Читать книгу Kleinstadt für Anfänger - Rainer Pleß - Страница 8
Wie und warum wir in die Kleinstadt kamen
ОглавлениеEs ist in einer Kleinstadt schon seit Jahrhunderten ein bemerkenswertes Ereignis, wenn wieder einmal deutlich wird, dass ein Neubürger in den Straßen der Stadt sein Unwesen treibt. Sofort nach erstem Bekanntwerden dieses Ereignisses setzt sich die Gerüchtemaschinerie in Betrieb und über den ahnungslosen Noch-Fremdling werden Dinge in Umlauf gebracht, die, kämen sie diesem zu Gehör, ihm entweder die Schames- oder die Zornesröte ins Gesicht trieben. So auch bei unserem Einzug in unser neues Domizil. Die Tatsache, dass wir unser neues Zuhause außerhalb des Innenstadtringes gewählt hatten, etwas randständig also, trug nicht gerade zur Steigerung unserer Vertrauenswürdigkeit bei.
Als dann bekannt wurde, dass wir eine kleine Bildergalerie eröffnen wollten und ich gar einer aus der Zunft der Kunstschaffenden sei, erklomm das Misstrauen und mitbürgerliche Neugier ungeahnte Höhen.
Da wir ein Altbauhaus gekauft hatten, das etwas mehr als nur reparaturbedürftig war, musste vor unserem Einzug erst noch sehr viel gebaut, repariert, saniert und bearbeitet werden. Schnell sprach sich herum, dass wir die Arbeiten zum größten Teil selbst ausführten, was uns nach und nach wieder in den Bereich von normalen Menschen rückte.
Auch erkannten die Eingeborenen mit der Zeit, dass die Neuankömmlinge halbwegs höfliche und zurückhaltende Erdenbürger waren und dass man mit ihnen keine größeren Schwierigkeiten haben würde. Bereits vor Eröffnung unserer Galerie hatte sich herumgesprochen, dass in unserem Gefolge weder kiffende noch in ständigem Rotweinrausch ganze Nächte hindurch grölende und feiernde Künstlerbanden die Stadt durchstreifen würden.
Zur Eröffnung unseres kleinen Ladens hielt ich es dann für angebracht, meinen zukünftigen Mitbewohnern kund und zu wissen zu geben, warum wir gerade in ihre Stadt geraten waren.
Regen auf dem Kirchplatz
Ich ergriff das Wort und bekannte ihnen: „… und doch höre ich trotz allen Lärms der Freude, der Vivat-, Hoch-, Hosiannarufe, der Freudenböller und des begeistert erregten Volksgemurmels ob unseres nunmehrigen Hierseins noch hie und da die erstaunte Frage: „Wieso sind die denn jetzt hier? Weshalb, wodurch und vor Allem warum …?“
Ich will es Ihnen sagen. Nicht, weil die ewige Neugier der Massen zu stillen Not täte, sondern weil es ein gar lehrreich Exempel in unserer heutigen Zeit ist:
Alles begann mit einem neuen Jahrtausend in der Menschheitsgeschichte.
In den zehn Jahren davor hatten wir bereits gelernt, dass der, nennen wir ihn heute den Alt-Bundesbürger, ein Meister in der pseudo-intellektuellen Formulierung von Plattitüden ist.
Ich habe schon immer bewundert, wie man selbst das Dümmste so formulieren kann, dass sich die Intelligenz des Landes nachdenklich am Kopfe kratzt, oder wie man selbst das Unangenehmste so auszudrücken vermag, dass der Betroffene durch die Beschäftigung mit dem langwierigen Versuch der Entschlüsselung des Gesagten gar nicht bemerkt, dass die gemeinte Katastrophe bereits über ihn hereingebrochen ist und er den Redner dadurch für einen Visionär zu halten bereit ist.
In unserem Falle war es die Randnotiz in einer Zeitschrift, die da lautete: „Die heute Fünfzigjährigen müssen ihr Lebenskonzept neu überdenken.“ (Zitat Ende)
Klingt das nicht wunderbar? Impliziert das nicht, wir älteren Herrschaften wären noch mindestens so dynamisch wie Berufsanfänger? Wir hätten noch eine Zukunft?
Ändere dein Leben, sei der Schmied deines Glücks, das Glück liegt auf der Straße, ein neues Lebenskonzept bedeutet immer auch: „Wage den Neuanfang, sei der, den du schon immer bewundert hast: Ein Aussteiger, ein Verweigerer, der coole Typ von der Nachbarinsel.“
Ich war beglückt darüber, dass man mir das alles zutraute, hatte ich doch bis zu diesem Zeitpunkt gar keine Ahnung, dass ich ein Lebenskonzept überhaupt bräuchte.
