Читать книгу Eringus, der Drache vom Kinzigtal - Rainer Seuring - Страница 5

Verstoßen

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„Ihr habt nach uns geschickt, Herr.“ Unterwürfig steht Arnfried in angemessener Entfernung vor seinem Herrn, dem Grafen. Arnfried ist ein behauster unfreier Bauer von etwa 40 Jahren und muss auf des Grafen Land für diesen arbeiten. Entsprechend ist sein Äußeres. Die angegrauten Haare kurz und unfrisiert, das Gesicht dunkel gebräunt und vom Wetter gegerbt. Beim Sprechen werden gelb verfärbte schlechte Zähne sichtbar. Nur die graublauen Augen zeugen davon, dass Arnfried nicht so alt ist, wie er scheint. Seine hagere Gestalt ist eingehüllt in eine schäbige grobe Tunika mit vielen Flickstellen. Einen Mantel kann er sich nicht leisten. Unter der Tunika erkennt man ebenso ärmliche lange Strümpfe über den stark abgenutzten Bundschuhen. Das Mädchen neben ihm ist das Bruderkind Magda. Seit ihre Eltern ums Leben kamen, lebt sie, damals zu jung um zu heiraten, im Haushalt des Onkels. Ihre Kleider sind genauso schlecht. Magda ist gerade 16 Jahre alt geworden, scheint aber figürlich eher noch kindlich zu sein. Ihre langen schwarzen Haare wirken besser gepflegt, als die Kleidung. Die braunen Augen blicken ständig umher. Sie war noch nie in einem so großen und vornehmen Haus und es gibt viel zu sehen. Die edlen Teppiche an der Wand, der große Kamin, in dem im Winter ein wärmendes Feuer brennt, das goldene und silberne Geschirr auf den Tischen, alles zeugt vom Reichtum des Grafen. Allein dieser Raum ist größer, als die ganze verqualmte Hütte, in der sie mit ihrem Onkel, dessen Frau, der Großmutter und den fünf Kindern leben muss. Ihnen gegenüber, auf deutlich höherem Untergrund und nur über zwei Stufen zu erreichen, steht ein großer Tisch, hinter dem der Graf in einem gepolsterten Stuhl sitzt. Der Herr ist bestimmt jünger als Arnfried, etwa 35 Jahre, stärker und größer von Gestalt. Ein Zeichen besserer Ernährung. Er hat wallende schwarze Haare, einen schwarzen kurz geschnittenen Bart und dunkle Augen. Er wirkt sehr edel und ist natürlich viel schöner gekleidet. Die blaue Tunika fällt bis zu den Knien, ist an den Ärmeln wunderbar verziert und lässt eine dunkle Hose in den Beinbinden sehen. Der Mantel wird von einer goldenen Fibel gehalten. Magda fürchtet sich ein wenig vor dem Mann, der sich ihnen jetzt zuwendet.

„ Ja, Arnfried.“ sagt Graf Guntbert mit voller dunkler Stimme. Er hat die Papiere aus der Hand gelegt und blickt seinen Bauern an. „Wie ich hörte, gibt es wohl demnächst in eurem Hause etwas zu feiern. Dies Mädchen an eurer Seite soll guter Hoffnung sein. Da denke ich doch, es wird vorher noch Hochzeit gefeiert. Ist dem nicht so?“ Guntbert ist zwar ein harter und sehr strenger Herr, aber auch sehr gerecht und nicht schlecht zu seinen Abhängigen. Zu großen Festen lässt er gern einmal die Arbeit ruhen. Ein solcher Anlass wäre eine Hochzeit.

Arnfried druckst herum. „Ja, Herr, aber auch nein.“

„Was wollt ihr mir damit sagen? Wie soll ich das Gestammel verstehen?“ Der Graf hat sich in seinem Stuhl etwas aufgerichtet und wirkt auf Magda jetzt noch ein wenig bedrohlicher, obwohl er weiter in ruhigem Ton spricht. „Ist Magda denn nicht schwanger?“

„Doch, Herr.“

„Also wird doch auch geheiratet?!“

„Ich fürchte Nein, Herr.“ Arnfried wird immer kleinlauter.

„Wieso wird nicht geheiratet? Das Mädchen ist doch nicht von allein schwanger geworden. Sie ist nicht die heilige Jungfrau.“ Es folgt eine kurze Pause, dann fragt Graf Guntbert nach tiefem Atemzug: „Wer ist denn der Vater?“

„Nun ja, Herr. Bisher ist es mir noch nicht gelungen, dies zu erfahren. Magda verrät es nicht.“

Der Blick des Grafen schwenkt auf die bisher nicht beachtete kleine Magda, die sich jetzt ganz und gar nicht wohl fühlt. „Was soll das heißen, kleine Frau? Was ist mit dem Burschen? Weigert er sich, zu seinem Kind zu stehen? Ihr könnt ihn auf seine Pflicht verklagen. So sprecht nun auf der Stelle!“ Des Grafen Tonfall ist nun etwas drängender geworden. Magda blickt ihn furchtsam an und sagt nichts. „Wie lange soll ich auf eine Antwort warten?“

So erreicht er nichts. Magda sieht stur auf ihre schmutzigen Füße und schweigt hartnäckig. Sie weiß: Wenn sie jetzt spricht, wird der Herr nicht mehr so ruhig auf seinem Platz bleiben. Er wird laut werden. Vielleicht lässt sie der Graf schlagen. Wenn sie aber nichts sagt, wird sie vielleicht der Onkel schlagen. Und wenn sie die Wahrheit sagt, wird man meinen, sie lüge und dann wird man sie auch schlagen. Alles läuft in ihrem Kopf durcheinander und kommt immer wieder nur zu einem Ergebnis: Man wird ihr sehr weh tun.

Das nun währende Schweigen wird für das Mädchen immer bedrückender und endlich entschließt sich Magda, zu reden. Stockend beginnt sie: „Es war so, Herr. Es war zum Frühlingsfest. Wir hatten unsere Arbeit auf dem Feld des Herrn getan und freuten uns auf ein wenig feiern. Es war auch sehr lustig. Die Musik spielte. Manche Leute tanzten. Nebenan waren Burschen in Streit geraten und schlugen sich. Andere lachten und tranken. Ich stand an einen Baum gelehnt. Da hat mir plötzlich einer von hinten die Augen zu gehalten.“

Magda vergisst ihre Ängste und redet immer flüssiger. Die Erinnerung wird lebendig und damit steigt auch ihre Wut. Ihre Stimme wird fester.

„Dann hat er die Hände weg genommen und hat sich vor mich gestellt und gelacht. Und er hat mich gefragt, was ich hier mache. Und ich hab gesagt, dass ich ein wenig feiern will und tanzen. Und dann hat er mich an der Hand genommen und ins Gebüsch gezogen. Und er hat gesagt, ich soll mit ihm feiern. Und dann hat er mich gestreichelt, überall, und auch geküsst und dabei meinen Rock hochgezogen. Aber das wollte ich nicht. Doch da hat er gesagt, dass ich das tun muss, weil er sonst seinem Vater sagt, wie böse ich wäre. Dabei bin ich doch nicht böse. Aber ich hab Angst gekriegt und ich hab mich nicht gewehrt. Und dann hat er seine Hose aufgemacht und dann hat es so weh getan und ich hab geblutet und dann war er fertig und hat mir gedroht, dass ich nichts sagen darf, weil ich sonst bestraft werde. Und dann ist er gegangen und hat mich liegen gelassen und …..“

Ihre Wut ist jetzt dem Schrecken des Abends gewichen. Der Schmerz übermannt Magda und sie beginnt zu schluchzen. Sie kann nicht weiter reden. Tränen dringen durch die Hände, die sie vor ihre Augen geschlagen hat.

Erschrocken sieht der Onkel auf das Häufchen Elend neben sich und auch der Graf wirkt sehr berührt. „So hat er dir Gewalt getan und muss bestraft werden. Doch sag mir endlich wer?“, verlangt der Graf.

