rathauses gleicht wie ein Zwilling seinem Bruder, der, obwohl jünger, allerdings in den ersten Jahren seiner Existenz der höchste Rathausturm Sachsens war.

Von einigen wenigen ihrer Bewohner wird die gute Stadt Pegau stolz „die Perle Sachsens“ genannt. Andere meinen nur gleichgültig „Peesche“ und die Alten erinnern sich an den Kanon der nahe beieinander liegenden Städte „Zwibbel-Borne“ (Borna), „Mause-Zwenke“ (Zwenkau), „Huren-Zeitz“ (Zeitz), „Babuschen-Greetzsch“ (Groitzsch) und nennen ihre Heimatstadt weiterhin liebevoll „Kuh-Peesche“. Dabei hat es, wenn auch mit wenig Erfolg, bereits aus den Reihen der Ureinwohner Versuche einer neuen Interpretation des Beinamens gegeben. So wurde behauptet, das Kuh- vor dem Stadtnamen stamme nicht von dem Tier gleichen Namens oder gar von Kuhbläke, was im Sächsischen der Begriff für ein sehr abseitiges, kleines, unansehnliches, verschissenes Dorf ist, sondern diene als Abkürzung für Kuchen-Pegau.

Netter Versuch, aber daneben. Nicht allein die Tatsache, dass Kuchen nicht mit „h“ nach dem u geschrieben wird, sondern es waren doch bereits im 16. Jahrhundert mehr als 8 Prozent der Bevölkerung Pegaus Kühe!

Damals Zeichen eines gewissen Wohlstandes, fühlen sich heute einige der Pegauerinnen von „Kuh-Peesche“ persönlich angesprochen und sind düpiert.


Pegau, vom Westen (von der Kippe) aus gesehen

Ich kenne leider noch zu wenige der jetzigen Bewohnerinnen dieser meiner selbst gewählten neuen Heimatstadt näher, um ein sicheres Urteil darüber abgeben zu können, wie viel Prozent der Einwohnerinnen gegenwärtig tatsächlich Kühe sind. Die eine oder andere wird schon darunter sein.

Würde man mit dem Versuch „Kuchen-Peege“ durchkommen, könnten die Zwenkauer ebenfalls mit Fug und Recht behaupten, das Mause- vor ihrem Stadtnamen käme tatsächlich von der großen Mäuseplage und nicht von den Spitzbuben, die einst hier die Auen besiedelten und gute Versteckmöglichkeiten fanden. Oder die Bornaer könnten dann behaupten, die Zwibbel vor Borna würde nicht bedeuten, dass hier unendliche Mengen der würzigen Knollen angebaut worden seien, sondern in ihrer Stadt hätte es in früheren Jahren Unmengen von Taschenuhren (in Sachsen: „Zwibbel“) gegeben. Versucht nicht, eure Herkunft zu klittern! Nur wer das Gestern kennt kann das Heute verstehen! Bleibt, was ihr schon immer ward: Nachkommen der Kühe, Mausediebe und Zwibbeln.

Ich würde den Stadtoberen von Peege (Pegau) allerdings empfehlen, das Kuh einfach zu ersetzen durch den Buchstaben Q, groß geschrieben. In einem anderen Land zu einer anderen Zeit stand das einmal als Zeichen für Qualität. Das könnte allerdings ein Hemmnis für die Durchsetzbarkeit dieses Vorschlags sein.


Kuh-lisse (Pegau, Schlossstraße)

Die zauberhafte, meist sonnenbeschienene, saubere und schöne kleine Stadt Pegau liegt 131 m über dem Meeresspiegel, was aber nicht verhindern kann, dass das ansonsten recht behagliche Flüsschen Elster, welches Pegau in aller Regel sanft umspült, mitunter, selten zwar, dann aber umso gründlicher, die goldene Aue überflutet, so dass es einigen Bewohnern erscheint, als wohnten sie am Gestade eines großen Meeres. Und dann mutet es seltsam an, wenn in den Hausanschluss- und Heizkellern das Toben der Flut zu vernehmen ist.

Pegau war nicht immer das kleine, unbedeutende Städtchen am Rande des sächsischen Universums. Es wurde gegründet von einem ritterlichen Abenteurer und Draufgänger, Freund des deutschen Kaisers, Schwiegersohn des Böhmischen Königs, Mörder der ortsansässigen Edlen und Markgraf von Meißen, von Wiprecht II.