Da lebt einer so still vor sich hin, hat mit den Jahren eine Aufgabe gefunden, die ihn befriedigt und am Leben erhält, glaubt an innere Zufriedenheit und ähnlichen Unsinn, und dann so etwas!
Als die Scham über mein fehlendes Lebenskonzept dem Nachdenken wich, kam ich allerdings bald dahinter, was gemeint war: Du kannst dich nicht mehr darauf verlassen, mit 65 in den Ruhestand zu gehen und vorher zehn Jahre entweder Frührente oder arbeitslos zu feiern.
Die Zeiten sind vorbei!
Die Türme von Pegau
Das finden wir ab diesem neuen Jahrtausend ekelhaft.
Dieses sozialstaatliche Schmarotzertum können sich die heute Dreißigjährigen nun wirklich nicht mehr bieten lassen.
Und noch eine schöne Formulierung aus Politikermund: „Wir müssen uns vom Staate emanzipieren!“, also unabhängig machen, endlich mündig werden.
Der mündige über Fünfzigjährige muss endlich sein Leben und damit vor allem seine Lebensversorgung selbst in die Hand nehmen.
Von wegen Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung sei eine Versicherung im Sinne von Einzahlen und im Bedarfsfalle ausgezahlt bekommen.
Da zahlt sich nichts mehr aus, außer den Gehältern der dort Beschäftigten! Oder wollen Sie, dass diese Tausenden von gut bezahlten Leuten auch noch arbeitslos werden? Sozialpartnerschaft, verstehen Sie? Sie zahlen ein und andere leben davon. So funktioniert sie wieder, die demografische Solidargemeinschaft.
In diesem Sinne zahlt sich schon was aus, aber eben nicht für den Einzahler.
Das geforderte neue Lebenskonzept sieht ja auch vor, dass bis 100 voll gearbeitet wird und dann halbe Tage.
Und jeder ist seines Glückes Schmied und sucht sich selbst einen Job. Seien Sie so frei!
Seien Sie so frei wie zum Beispiel ein Freiberufler.
Seien Sie endlich selbständig und machen Sie sich dasselbe! Denn nur die Schaffung neuer Arbeitsplätze kann die Umsetzung der neuen Lebenskonzepte sozial und staatlich verträglich machen.
Die Erfahrungen der Alten nutzen. Alzheimer als freiberufliche Regierungsberater oder Demente als Rankingagentur für innovative Bankprodukte. In Ansätzen heute schon vorhanden. Aber ausbaufähig!
Es war also anno Domini 2003, als mich ob dieser Erkenntnisse mein einzig geliebtes Eheweib bei der Hand nahm und sprach: „Alter, wir leben hier in unverantwortlicher Zufriedenheit vor uns hin und haben uns bisher keinen einzigen Gedanken darüber gemacht, dass sämtliche bundesdeutschen Finanzminister und Finanzministerinnen, Arbeitsminister und Arbeitsministerinnen, ja, sogar Bundeskanzler und Bundeskanzlerinnen unsertwegen keinen Schlaf mehr finden und ständig bittere Tränen über unsere Zukunft vergießen müssen, sodass sie bereits Kopfweh haben wegen unserer unbesonnen Art, in den Tag hineinzuleben und ihnen unzählige Sorgenfalten darüber wachsen, wer wohl zukünftig für ihr Gehalt aufkommen soll. Die heute Dreißigjährigen reichen da schon rein zahlenmäßig gar nicht aus. Das Volk kann die Welt nicht noch einmal verändern, jetzt muss sich endlich auch mal das Volk ändern. Und Volk bist auch du, mein Lieber, …“
Da wurde ich sehr nachdenklich und erinnerte mich daran, dass es bereits zu DDR-Zeiten so eine Sache war mit der Rente. Hieß nicht „sozialistisch sterben“ den Löffel zwei Tage vor dem 65. Geburtstag abzugeben? Oder erinnern Sie sich nicht mehr an das Gerücht, demzufolge jeder bei Eintritt in das Rentenalter ein gelbes Mützchen bekommen sollte? Jeder Rentner wäre demnach verpflichtet gewesen, das gelbe Mützchen zu tragen und jeder Kraftfahrer sollte am Quartalsende mindestens drei gelbe Mützchen abgeben.
Aus heutiger Sicht ließe sich das noch durch die Zahlung einer Abwrackprämie für Rentenempfänger ergänzen! Bei Abgabe eines gelben Mützchens erhält der Abgebende z.B. eine KFZ-Steuer-Gutschrift von 3,1 Prozent.