„Hermann, euer Sohn, der junge Graf!“

Jetzt ist es heraus. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Erneut herrscht Stille im Raum. Arnfried ist zutiefst erschrocken. Was redet dieses dumme Kind nur. Das kostet ihn Kopf und Kragen. Der Graf wird ihn und die Familie davon jagen. Sie werden Hungers sterben, weil keiner mehr ihnen Arbeit gibt. Bis sie einen neuen Herren finden, haben sie die wilden Tiere im Wald zerrissen. Kein Dach über dem Kopf, nichts zu essen. Soll das sein Ende sein?

„Herr, verzeiht …“, versucht er einzugreifen. Doch Graf Guntbert winkt und Arnfried verstummt wieder.

Erneute bedrückende Stille. Zu still. Bedrohlich still.

„Du willst mir also behaupten, mein Sohn, mein einziger Sohn, sei der Vater deines Kindes?“ Endlich hat der Graf seine Überraschung überwunden. In seinem Innern bebt es und ebenso darum jetzt seine Stimme. Sie klingt schwer beherrscht. „Wie kannst du es wagen? Wie kannst du dich erdreisten, meinen Sohn derart zu verleumden?“ Er atmet sehr tief durch, um sich zu beruhigen. Am liebsten hätte er jetzt laut los gebrüllt. Doch er ist der Herr und er ist der Richter. Und so wird er das Problem auch lösen. Überhaupt ist das ja auch gar kein Problem. Das ist eine Unverschämtheit einer Bauerngöre, die er entsprechend bestrafen wird.

„Du lügst, Mädchen. Und das weißt du auch. Doch bin ich hier nun Richter und nicht Vater oder Herr. Und also werde ich auch handeln. Ich weiß, dass der Beschuldigte, mein Sohn, zu dieser Zeit gar nicht hier war. Die Gräfin wünscht, ihn in ritterlicher Weise erziehen zu lassen und so schickte ich ihn schon vor Monaten zu den Buodingern. Dort lernt er die höfische Manier. So kann er auch nicht hier gewesen sein. Zufällig aber ist er gerade heute hier und man kann ihn befragen.“

Laut ruft er nach einem Diener und befiehlt, seinen Sohn zu holen. Dieser erscheint nach kurzer Zeit in gut gelaunter Stimmung.

Hermann ist ein schlanker junger Mann im 19. Lebensjahr, fast schon so groß wie sein Vater. Er hat dunkle Haare, die einen leichten Stich ins rötliche haben, wenn das Licht günstig darauf fällt, braune Augen und eine lange Nase. Auch seine Kleidung zeigt deutlich, dass er aus reichem Hause kommt. Sie ist sogar noch ein wenig aufwändiger, als die des Grafen. Als er Magda und ihren Bauch erblickt, wechselt die Stimmung mit einem Schlag. Böse ist sein Blick zu ihr. Doch auch der ändert sich schnell wieder, als er sich seinem Vater zuwendet. „Ihr habt mich rufen lassen, Vater?“

„Ja! Kennst du dieses Mädchen?“

„Natürlich, Vater. Arbeitet sie nicht auf deinen Feldern, mit den anderen dreckigen Bauern?“ Er spricht in sehr geringschätzigem Tonfall und genauso ist sein Blick, den er Arnfried zuwirft. Magda übersieht er ganz.

„Hast du ihr etwas getan?“, fragt Graf Guntbert.

„Ja, Vater!“ Die Antwort lässt den Grafen erstaunt aufblicken, nachdem er während der Befragung nur Magda mit seinem strengen Blick fest hielt. Das kleine Mädchen blickt mit leeren Augen zurück. Nichts deutet daraufhin, dass sie überhaupt zuhört.

„Und was hast du ihr getan?“ Mit diesen erstaunten Worten nimmt der Graf nun seinen Sohn ins Auge.

„Ich habe sie schon mal an den Zöpfen gezogen oder ihr ein Bein gestellt. Wie Kinder halt so spielen, wenn sie klein sind. Bis Mutter mir verbot, mit den Bauern zu spielen. Sie hat ja auch recht.“

„Hast du ihr am letzten Frühlingsfest Gewalt getan?“, fragt der Graf genauer nach.

„Herr Vater, Ihr selbst schicktet mich zu den Buodingern.“ Hermanns Antwort ist deutlich entrüstet. Damit ist die Frage natürlich nicht beantwortet, doch das stört den Grafen im Moment nicht.

„So hast du gehört und deine Lüge ist entdeckt, Magda. Was soll nun mit dir geschehen?“

Diese Frage bringt Arnfried wieder in Bewegung. Er holt aus und ehe sich Magda versieht landet seine rechte Hand so fest in ihrem Genick, dass sie vornüber und auf die Knie fällt. Erneut rinnen Tränen über ihr Gesicht herab. Gleichzeitig fällt auch Arnfried auf die Knie. Allerdings einen Schritt weiter vor und dem Grafen flehend die Hände entgegen gestreckt. „Herr, wie konnte ich ahnen, welche Schlange dieses Kind meines jüngeren Bruders ist. Nie hätte ich gedacht, …..“

Auch hier unterbindet der Graf mit einer Handbewegung den Redefluss. Er will jetzt nicht das Gejammer eines unfreien Bauern hören.

„Du brauchst nichts zu sagen, Bauer.“, sagte er, wobei das letzte Wort nun auch bei ihm verächtlich klingt. „Doch rate ich dir, Herr deiner Familie zu sein und mehr auf Ordnung und deine Munt zu achten. Ich denke es ist ausreichend, wenn ihr als Sühneabgabe ein paar Sack Mehl mehr meinem Meier schickt. Das dürfte euch ausreichend beschäftigen, sodass keiner mehr auf solche verleumderischen Gedanken mehr kommt. Doch hütet euch, mir weiteren Ärger zu bereiten. Leicht könnte mir auch für euch eine schmerzlichere Strafe einfallen.“

Das ist hart für Arnfried. Lieber hätte er Schläge mit dem Stock genommen. Als Sühneabgabe ein paar Sack Mehl mehr war unheimlich schwer zu leisten. Die ganze Familie musste nun noch länger auf dem Feld stehen und sicher auch von dem abgeben, was für den Eigenbedarf war, um das zu erfüllen. Und im Winter würde wieder Essen fehlen, wo es so schon kaum reichte. Sehr gerne hätte er erneut Magda geschlagen, doch Graf Guntbert kommt ihm zuvor und schickt ihn weg.

„Geht, Arnfried, und kümmert euch um eure Dinge. Das Bruderkind wird nicht mehr dazu gehören. Ein Esser weniger in eurer Kate. Das macht die Strafe wohl etwas leichter. Nicht wahr?“

Ja, es war ein Esser weniger, doch auch eine Arbeitskraft. Magda bekam nie soviel zu essen wie sie erarbeitete. Sie war ja auch nicht sein eigenes Kind und nur geduldet. Deswegen war es eigentlich sogar noch eine Strafverschärfung. Doch unterwürfig sagt Arnfried: „Natürlich, Herr. Danke, Herr. Wie ihr sagt, Herr.“ Dabei buckelnd ging er rückwärts zur Tür und dann ganz schnell raus. Muntrecht, von wegen. Zu Hause würde sein Weib wieder zetern, ob des missratenen Kindes und der Strafe und ihrer Armut und wegen der schlimmen Zeiten, wo es ihnen doch früher als freier Bauer so gut ging. Und dann war er wieder an allem Schuld. Und er musste es über sich ergehen lassen; sie war stärker. Herr der Familie, pah.

„Und nun zu dir!“, spricht der Graf, als die Tür hinter Arnfried zu gefallen ist. Auch Hermann war mit einer Entschuldigung wegen seiner Studien wieder gegangen. Nicht ohne Magda einen triumphierenden und hämischen Blick zuzuwerfen.