Das heißt, Pegau entstand als Nebenprodukt der Klostergründung, die zur Ableistung einer Buße eines reichsständigen Edlen seiner Zeit für dessen Himmelfahrt erforderlich geworden war. Die Stadt blieb aber nicht lange Nebenprodukt.

Als Kaiser Rotbart Lobesam aus dem heilgen Land gezogen kam machte er Station im Pegauland am wunderschönen Elsterstrand und verlieh Pegau Stadtrecht, Marktrecht und niedere Gerichtsbarkeit. Von da an ging’s bergauf.

Pegau hatte in seinen guten Zeiten, laut Aussage des sehr verdienstvollen Ortshistorikers, Herrn Tylo Peter, den höchsten Rathausturm Sachsens, hatte einen Wochen-, einen Tauben, einen Vieh-, einen Salz- und einen Mägdemarkt, es war Sitz der Superintendentur, es war Garnisonsstadt ohne Kaserne. Es war Sommerresidenz eines Herzogs, es hatte ein reiches Kloster, bereits im 16. Jahrhundert eine Knabenschule, es hatte einmal zwei Postmeilensäulen, es hatte einmal fast 38 Kneipen, Gaststätten, Restaurants und ähnliche Etablissements, es hatte einmal sieben Tankstellen und bis 1918 einen Brückenzolleinnehmer. Es hatte auch lange Zeit eine glänzende Zukunft.

Doch bereits im 14. Jahrhundert trafen die ersten Schicksalsschläge die Stadt. Sie brannte mehrfach nieder, und das war in der alten Zeit, als noch alles, was in Pegau geschah, Hand und Fuß hatte und gründlich getan ward.

Jedoch unter Absingen des schönen alten Chorals: „Überall wohin man schaut, wird auf – ge – baut …“ ließen Klosterbrüder und Stadtväter das Städtchen wieder auferstehen. Wieder und wieder. Bis zum Ende des 30jährigen Krieges. Da war denn auch das wunderschöne und fast noch nagelneue Rathausdach verkohlt. Von diesem Dachschaden im Rathaus hat sich Pegau nie wieder gänzlich erholt. Und es erging manch anderer Stadt auch in späteren Zeitläuften ähnlich. Pegau jedoch gebührt die Ehre und das Verdienst, als erste Kommune im Reiche nachgewiesen zu haben, dass bereits ein Dachschaden in kommunalpolitischem Umfeld zur Verstümmelung bis dato hoffnungsvollen politischen und merkantilen Werdens ausreicht.

Und wem hat Pegau das zu verdanken? Nicht dem damaligen Bürgermeister oder dem städtischen Rat, obwohl in heutigen Tagen diese Schuldzuweisung sehr schnell erfolgen würde und von den Bürgern ungeprüft mit dankbarem Gejohle aufgenommen würde. Nein! Man verdankt die Zerstörung der Stadt dem Flachsveit und dem Fiedelhans, zwei zu ihrer Zeit bereits übel beleumdeten Zeitgenossen. Die waren zwar nur auf Bewährung, hatten aber dennoch geforderte Kriegskontributionsgelder der Pegauer auf dem Transport zu den alten Schweden, diesen kriegerischen Herren in Leipzig, geraubt, die dann auch gleich angerannt kamen und dabei bemerkten, dass das Pegauer Rathaus wie das ihre aussah, nur einen noch höheren Turm hatte. Und da sich Pegau nicht eingemeinden ließ, schossen sie es zu Klump.

Die Belagerer waren unerbittlich. Sie wüteten mit ihren Kanonen, dass den friedfertigen Bürgern der guten Stadt Pegau Hören und Sehen verging, der rote Hahn auf allen Dächern krähte und groß Heulen und Zähneklappern war. In dieser Situation fasste sich der damalige Superintendent, Herr Lange, ein Herz, steckte etwelche Knäbelein in weiße Totenhemden und zog mit ihnen in das Lager des schwedischen Obristen Torstenson unter Absingen des Liedes, das meines Erachtens ungefähr so ging: „Wenn die Not am größten sein und wissen nicht mehr aus noch ein …“ Und da geschah das Wunder von Pegau! Der alte Schwede mit offensichtlich doppelter Staatsbürgerschaft erkannte in Herrn Lange seinen ehemaligen Lehrer und stellte die Belagerung ein.

Wie viele der heutigen Schüler und Jugendlichen würden ebenso handeln? Würde die heutige Jugend nicht eher die Kanonen nochmals und schärfer laden, um sich für die von ihren Lehrern an ihnen verübten Unannehmlichkeiten zu rächen? Ist nun die moderne Erziehung tatsächlich die bessere?