Da wir (nämlich mein ehliches Gemahl nebst mir) aber bei aller zu beschließenden Neuorientierung ein Dasein als Politiker von vornherein ausgeschlossen hatten (denn ehrlich währt am Längsten), behielten wir die Wiederbelebung dieses Vorschlags zur Regulierung der Alterspyramide für uns und orientierten uns auf das Wesentliche.
Nach verschiedenen erfolglosen Versuchen gaben wir es auf zu versuchen, aus Rentenanwärtern heute Dreißigjährige zu machen. Das erwies sich leider als der falsche Ansatz.
Doch die Diktatur der Freiheit ließ uns nicht ruhen.
Nach heftigen Debatten und durchdiskutierten Nächten kamen wir dann im vierten Jahre des neuen Säkulums zu der unwiderlegbaren Erkenntnis, dass die Moderne sich nicht nur in der Kunst selbst überlebt habe und die aktuellen Methoden weder in der Finanzpolitik noch im wirklichen Leben zu irgend einem brauchbaren Ergebnis taugen könnten.
Mehr und mehr brach sich die Erkenntnis Bahn: Wir müssen uns wieder auf die Werte der Alten besinnen und diese nicht nur in der Bildungspolitik nach Brauchbarem durchsuchen! Es war nicht alles schlecht, auch nicht damals, als der Märchenwald noch hinter den letzten Häusern des Dorfes begann und noch nicht im Plenarsaal des Bundestages eingeschlossen worden war.
Also beschlossen mein Weib und ich, in die weite Welt hinauszuziehen und unser Glück zu suchen.
Wir schnürten unser Bündel und wanderten über sieben Berge und um sieben Seen, die gerade im Leipziger Neu-Seenland im Entstehen waren, bis wir eines Tages hier in Pegau ankamen.
Wir fuhren (oder wurden gefahren) einmal durch diese gute und schöne Stadt und verliebten uns stande pedes in dieselbe. Hier gab es noch Menschen auf Straßen und Gehwegen, die miteinander schwätzten, war die eine oder andere Person in kleidsamer Kittelschürze beim Weg zum Einkauf noch zu erkennen, zierten viele wunderhübsche, saubere, renovierte Häuschen den Wegesrand und es schien alles so zu sein, wie es sein sollte. Wir hatten unsere Insel gefunden.
Nun sind wir da und Sie müssen mit uns leben, bitteschön.
Darüber hinaus war es uns natürlich auch fürderhin wichtig, an unserem neuen Lebenskonzept weiter zu arbeiten. Nach längeren hitzigen Debatten und Diskussionen kam uns nämlich die Erkenntnis, dass es mit einem einfachen Ortswechsel nicht getan sein könne. Auch wenn wir als Einwohner einer Kleinstadt wesentlich bequemere Bürger für unsere Staatsführung sind, als es Großstädter jemals werden können.
Aber mit unserem Umzug in eine Kleinstadt verzögern wir doch nicht den Zusammenbruch der Sozialsysteme, der unter der jetzigen, spätestens aber unter der nächsten Bundesregierung gesetzmäßig erfolgen muss. Wir müssen uns endlich eigenverantwortlich ökonomisch stabil aufstellen, unabhängig, selbstständig machen und dadurch den Weltfrieden in unserem Land für unsere Bundesregierung zelebrieren lernen. Und wenn uns dieses gelungen ist, Bundeskanzlern oder Bundeskanzlerinnen ihren ruhigen Nachtschlaf zu sichern, dann müssen wir auch bereit sein, diese gewonnene Selbständigkeit in die Welt hinaus zu tragen und auch der dritten und vierten Welt zu vermitteln.
Tauben füttern an der St.Hedwigs Kapelle
Also werden wir bis zu unserem einhundertsten Geburtstag voll arbeiten, dann nach Quakenbrück ziehen, um dort dem gemeinnützigen Verein zur elektronikfreien Kommunikation humanoider Lebensformen unsere Erfahrungen aus den fünfziger bis achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ehrenamtlich zur Verfügung zu stellen und weitere fünfundzwanzig Jahre später in die Wüste gehen, um dort einen Zirkel für Ikebana, das sogenannte Wüstenikebana, aufzubauen.
Weiter geht unser Lebenskonzept bisher noch nicht. Ich gebe auch zu, mich darob sehr zu schämen. Aber was weiß man denn heute, wie sich die Situation der Krankenkassen in den nächsten zwei bis drei Jahren entwickelt und ob Quakenbrück als selbständige Gemeinde in siebenunddreißig Jahren überhaupt noch existiert? Oder die Wüste?