„Was mache ich nun mit dir? Stell ich dich an den Pranger? Oder lass ich dich mit Peitsche oder Stock schlagen? Dein Vergehen kennst du wohl, Mädchen.“ Ohne auf eine Antwort zu warten spricht Graf Guntbert weiter: „Du bist nicht die Erste, die auf so dreiste und unverschämte Weise versucht, einen besseren Stand zu erreichen. Noch nie wurde aus einer Bauerndirne eine Gräfin.“ Nun schon mehr sinnierend und zu sich selbst gesprochen: „Sind nicht die Huren im Nachbarort? Ach nein, ein Kind mit einem Kind im Bauch nehmen die nicht mit. Vielleicht zahlen die Zigeuner gut für dich. Doch auch diesmal nein. Der Bauch! Und wenn ich es so bedenke, …“

Magda hat aufgehört zu weinen. Weinte sie doch auch nicht wegen des Schlages, sondern wegen der bösartigen Lüge des jungen Grafen. Du bist so dumm, schimpft Magda in Gedanken mit sich selbst. Was hast du erwartet? Dachtest du, er würde laut jubeln und dich zum Weibe nehmen? Sicher bin ich nicht die Einzige, mit der er sich vergnügte. Was nun?

„Herr, euer Sohn lügt!“, platzt es aus ihr heraus. Magda sucht ihr Heil im Angriff. Nichts mehr hat sie zu verlieren. „Er war hier und eure Frage hat er nicht richtig beantwortet.“ Das hat sie wohl bemerkt, doch setzt sie das Argument falsch und erklärt es nicht weiter.

Damit hat sie des Grafen Gedanken jäh unterbrochen. „Was soll das noch, dummes Balg?“ Zornig steht Graf Guntbert auf und geht auf das immer noch kniende Kind zu. „Mein Sohn lügt nicht. Doch du willst nicht einsehen, dass ich dich und deine Frechheiten durchschaut habe. Ich weiß nun, was ich mit dir tun werde. Der Zufall will´s und ein Mönch ist hier auf der Durchreise auf dem Weg nach dem Kloster droben gen Uulthaha. Dort mag man dich erziehen und Gehorsam und Ehrfurcht lehren. Erst dann sollst du wieder zu mir zurück kommen, damit du deine Schuld abarbeitest.“

„Herr, er hat nicht gesagt, dass er nicht hier war!“, versucht Magda trotzig erneut. Starke Hände heben sie vom Boden und schleppen Sie zur Tür. Auf des Grafen Wink haben Diener das Mädchen gegriffen und bringen es nun in Verschluss.

„Morgen wirst du uns verlassen, um geläutert zurück zu kehren. Mögen die Brüder ein gutes Werk vollbringen.“, ruft er ihr ärgerlich hinterher.

* * * * *

Des Abends hat sich die gräfliche Familie zu Tisch versammelt. Die Dienerschaft bringt die Speisen aus der Küche, die genau unter diesem Raum ist, damit die Hitze des Herdfeuers auch darüber noch für behagliche Wärme sorgt. Eine Auswahl an Fleisch und Fisch und Käse und auch Eintöpfen wird gereicht.

„Mein Sohn, du schuldest mir noch eine Antwort.“, beginnt Graf Guntbert. Sein Mund ist noch nicht ganz leer und er hat die angebissene Hasenkeule in der Hand, die er in Richtung Hermann neigt.

„Was meint Ihr, Vater?“ Auch der Sohn spricht mit vollem Mund.

„Lehrt man dies bei den Boudingern?“, fragt seine Mutter, Gräfin Hildgard, eine zarte und schlanke Frau. Sie trägt einen leinenen grünen Hemdrock mit weiten Ärmeln, die schön verziert sind. Eine dunkler gefärbte Schnur gürtet sie. Ihr strohblondes Haar bekundet ihre nordische Abstammung. Es ist zu einem dicken Zopf gebunden, der über ihre linke Schulter auf die Brüste fällt. Hermann bedenkt sie mit einem gequälten Blick, den sie beschwichtigend mit ihren graugrünen Augen erwidert.

.

„Wegen des Bauernmädchens. Warst du hier zum Frühlingsfest?“ Der Vater bleibt hartnäckig.

„Vater, wenn ich in Buodingen war, wie kann ich dann hier gewesen sein?“, erwidert Hermann erneut ausweichend. Hilfesuchend schaut er zu seiner Mutter.

„Auch das ist keine Antwort. So sage mir klar: Wo warst du zur Zeit des letzten Frühlingsfestes? Bedenke bei deiner Antwort, was sich für einen Edelmann, der du werden sollst, geziemt.“ Der Graf hat nun die Keule aus der Hand gelegt und greift mit beiden Händen nach seinem Bier, damit es ihm nicht aus den fettigen Händen rutscht.

„Lass doch die Sache ruh´n.“, mischt sich nun Gräfin Hildgard ein und steht damit ihrem bedrängten Kind zur Seite. „Willst du wegen einer kleinen Bauerndirne so ein Aufheben machen? Wenn er sagt, er war es nicht, dann glaube ihm doch. Oder ist so ein dummes kleines Ding ehrenhafter als dein eigener Sohn? Sie ist das Bruderkind eines unfreien Bauern, dein Eigentum. Selbst wenn Hermann Gefallen an ihr fände, so ist sie doch nur ein Spielzeug. Er kann ihr doch nicht verpflichtet sein. Der zukünftige Herr und die kleine Hure. Wo kommen wir denn da hin?“ Ihr ist das Thema zu wider. Für den Ehrenkodex ihres Mannes hat sie kein Verständnis. Unfreie und Leibeigene sind für sie keine Menschen. Notwendiges Übel, die die Arbeit zu erledigen haben und am Besten alles abgeben, ohne selbst etwas zu benötigen. Dummes Vieh! Ohne eigenen Willen, wenn es nach ihr ginge. Dreckiges Pack und weniger Wert, als die fahrenden Spielleute. Die gingen irgendwann wieder, wenn man sie nicht vorher weg jagte. Die Bauern blieben und machten, wie man jetzt wieder sah, nur Probleme. Sollten sich doch andere darum kümmern.

„Natürlich ist er höheren Wertes. Und doch sollte er wissen, dass er solches nicht tun sollte, auch wenn sie uns gehören.“ Graf Guntbert beharrt auf seinem Standpunkt der Ehrhaftigkeit. Die unfreien Bauern waren abhängig von ihnen, aber sie auch von den Bauern. Er hatte zum Einen keine Lust, sich selbst auf das Feld zu stellen und die schwere Arbeit zu tun und zum Anderen waren es auch Menschen, wenn auch von geringem Stand. Selbst ein gequältes Tier versucht sich zu wehren, wenn es in die Enge getrieben oder in Not gebracht wird. „Es gibt genug Huren, die ihm gerne zu Diensten wären. Doch bei den eigenen Bauern, frei oder unfrei, mag solch Verhalten zu Unruhe und Zorn führen. Wie leicht kann er erschlagen werden, treibt er sich doch so oft allein in der Gegend herum. Des Menschen Stolz ist nicht abhängig vom Stand. Der einfache und dumme Mensch ist oft unverständig. Und vielleicht deswegen auch sehr gefährlich.“ Seine letzten Worte betont er über deutlich. „Selbst dein Großvater hat das zu spüren bekommen, mein Sohn. Du kennst die Geschichte, als sich damals die Leibeigenen gegen ihn erhoben.“

Mit dieser Mahnung lässt der Graf die Sache ruhen. Seine Frau hat den Sohn schon immer in Schutz vor allem genommen. Sicher ist der Junge deswegen auch so verzogen. Der Graf hat es immer weniger vermocht, Einfluss auf seinen Sohn zu nehmen. Zunehmend hat die Gräfin sich um die Erziehung gekümmert und sogar ihn, den Vater, immer mehr verdrängt. Bald schon würde der Junge wieder nach Buodingen gehen. Dort, so hofft die Gräfin, würde er edles Benehmen lernen und eine junge Frau aus gutem Haus finden oder der Familie zu mehr Ansehen bei Hof verhelfen. Dort hegt man gute Beziehungen zu König Chlothar II. Bah, der Wanderkönig und sein Hofstaat. Jeder war froh, wenn die wieder weg waren. Guntbert sah den König bisher nur einmal. Als kleiner Junge wurde seinem Vater die Grafenwürde verliehen und ein gutes Stück Land am Lauf der Chynzych zu Lehen gegeben. Damals war Sigibert I König in seinen letzten Tagen. Ein König kostet nur Geld. Von hohem Ansehen würde er, der Graf, auch nicht reicher werden. Das würde bestimmt nur noch mehr Geld kosten.