Ich würde den nächstens neu zu wählenden kommunalpolitischen Lichtgestalten unserer Stadt empfehlen, die aus Kostengründen seinerzeit nicht wieder errichteten großen Dachgauben (welche das Leipziger Rathaus noch immer zieren) wieder auf unser Rathaus bauen zu lassen und dann mit einem großen Bild dieses Gemäuers und dem Slogan: „Das Rathaus zu Pegau wurde bereits im 16. Jahrhundert ohne Unterbrechung wegen mangelhafter Finanzierung (wie z. B. in Leipzig) errichtet. Investoren aus aller Welt, vergleichen Sie und kommen Sie nach PEGAU“ an alle größeren Auto-, Flugzeug-, Computer- und Elektronikherstellungskonzerne schicken. Vielleicht könnte man damit auch die eine oder andere Deutsche Bank anlocken. Slogan: „Kreditwürdig. Wir bürgen mit unserem Rathaus!“

Denn Handel und Gewerbe kann auch Pegau nur gut tun. Die Investoren dürften dann allerdings nichts vom großen Gewerbevereinsdebakel Pegaus erfahren. Vor der vorletzten Vorstandswahl diskutierten die Mitglieder dieses Vereins darüber, ob sie sich wegen statthabender Sinnkrise nicht selbst auflösen sollten (nicht die Mitglieder, nur den Verein). Man kam allerdings zu dem Beschluss: „Nein, wir lösen uns nicht selbst auf, wir wählen erst einmal einen neuen Vorstand, und dann überlegen wir uns, wozu wir da sind.“

Offensichtlich hat man noch immer mit dem Selbstfindungsprozess nicht abschließen können. Sonst wäre es, glaube ich, möglich gewesen, dass die Gründung und vor allem der Bestand eines Second-Hand-Shops für Kindersachen und Spielzeug dadurch hätte gefördert werden können, dass die zweimal im Jahr durchgeführte unentgeltliche städtische Kindersachenbörse, eine durchaus wohltuende und nutzbringende Einrichtung, nur nicht für einen neuen Gebrauchtwaren-Laden für Kindersachen und Spielzeug, zumindest vorübergehend, ausgesetzt worden wäre.


1991: Hat sich Ihr neuer Vermieter schon gemeldet?

Wenn man allerdings so wie in diesem Falle, mit Gewerbeansiedlung umgeht, muss man sich nicht über die ständig wachsende Zahl leerstehender Schaufenster auf dem Broadway der Stadt wundern. Diese mit Kunst kostenlos füllen zu wollen ist da zwar sehr preiswert, doch weder Ausweg noch Lösung. Aber vielleicht könnte man im Rathaus noch eine Sekretärin mit der Funktion des Verantwortlichen für Wirtschaftsförderung und -ansiedlung betrauen. In anderen Bereichen funktioniert dieses Pegauer Modell doch auch schon ein wenig? Oder?

Der Pegauer als solcher oder auch als Mensch betrachtet gehört zu einer besonderen Spezies des Homo Sapiens, natürlich, aber in seiner weiterentwickelten Form, dem Homo sapiens pegauensis sozusagen. Der weiß alles, besonders besser. Nicht aus eigenem Erleben, sondern vom Hörensagen.

So gab es einst kurzzeitig einen Betreiber des Ratskellers. Der machte ein Rumpsteak mit Whiskysoße – einsame Spitze. Hab ich immer mal wieder gern gegessen. Als ich das einmal im Gespräch fallen ließ wurde ich bestaunt wie ein entsprungener Geisteskranker: „Na, hast ja noch gute Zähne, kannst’e die rohen Kartoffeln ja gut beißen.“ Ich war verwundert: „Wie das? Ich hab noch jedes Mal ordentliche Salzkartoffeln bekommen.“ Mein Gegenüber im Brustton der Überzeugung: „Ä, der kann nur rohe Kartoffeln und kochen sowieso nicht.“ Ich, mehr als erstaunt: „So? Waren deine Kartoffeln nicht durch oder was? Wie oft warst’e denn schon dort?“ Mein Gesprächspartner grinst mich überlegen an: „Na, da geh ich doch gar nicht erst hin. Rohe Kartoffeln krieg ich viel billiger in der Kaufhalle. Sogar mit Schale.“