Zu später Stunde lässt der Graf noch einen Brief an die Boudinger schreiben und übergibt ihn seinem Meier, er möge ihn baldigst nach dort bringen lassen. Das Verhalten von Frau und Sohn wird zunehmend seltsamer und abweisender ihm gegenüber.

* * * * *

Tage später macht sich Hermann wieder auf den Weg nach Buodingen. Am Vortag bereits hatte sein Vater, in Begleitung von zwei Knechten, die Motte verlassen. Er sei auf der Jagd, hatte er gesagt. Die Satteltaschen des jungen Herren sind gepackt und aufgelegt. Er sitzt schon im Sattel und winkt seiner Mutter zu, als der Meier angerannt kommt. „Junger Herr!“, ruft er im Laufen. „Junger Herr, da wäre noch ein Schreiben eures Vaters. Ich fand bis heute leider keinen, der ihn bringt. Wäret ihr so freundlich, ihn mitzunehmen?“

„Wenn es denn sein muss.“, ist die missmutige Antwort. Wie jeden Brief, den sein Vater bisher nach Buodingen schickte, würde er auch diesen zuvor der Gräfin bringen. Seine Mutter sorgt dann schon dafür, dass ihr Sohn auch weiterhin sein fröhliches Leben genießen kann. Die Vorstellungen und Pläne des Vaters waren noch niemals die der Mutter gewesen. Ehrhaftes Verhalten ist etwas für Narren, doch niemals für jene, die hoch hinaus wollen. Einfluss und Macht bekommt man nicht dadurch, dass man seine Bauern gut behandelt und gute Geschäfte macht. Härte und Strenge für die Niederen, Intrige und Niedertracht den Gleichen und tückische Demut den Hohen, so war ihre Lehre für ihn gewesen. Und danach lebt er auch, wenn er auch nicht wirklich den Sinn von allem versteht.

Nach den Plänen seiner Mutter soll er dereinst großes Ansehen am königlichen Hofe haben. Mehr noch, als Graf Buodo, der sich zwar eigentlich, wie Graf Guntbert, einen Dreck um diese Beziehungen kümmert. Zum Glück denkt seine Frau anders darüber. Ihr ist es wichtig, wie man bei Hofe denkt. Also hat sie eigens zur Lehre des höfischen Lebens einen Lehrer für ihren Sohn in Dienst genommen. Dies hat sich Hildgard zu Nutzen gemacht und lässt Hermann ebenfalls dort lernen, gegen eine geringe Beteiligung an den Kosten. Ist Hermann erst einmal der Graf und nutzt, unterstützt durch seine Mutter, seine Beziehungen, wird das Ansehen steigen und damit lassen sich dann Macht und Einfluss ausdehnen. Findet der Junge dann noch eine Frau aus gutem Hause, mag das den Vorteil nur noch erhöhen. Ehrbares und rücksichtsvolles Verhalten, so hat ihm die Mutter beigebracht, sind dabei fehl am Platze.

So hört Hermann in Buodingen, wie er sich benehmen sollte, doch seine Mutter erklärt ihm, wie er dies zu seinem Nutzen einzusetzen hat. Na gut, was er mit Magda, diesem Bauernkind getan hat, war nicht von Nutzen, doch von sehr hohem Vergnügen. Und das ist Hermann zurzeit immer noch am wichtigsten. Ihm muss man zu Diensten sein, andernfalls nimmt er sich halt, was er begehrt.

„So gebt schon her, Meier.“ Mürrisch greift der junge Graf nach dem gereichten Schreiben. Als er den Brief in Händen hält tut er so, als fiele ihm noch etwas ein. „Oh, das will ich noch.“, spricht er scheinbar zu sich selbst, gilt es doch mehr dem Meier. „Halte das Pferd“, sagt er zu dem Stallknecht, der schon bisher das Tier hielt und steigt wieder vom Pferd. Zügig geht er, vorbei am Meier, zurück ins Haus zu seiner Mutter.

Dabei übersieht er das leichte Grinsen in des Meiers Mundwinkeln. Hatte der doch genau dies erwartet. Er wusste, was hier vor sich ging. Jeden Brief ersetzt die Gräfin durch einen eigenen. Jedes Mal das gleiche Spiel. Dieser junge Fant bildete sich wer weiß was ein. Irgendwann würde er es dem Burschen schon zeigen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Gräfin ihm den Auftrag erteilen würde und der Graf wäre nicht mehr. Wie damals mit der Amme. Diese dumme Alte dachte ein Geschäft machen zu können. Nicht mit denen von Lanczengeseze. Nach angemessener Zeit würde er dann die Gräfin zum Weibe nehmen und Herr über die Ländereien und die Bauern sein. Dann gäbe es für den Jungen nichts mehr zu lachen, oder zumindest nicht mehr für lange. Doch das war dann seine, des Meiers, Sache. Nur durfte er darüber noch nicht reden. Er durfte noch gar nichts. Noch musste er sich fügen. Keiner sollte je davon gewahr werden. Die Gräfin konnte man schon erziehen und falls nicht, … Das Grinsen auf seinen Zügen fror ein. Auf jeden Fall weiß man sich bis dahin Nächtens miteinander zu vergnügen.

„Sicher willst du wissen, was Vater hier wieder zu schreiben hat.“; sagt Hermann und reicht den Brief seiner Mutter Hildgard.

„Ach, als hätte ich es mir nicht gedacht. Ich bin mir sicher, er will immer noch erforschen, wo du zum Frühlingsfest warst. Wie kann er sich darüber nur so unnötig erregen. Das ist die Sache doch nicht wert.“ Sie ist gespielt entrüstet, weiß sie doch schon, dass es dieses Schreiben gibt. Schnell ist der Brief geöffnet. Im Gegensatz zu ihrem Mann hat sich die Gräfin der Mühe unterzogen und von dem Priester auf dem Hofe Lesen und Schreiben gelernt. Guntbert tat immer nur so als sei er dieser Kunst mächtig und es fiel keinem auf, wenn er die Papiere falsch herum hielt. Sie brauchte keinen, der ihre Geheimnisse dadurch erfuhr, dass ihm diktiert wurde. Deshalb hatte sie schon von dem Brief und seinem Inhalt gewusst und den Meier angewiesen, ihn zum Schein auf genau diese Weise weiter zu leiten. So konnte ihr Sohn nichts verraten, der von diesen Abmachungen ebenso wenig wusste, wie sein Vater. Der Junge würde noch früh genug erfahren, wie man im Leben weiter kommt. Bis dahin war er erst einmal nur Mittel zum Zweck. Im Übrigen hatte sie die nötigen weiblichen Mittel zur Verfügung, sich Leute gefügig zu machen. Dies hatte auch Didericus, der Priester, am eigenen Leib erfahren. Nun ist er ihr verfallen und hörig. Manchmal machte dies sogar auch noch Spaß.

„Lieber Buodo!“, liest sie laut. „Mir ist zu Ohren gekommen, dass zum letzten Frühlingsfest mein Sohn nicht an eurem Hof weilte, sondern hier in der Gegend gesehen worden sein soll. Da hier eine Klage vorgebracht wurde und ich es für meine Pflicht halte, dies eingehend zu prüfen, bitte ich euch, mir entsprechendes mitzuteilen. Ich danke euch für eure Bemühungen und grüße euch herzlichst.

Guntbert von Lanczengeseze“.

Die Gräfin lässt das Schreiben sinken und schaut ihren Sohn an. „Er ist dumm wie seine Bauern, nur reicher.“ Ist es Hass, der aus ihren Worten spricht? Gräfin wurde sie durch Guntbert, doch nun ist ihr Gemahl nur noch ein Hindernis für ihre Pläne und fast zu nichts mehr für sie nütze. Die Vermählung mit dem Grafen war nur einer ihrer Schritte auf dem Weg nach ganz oben. An des Königs Hof will sie. Zuerst glaubte sie, ihren Mann zu solchem Ehrgeiz bringen zu können. Doch dieser war dem König abgeneigt. Nun will sie mittels ihres Sohnes des hehre Ziel erreichen. Wer und was ihr auf diesem Weg in die Quere kommt, wird gnadenlos beseitigt. Gräfin Hildgard ist jedes Mittel recht und jeder wird zu ihrem Werkzeug, der sich von ihr verstricken lässt.

Geliebt hat sie ihren Mann nie. Nur durch Lug und Trug war sie zu seiner Frau geworden. Gut, dass der dumme Kerl damals die frühe Geburt geglaubt hat. Seine Ehre gebot es ihm dann, sie zum Weib zu nehmen. Es hatte sie gutes Geld gekostet, die Amme zu bestechen. Doch das hatte sie sich wieder geholt, als die Alte tot war. Feist, der Meier, hatte ihr diesen Dienst erwiesen. Damit wurde er zwar zu einem kleinen Problem, doch es wird sich sicher noch einer finden, der dies gerne für sie lösen wird. Hermann war nicht Guntberts Sohn. Doch auch das wusste der einfältige grundehrliche Narr von einem Grafen nicht. Und so würde es auch bleiben, dafür würde sie sorgen. Es gab auf dem Hof Männer, die sie wirklich verstanden und die auch gerne taten, was sie verlangte. Eventuell mal die eine oder andere Nacht geopfert war nicht schlimm. Mit deren Hilfe würde schon bald sie über die Ländereien und Bauern herrschen. Mit strenger Hand. Was ihr Mann als Abgaben verlangte, war in ihren Augen viel zu wenig. Die Leute hatten noch viel zu viel Zeit zu feiern. Ihr Sohn würde dann der Graf werden und brav tun, was Mutter ihm sagt. Mit seiner Hilfe soll der königliche Hofstaat in greifbare Nähe rücken. Sie wollte nur noch den rechten Zeitpunkt abwarten, um sich unauffällig des Grafen zu entledigen. Graf Buodo war Guntberts Saufkumpan und seine Beziehungen zum König durfte sie nicht außer Acht lassen. Würde der Verdacht schöpfen und läge der Makel eines Mordes auf ihr, wären all ihre Bemühungen vergebens gewesen. Es durfte keine Nachforschungen geben und nichts, was auf sie hindeuten könnte. Mit der Zeit würden dann auch ihre Helfer irgendwie das Schicksal des Grafen teilen. Es lässt sich immer ein Weg finden. So alt war sie nun auch noch nicht und sicher ließe sich noch so ein junger reicher Emporkömmling im Hofstaat finden, der sie heiraten würde. Den könnte man sich schon erziehen und dann hätte sie noch mehr Geld und Macht. Doch jetzt galt es erst einmal, diesen Schwachsinn zu klären und auch weiterhin die Beziehungen der Grafen zu unterbinden.

Wie jedes Mal nimmt sie Pergament und Feder und schreibt anstatt des Buodingers die Antwort für ihren Mann. Noch nie hatte ein Brief der Männer den anderen erreicht. Dank der Aufmerksamkeit des Meiers.

„Mein bester Guntbert,“, spricht sie während sie schreibt, „wie freue ich mich, von dir zu hören. Es betrübt mich, dass Klage über deinen Sohn Hermann geführt wird. Es ist an dem, dass die jungen Burschen natürlich gerne einmal aus sind, zu jagen. Doch, wie ich mich erinnere, hielten meine Bauern just zu dieser Zeit selbst ein Frühlingsfest, an dem die jungen Herren ein wenig zu tief in die Krüge schauten. Seid versichert, mein lieber Guntbert, jegliche Klage ist eine Lüge. Möge Gott der Herr den Kläger strafen.

So gehabt euch wohl mit Gottes Segen.

Euer Buodo“

Die Gräfin legt die Feder zur Seite und verschließt den Brief. Dann reicht sie ihn Hermann. „Sende dieses Schreiben nach deiner Ankunft nach hier. Dein Vater wird, wie bei den anderen Briefen, glauben, er stamme von seinem Saufkumpanen. Wie gut, dass die Kerle sich nicht mehr sehen können. Buodos Frau weiß wie ich, dies zu verhindern. Nur hat sie sicher andere Gründe als ich.“ Sie lächelt, bei dem Gedanken an das geheime Treffen der Frauen. Sie waren sich einig geworden, dass es nicht zur neuen Religion passe und nicht erlaubt sei, wenn sich die Männer der Trunksucht weiter ergeben würden. Dies musste man verhindern. Gerne hat Buodos Frau ihr zugestimmt, fürchtete jene doch um ihr Ansehen am königlichen Hofe. Das kam Gräfin Hildgard sehr zu pass. Jedes Schreiben zwischen den Männern wurde von Hildgard abgefangen und beantwortet. So war es den Frauen gelungen dafür zu sorgen, dass sich die Grafen seit nunmehr fast vier Jahren nicht mehr gesehen hatten. Es gab ja so viele gräfliche Verpflichtungen, die man genau dann wahrzunehmen hat, wenn der Freund um ein Treffen bittet.

Zufrieden mit ihrem Werk entlässt sie Hermann nach Boudingen in der Sicherheit, alles unter Kontrolle zu haben.

* * * * *

Es dauert doch noch zwei Tage, bis der Mönch sich nach des Grafen Urteil wieder auf den Weg macht. Bis dahin hat Magda auf dem Hof arbeiten müssen. Fegen, Stall ausmisten, Unrat weg schaffen, Jauchegrube lehren und all die Arbeiten, die man nicht gerne macht. Natürlich unter strenger Aufsicht des Meiers, der es sichtlich geniest, sie zu schikanieren. Es gibt für sie keine Möglichkeit, fort zu laufen. Aber wohin denn auch. Ins Dorf kann sie nicht zurück. Ihre Familie würde sie davon jagen. Sicher war auch schon in den anderen Siedlungen das Gerede über sie los gebrochen. Trotz großer Entfernungen gingen Gerüchte um wie ein Lauffeuer. Wovon hätte sie auch leben sollen. Es gibt noch nicht sehr viel in Wald und Flur, das man hätte essen können. Also wartet sie darauf, mit dem Mönch nach Uulthaha zu gehen.

Servatius nennt sich der Bruder. Er ist zu Fuß unterwegs, das Heil zu verkünden und im Auftrag des Bischofs zu Moguntia Orte für neue Klostergründungen zu suchen. Seine braune Kutte ist so staubig, dass selbst Flöhe wohl einen Hustanfall bekommen hätten. Und sie ist so weit, dass sie trotz der Schnur, die sich der Mönch um die Hüften gebunden hat, um den hageren Körper herum schlabbert. Sicher war ein früherer Besitzer weitaus kräftiger im Umfang gewesen, als Servatius. Die Sandalen sind auch bald nicht mehr zu gebrauchen. Das Leder ist spröde und rissig.

Die Sonne steht schon hoch und es ist sehr heiß. Magda schwitzt sehr und auch der Mönch ist nass im Gesicht. Die Kapuze hängt auf seinem Rücken. Die Fliegen sind in dieser Jahreszeit im oft sumpfigen Chynzgebiet ein ständiger Begleiter. In Schwärmen summen sie um die Menschen herum und saugen ihnen das Blut aus. Magda fragt sich, wie schon so oft, was diese Mücken fressen, wenn keine Menschen des Weges kommen.