Oder nehmen wir die kleinen Geschäfte in der Breitstraße. Um die wird Pegau weit und breit beneidet. Bei einem Stadtrundgang bemerkte ein Leipziger Gast zu einem mitlaufenden Pegauer: „Sogar einen Fisch- und Gemüsemann wie in alten Tagen habt ihr hier! Mensch, das glaub ich doch nicht! Dass es so was noch gibt. Da beneide ich Sie aber!“ Der Pegauer knurrte jedoch: „Da geh ich sowieso nicht hin.“ Der Leipziger, sehr verwundert: „Aber warum denn nicht?“ Worauf der Pegauer wütend antwortete: „Da wird der bloß noch reich von.“ Der Auswärtige ließ nicht locker: „Und Sie machen lieber Lidl oder Netto reich, was?“ „Außerdem viel zu teuer. Ich hab da mal Tomaten gekauft, die waren 40 Cent teurer als bei Lidl.“ Sein Gegenüber, zweifelnd: „Das Kilo?“ Da wurde auch er angeschaut, als wäre er soeben vor den Schrubber gerannt: „Nee, die Tomaten!“

In diesem Fall war Selbsterleben Ursache der Erkenntnis, aber hier wird deutlich, warum es für den Pegauer besser ist, sich auf Hörensagen zu verlassen.


Im Elsterflutbecken

Mir selbst ist folgendes passiert: Weil immer mehr Schaufenster leer stehen, ließ mir der Bürgermeister über einen seiner Mitarbeiter mit den Worten antragen: „Das ist doch auch für Sie eine gute Reklame“, in diese leeren Fenster Bilder zu stellen bzw. zu hängen. Er ließ nicht locker, also ließ ich mich breitschlagen und tat es. Was ist das Resultat? Ich wurde in pegauische Gedankengänge einbezogen. Der gemeine Pegauer kam zu drei Schlussfolgerungen: „1. Der muss es ja nötig haben, überall seinen Scheiß aufzuhängen, wird ihn wahrscheinlich nicht mehr los. 2. Jetzt hab ich Bilder von dem gesehen, muss ich ja nicht mehr in die Galerie gehen, und 3. Wer weiß, was die dem wieder zahlen, damit der seinen Mist hier aufhängt.“

Fehlt nur noch, dass der Wanderer wieder des Wegs kommt, der uns immer vorhält: „Na, das könnt ihr doch alles von der Steuer absetzen.“

Die so charakterisierte pegauische Mentalität kann man im Übrigen mit der des Zaunkönigs vergleichen. Nicht, dass er so flatterhaft wäre oder so grazil oder ständig auf seinem Zaun säße. Nein, er sitzt ständig dahinter. Und wie regierende Staatshäupter überhaupt nur schwer aus ihren Territorien zu locken sind, ist auch er nur schwer hinter der stabilen Markierung aus Latten und Riegeln hervor zu bekommen. Das gelingt noch am ehesten mit geselligem Essen und Trinken, am sichersten jedoch mit Freibier und einer kostenlosen Bratwurst.

Es ist zwar nicht ganz einfach und manches Mal weiß man auch nicht, warum, aber wenn es einen gepackt hat, dann mag man ihn dennoch, so wie er ist, den Pegauer. Und genau hingeschaut, etwas sind wir doch alle so.

Unter diesen Gesichtspunkten sollte man für die Wiederherstellung der großen Dachgauben auf dem Rathaus Landesmittel aus dem Topf für Wirtschaftsförderung akquirieren. Schwieriger ist das mit dem für den anlässlich des erwarteten Aufstiegs des TuS Pegau in eine höhere Kreisklasse geplanten Anbau eines Balkons an das Rathaus. Dazu könnten höchstens Mittel aus dem Topf für Sportförderung beantragt werden.

Das wunderhübsche Städtchen Pegau, malerisch gelegen in der goldenen Aue, durchquert von dem wilden Flüsschen Elster, war schon immer geprägt von der Geduld seiner Bewohner. Als letzthin die Elster weit über ihre Ufer trat und ihnen erklärt wurde, dass man für Pegau nichts tun könne, weil dann die Leipziger feuchte Füße bekämen, blieben sie ruhig und meckerten, wie immer, still hinter ihren Gartenzäunen herum.

Diese unerwartete Duldsamkeit führte nun dazu, dass Pegau wieder einmal in seiner langen Geschichte überregionale Bedeutung erlangen wird, nämlich als ausgewiesene Hochwasserschutz-Polderfläche für Leipzig.

Es wird zurzeit gerätselt, ob der nächste Bürgermeister von Pegau ein Versicherungsfachmann oder ein Grüner sein wird?

Kleinstadt für Anfänger

Подняться наверх