Das alles bringt Servatius nicht aus der Ruhe. Fröhlich singt er verschiedene Lieder über Gott und Engel und Paradies. Magda hört nicht zu. Sie ist müde und erschöpft. Viel zu essen hat ein Mönch nicht. Ab und zu kann er an einer Hütte klopfen und einen Kanten Brot oder eine Schale Brei erbetteln. Dazu Wasser aus der Chynz und was sich halt so am Wegesrand essbares finden lässt. Dabei ist er nicht wählerisch. Es darf auch schon einmal ein Wurm oder ein Käfer sein. Vielleicht bin ich noch nicht hungrig genug, denkt sich Magda, die es immer wieder überläuft, wenn sie nur an das Knacken der Käfer im Munde des Mönches denkt. Eklig.

„Hast du eine Ahnung, wo wir hier eigentlich sind?“, fragt der Mönch.

Magda blickt sich automatisch um, obwohl sie sich hier überhaupt nicht mehr auskennt. Sie sieht nur Bäume und Sträucher, wie schon die ganzen letzten Tage, seit sie wandern. Früher war sie nie so weit aus dem Dorf gekommen. Wie sollte sie da wissen, wo sie waren. Außerdem hatten sie nur selten die große Handelsstrasse benutzt. Vielmehr waren sie auf vielen Umwegen gewandert, schließlich suchte der Mönch ja nach Orten für eine Niederlassung.

Magda weiß nicht, was für sie schöner wäre. Hier durch den Wald zu laufen oder zu Hause auf dem Feld zu arbeiten. Die Anstrengungen der Bauernarbeit ist sie gewohnt. Das lange Laufen aber tut ihren Füßen weh. Und dazu noch der Singsang des Mönches. Oder seine Vorhaltungen und Ermahnungen ob ihrer bösen Tat.

Sie hat nichts Böses getan. Nur die Wahrheit gesagt. Aber das darf man als Unfreie nicht. Als sie Servatius ihren Standpunkt klar machen will, meint er nur: „Es ist Gottes Wille, dass wir uns in Demut üben, wie es sein Sohn Christus tat. So nimm deine Strafe hin und danke dem Herrn.“

Damit aber stößt er natürlich bei Magda auf Unverständnis. Sie weiß kaum etwas über die Lehre Christi. Das bisschen, das sie bisher gehört hat, erscheint ihr nicht verlockend. Dann lieber die alten Götter der Ahnen.

„Eigentlich“, so meint Servatius, „sehe ich für dich auch keine Strafe. Dein Herr hat es doch sehr gut mit dir gemeint. Natürlich wirst du auch im Kloster schwer arbeiten müssen, so lange du es vermagst. Du wirst vor dem Kloster bei den Bediensteten leben, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang deinen Aufgaben nachkommen, aber du bist auch versorgt. Die Arbeiten dort kennst du schon von deinem Onkel und seiner Frau. Schwere Feldarbeit und Vieh hüten und versorgen. Nichts Neues für ein Bauernkind. Oder, weil du eine Frau bist, in Küche und Haushalt helfen. Waschen, nähen, putzen; alles was du auch bisher schon machen musstest. Sicher wird dort ein Medicus zu finden sein, der dir bei der Entbindung beistehen kann. Du wirst dort viel lernen können über Kräuter oder feine Gemüse und Blumen im Garten. Vielleicht kannst du auch ein wenig Rechnen, Lesen und Schreiben lernen. Damit kann aus dir bestimmt sogar noch etwas werden. Wie wäre es für dich, du gäbest dein Kind an andere Eltern und gingest in ein Frauenkloster? Für´s Leben wohl behütet und versorgt, in Gottes Nähe, stets bereit Gutes deinen Mitmenschen zu tun. Das ist doch sicher ein besseres Leben als das, das du als Unfreie bei deinem Herren je hättest erwarten können. Sieh es doch mal von der Seite und denke darüber nach. Wirklich, Kind, ich glaube, dein Herr will dir mehr helfen, als dass er dich strafen will.“

Magda ist erstaunt. Kann das sein? Ihr Herr will ihr helfen? Wofür? Warum? Ja, es ist richtig; schwer arbeiten ist sie gewohnt. Und auch die Hausarbeiten sind ihr bekannt. Von ihrer Großmutter hat sie auch schon so manches Kraut kennen und nutzen gelernt. Doch was hat der Mönch gestern erklärt, als sie fragte, warum er so oft bete? >Ein frommer Mönch ist ein Vorbild für die Menschen. Ein Leben in Christi heißt Armut und Verzicht und Frömmigkeit. Täglich sieben Gebete, eines des Nachts und sechs tagsüber, seien Pflicht.< Das gilt dann sicher auch für die Nonnen. Auch das mit dem Fasten gefällt ihr nicht so besonders. Wenn es schon was zu essen gibt, braucht sie keinen Fastentag oder zwei in der Woche. Dann will sie jetzt essen; morgen hat vielleicht ein Anderer es weg gegessen.

Aber Magda hatte wieder einmal nicht richtig zugehört. Als Servatius dies erzählte, sprach er von den Regeln für die Mönche. Diese galten aber nicht vollständig für die Bediensteten. Nein, war ihr Schluss, der Herr hatte es bestimmt nicht gut mit ihr gemeint. Bestimmt will der Mönch nur, dass sie auf der langen Wanderschaft keinen Ärger macht, weil sie sich auf ihr neues Leben freut. Nein, ins Kloster will sie nicht. Überhaupt nicht. Schläge wegen Ungehorsam oder Regelbruch bekam sie überall. Dafür braucht sie kein Kloster.

Schweigend gehen sie weiter bis zum Abend. Servatius glaubt, ihr das Leben im Kloster gut dargelegt zu haben, während Magda froh ist, endlich keine wohlgemeinten Sprüche mehr hören zu müssen. Die kommen nun beim Nachtlager.

„Morgen werden wir bei Steinaha sein. Dann haben wir schon ein gutes Stück des Wegs geschafft. Sicher freust du dich schon darauf, ins Kloster zu kommen, doch gedulde dich noch ein wenig. Es wird noch ein schwerer Gang. Immer weiter hinauf in die Höhen.“

Magda gibt keine Antwort und kaut still auf dem alten Brot herum.

„Die Menschen wissen gar nicht, in welch gefährlichen Zeiten sie leben. Dabei gibt Gott der Herr ständig seine Zeichen für alle sichtbar an den Himmel. Da war zum Beispiel vor rund hundert Jahren, es muss wohl zu Beginn von Kaiser Justinian I von Rom gewesen sein, eine Erscheinung am Himmel, die man Pogonia nannte. Kaum nahm Gott dies Zeichen weg, erbebte in Mösien die Erde so heftig, dass sie aufriss und sogar Berge gespalten wurden. 24 Kastelle wurden damals in kurzer Zeit vernichtet. Welche irdische Armee könnte dies vollbringen?

Keine zwanzig Jahre später sendet Gott das Zeichen Lampadia ans Firmament und siehe, in Ancona bricht eine große Hungersnot aus. Bald darauf schickt Gott sein Zeichen nach Gallien und, was soll ich dir sagen, es fällt blutroter Regen. Noch lange danach waren die Hauswände mit Blut befleckt und die Pocken brachen aus.

Im Nordwesten“, er fuchtelt mit seinem Arm in die vermutete Richtung, „haben sie am Himmel eine Lanze gesehen und es dauert nicht lange und es folgt ein Gewitter, wie es vorher noch keine Menschenseele je erlebt hat. Nur zwei Jahre später steht die Lanze über dem Himmel von Konstantinopel und die Erde bebt zehn Tage lang. Danach hat es einen so strengen Winter, dass der zurzeit von König Theudebert I harmlos erschien. Damals war es so kalt, dass die Leute die Vögel mit der Hand fangen konnten. Die Tierchen wollten nicht mehr fliegen. Der Winter war so unsäglich kalt, dass sogar die große und mächtige Donau zufror und Zaberga, dieser Ungläubige, seine Hunnen nach Mösien und Thrakien, ja zum Schluss auch noch bis zu den Hellenen führen konnte.

Gott ist allmächtig. Er sendet seine Warnzeichen und keiner achtet sie. Ist Christus denn umsonst gestorben? Haben die Menschen immer noch nicht gelernt? Die Mönche und Gläubigen, die darum beten, hat der Herr beschützt.“ Voller Inbrunst predigt Servatius.

„Später, Papst Johannes III ist erst wenige Jahre in Amt und Würde, da bricht in der Lombardei und Gallien die Beulenpest aus. Alle Römer und nur die Römer erkranken daran, bis an die alemannischen und bojoarischen Grenzen. Ja, Gott liebt seine Kinder. Er setzt ihnen ein Zeichen, drei Nebensonnen und ein ganzes Jahr lang steht ein Schwert am Himmel, damit sie sich retten können. Dann stürzt er einen Berg in die Rhone, dass das Wasser weit ins Land fließt. Wer trotzdem bleibt, ist nach drei Tagen tot. Es trat eine Stille im Land ein, die es nicht mehr gegeben hat, seit dort Menschen lebten. Die Trauben hingen noch an den Rebstöcken, als die Blätter schon abgefallen waren.

Auch die Westgoten hat der Herr heimgesucht. Ich denke da nur an die Zeit, als eine Leuchterscheinung in Tours mit so lautem Knall explodierte, dass es unvorstellbar weit zu hören war. Es folgt ein Erdbeben und viele Scheunen geraten von selbst in Brand. Ich kann die Liste beliebig fortsetzen, von Wölfen, die wie betäubt in die Stadt rennen und sich tot schlagen lassen, von wilden Stürmen, die Mensch und Tier und größte Bäume und Häuser fort reißen, selbst die Heuschreckenplage, wie zu Zeiten Pharaos, schickt Gott erneut. Auch Überschwemmungen, starken Regen mit Hagel und und und. Stets aber hat Gott der Herr seine Zeichen an den Himmel gestellt, um seine Kinder zu warnen und zu beschützen. Über zehn Jahre währt die Not und nur wenige achten darauf. Wer Augen hat, der sehe, wer Ohren hat, der höre. Welch wahre Worte doch in der Bibel stehen, Magda. Magda?“

Magda ist fest eingeschlafen.

Am frühen Morgen sind sie wieder aufgebrochen. Servatius ist immer noch etwas eingeschnappt, weil Magda ihm am Abend bei seiner doch so wundervollen Predigt nicht zugehört hat und bis jetzt hat er noch kein Wort gesprochen. Selbst seine Gebete verrichtet er in Stille. Wo er doch sonst immer laut betete, damit Magda ihn höre. Was hätte sie das Gerede gestern aber auch interessieren sollen? All die fremden Orte, so weit, und die fremden Namen, die ihr nichts sagten. So lange vor ihrer Zeit. Ach sollte doch dieser Christengott tun, was er wollte. Ihre Götter waren bestimmt stärker. Konnten die doch sogar Riesen besiegen. Und Blitzen und Donnern konnten die auch. Wenn die mal einen Hammer schmissen, bebte die Erde auch und ganze Gebirge stürzten ein. Sie hatte an Göttern, was sie brauchte.

Jetzt fängt der schon wieder an, denkt sie sich, denn Servatius berichtet wieder gar schaurige Geschichten. Doch Magda achtet überhaupt nicht auf das, was der Bruder alles so erzählt. Das hätte sie aber wohl besser tun sollen, denn er spricht von merkwürdigen und absonderlichen Geschehnissen in dieser Gegend. Er sagt, die Menschen hier erzählten von wundersamen Wesen, von Teufeln und Hexen, sogar von einem menschenfressenden Drachen würde gesprochen. Schon unzählige Menschen seien hier in der Nähe in einem Zauberwald verschwunden und niemals mehr wieder gesehen worden. Vom Berg kämen ganz fürchterliche Geräusche, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließen.

All das nimmt Magda nicht zur Kenntnis. Die fürchterliche Vorstellung des Klosterlebens zwingt sie dazu, sich Gedanken über die Zukunft zu machen. Nein, ins Kloster will sie nicht. Die Aussicht auf vielleicht regelmäßiges Essen wird von der Vorstellung der harten Erziehung und Arbeit mehr als aufgewogen. Nein, nein und abermals nein. Doch wo will sie hin. Kein freier Bauer wird sie aufnehmen. Eine vagabundierende Fremde, gar vom fahrenden Volk und in ihrem Zustand. Da gäbe es bald noch ein Balg mit durch zu füttern. Und die Zeiten waren hart für die freien Bauern. Da ging es den Unfreien sehr viel besser. Doch die Herren hier in der Gegend kannten sich und hatten Beziehungen zueinander. Da spräche sich schnell zu ihrem Herren herum, wo sie sich versteckt hielte. Und was ihr dann blühen möge, will sie sich nicht vorstellen. Nein, das kann sie nicht machen. Vielleicht doch auf fahrendes Volk warten. Für einige Zeit könnte sie sich wohl im Wald ernähren. Sie hatte von Großmutter gelernt, was alles essbar war. Bestimmt käme schon bald ein Trupp von Schaustellern, Gauklern oder Musikanten vorbei. Hier war die große Handelsstrasse nach irgendeiner ganz großen Siedlung. Viele von der anderen Seite des Maynes aus Franconovurd fuhren dort hin, um Handel zu treiben. Oft hatte sie aus der Ferne ganze Gruppen von großen vollbeladenen Wagen gesehen. Es waren immer viele Menschen dabei, aus Angst, Räuber würden die reichen Händler überfallen. Oh, was, wenn sie nun bösen Räubern in die Hände fiele? Was würden die mit ihr machen? Gut, wenn sie ihnen vielleicht dienen könnte. Kochen oder so. Schlecht, wenn sie ihr ein Leid antun würden. Auf den Festen in den umliegenden Siedlungen wurde viel erzählt. Manche sollen sogar kleine Kinder auf fressen. Frauen Gewalt antun, war oft noch das harmloseste. Andere wieder sagen, dass das nur ganz arme Kerle seien, die vielleicht zu Unrecht von den Herren verfolgt würden, weil sie angeblich etwas Böses getan hatten. War es etwas Böses, wenn man sich aus dem Teich eines Herren einen Fisch oder aus dem Wald eines Abtes einen Hasen gejagt hat, nur weil man vor Armut Frau und Kinder nicht mehr ernähren kann? Das Recht war bei den Herren und die sagten, dass es etwas Böses ist.

Magda ist die ganze Zeit, bei diesen Gedanken langsamer werdend, vor sich hin getrottet und der Mönch achtet nicht darauf, dass das Mädchen hinter ihm zurück bleibt. Nun merkt Magda, dass der Bruder recht weit vor ihr ist. Jetzt könnte er sie nicht mehr greifen, wenn sie fort liefe. Doch auch Servatius fällt eben dieser Umstand auf. Er dreht sich gerade zu ihr um. Das ist die Gelegenheit; jetzt oder nie. Fluchs wendet sich Magda zu ihrer Linken und läuft den Abhang hinauf.

„Bleib stehen, Kind. Lauf nicht weg. Hast du mir nicht zugehört? Weißt du nicht, wo wir hier sind? Das ist gefährlich!“

Die Rufe des Mönchs halten Magda nicht auf. Nein, sie hat nicht zugehört und was der Schwätzer alles erzählt hat, hat sie sowieso nicht interessiert. Dummes Zeug von einem Christus, Gottes Sohn und Himmelszeichen und was sonst alles. Sie will nicht ins Kloster und deshalb musste sie jetzt flüchten und ihren eigenen Weg suchen. Alles war sicher besser, als ins Kloster zu gehen. Immer weiter und so schnell sie nur kann, läuft sie auf dem mit altem Laub und Nadeln bedeckten Boden hinauf. Schlägt sich durch dichtes Unterholz zwischen den Bäumen hindurch. Sie springt über umgestürzte Baumriesen, die ihre teils noch mit Erde ummantelten Wurzeln in die Luft strecken. Hinter einer besonders großen Wurzel versteckt sie sich. Schwer atmend kauert sie sich in ihr Versteck, umgeben moosbedeckten Stämmen und Stümpfen und Felsbrocken, und lauscht, ob ihr der Mönch folgen würde. Schließlich war er ihrem Herren im Wort dafür, sie zum Kloster zu bringen. Aber sie hört nichts.

Bruder Servatius hat auch gar keine Lust, ihr hinterdrein zu rennen. Er würde sich nicht in diese Gefahr begeben. Da sei Gott vor. Er sieht noch kurz Magda hinterher und wartet, ob sie vielleicht doch, wegen seiner Rufe zurück käme. Als dies nicht geschieht, dreht er sich wieder um und geht seines Weges. Sein Weg war noch weit und bei nächster Gelegenheit würde er dem Grafen eine Botschaft zukommen lassen. Wer weiß, wann sich diese Gelegenheit ergeben wird?

Als Magda meinte, genug gewartet zu haben, erhebt sie sich wieder hinter dem Felsen und sieht sich um. Auf die Strasse zurück will sie jetzt erst einmal nicht. Vielleicht, wenn sie noch höher ginge, würde sie von oben erkennen, wo sie hingehen könnte. Vielleicht war der Rauch aus irgendeinem Ofen über den Bäumen zu sehen. Wenn Sie zurück wollte, müsste sie mit der Sonne im Rücken gehen, denn bisher waren sie fast immer der Sonne entgegen gelaufen. Irgendwo dahinten wäre dann wohl ihr Zuhause. Dabei kommen ihr Tränen in die Augen. Jetzt ist sie allein. Ganz allein. Jetzt hat sie auch kein Zuhause mehr. Dort durfte sie nicht hin, wollte sie nicht vom Herren schlimm bestraft werden. Sie findet keine Lösung, doch im Wald will sie nicht bleiben. Wenn es dunkel würde und sie schliefe, käme vielleicht ein Wolf oder gar ein Bär und fräße sie. Sie hatte gehört, dass der Graf schon seit längerem hinter einem großen Bären her jage, ihn aber noch nicht erlegen konnte. Sie musste etwas finden, wo sie sicher war. Also aufwärts.

Es ist sehr beschwerlich, denn sie findet keinen Weg. Oft schon hat sie sich getäuscht und eine Terrasse am Berg für einen Weg gehalten. In diesem Teil des Waldes lief wohl nie ein Mensch. Und auch größeres Wild hatte sich hier keinen Pfad gebahnt. Es fehlen die verbissenen und geschälten Jungbäume. Zuweilen ist der Hang so steil oder unwegsam, dass sie ein gutes Stück zurück muss, um ihr Glück an einer anderen Stelle zu versuchen. Sie klettert über alte umgefallene Bäume oder kriecht darunter durch. Oftmals nimmt sie dabei eine Spinne oder einen Käfer in ihren Haaren mit. Auch das eine oder andere Bächlein oder Rinnsal gilt es zu überqueren. Immer wieder dreht sie sich auf der nächsten kleinen Lichtung um. Doch es ist ihr immer noch nicht hoch genug. Nichts ist über den Wipfeln der Bäume zu sehen und der Blick ins Tal wird durch die Bäume unter ihr immer noch verwehrt. Verbissen kämpft sich Magda vorwärts. Der Magen knurrt gewaltig. Außer ein paar mageren Kräutern hat sie bisher nichts gefunden. Es ist noch nicht die Zeit, dass die Natur ihren Tisch reich gedeckt hat. Wilde Beeren oder Pilze gibt es noch nicht. Magda denkt nun doch schon ein wenig anders über ihre Zukunft im Wald. Es würde eine hungrige Zeit werden. Und wenn sie sich vielleicht etwas jagen würde? Aber wem würde das gehören? War sie dann auch ein böser Räuber? Aber jagen kann sie ja nicht, hat sie nie gelernt. Sie versteht nichts von Fallen bauen. Pfeil und Bogen oder einen Spieß hat sie nicht und könnte auch damit nicht umgehen. Ein Messer hat sie auch nicht, womit vielleicht ein Fisch auszunehmen wäre. „Oh Magen, hör auf zu knurren.“ Die letzte Speise hat sie gestern vom Mönch bekommen. Einen kleinen Kanten altes Brot und etwas Brei. Das war aber auch gestern schon gleich wieder verdaut worden.

In diesem Moment öffnet sich der Wald zu einer größeren Lichtung. Vor ihr steigt der Fels wieder einmal steil an und Magda sucht, wo sie weiter kann. Da beschleicht sie das Gefühl, als sei sie nicht mehr alleine. Sie ist sich nicht sicher, aber waren da eben nicht Stimmen zu hören? Wie angewurzelt bleibt sie stehen und lauscht. Angespannt und bereit, hinter den nächsten Busch ins Versteck zu springen.

Nein, da hört man gar nichts. Hätte Magda mehr Erfahrung gehabt, hätte sie gewusst: Einen vollkommen stillen Wald gibt es nur, wenn die Tiere Gefahr spüren. Dann verharrt alles in Erwartung, was gleich geschähe. So auch hier. Kein Vöglein erhebt seine Stimme. Der Wind hält inne und schweigt; scheinbar. Kein Rascheln des Mäusleins im Gesträuch.

Es gibt keine Worte, um die plötzlich aus dem Boden hervorbrechenden Töne zu beschreiben. Nie hat Magda jemals solch fürchterlich schrilles, grelles, langgezogen leidvolles Quietschen gehört. Erschrocken presst sie die Hände auf die Ohren, was aber nur wenig hilft. Durch die Hände hindurch drängt die Kakophonie. Hinzu bringt ein so dumpfes starkes Brummen, welches das Quietschen begleitet, den Boden derart zum vibrieren, dass sich die Schwingungen auf ihren Körper übertragen. Bei jedem Atemzug zittert die Luft in ihren Lungen. Nicht eine Minute länger würde sie diesen Lärm ertragen, ohne Wahnsinnig zu werden. Panik steigt in Magda auf.

Und dann ist alles wieder still.

Magda nimmt die Hände von den Ohren und atmet tief durch, ohne dass ihre Lungen zittern. Noch halb benommen blickt sie sich um. Aber es gibt immer noch nichts zu sehen. Auch zu ihren Füßen ist nichts außer dem Gras, das hier wächst und den Büschen und Bäumen um sie.

„Ich hab dir doch gesagt, du hast hier nichts zu suchen. Was fällt dir ein? Du machst noch alles kaputt. Verschwinde!“ Die Stimme hallt sehr merkwürdig. Und wer da ruft, ist sehr böse.

Wieder kommen die Töne, vielmehr jetzt das Rufen, scheinbar aus dem Boden. Magda fällt fast vom Schlag getroffen vorn über. Was ist das? Welch bösen Geister hausen hier? Sie will doch gar nichts kaputt machen.

„Ich will euch nichts Böses. Verschont mich, ihr Geister!“, ruft sie. „Ihr Götter beschützt mich!“ Als wäre der Teufel hinter ihr her, rennt Magda wieder den Hang hinab. Natürlich stürzt sie dabei immer wieder, weil ihre Füße nicht so schnell laufen können, wie sie möchte. Nur schnell weg. Egal welche Trolle oder Geister hier hausen. Freundlich sind die bestimmt nicht. Zu Tode erschrocken flieht Magda, ohne darauf zu achten, dass sie inzwischen auf einem fest getretenen Weg rennt. Schließlich stürzt sie ein letztes Mal und bleibt völlig erschöpft bäuchlings neben dem Weg liegen.

Nur langsam kommt Magda wieder zu Atem. In ihr drin ist alles noch völlig aufgewühlt. Sie zittert am ganzen Körper. Teils aus Angst, teils aber auch aus Erschöpfung. Sie ist nicht in der Lage, sich zu erheben. Da hört sie ein Fuhrwerk sich nähern. Die Achsen quietschen rhythmisch. Vom Hügel herab kommt das Gespann. Es ist ein ganz kleiner Wagen, gezogen von einem ganz kleinen Schaf. Und auf dem Kutschbock sitzt ein ganz kleiner Mann. Wirklich ganz klein. Wenn er steht, ist er wohl um die zwei oder zweieinhalb Fuß groß. Höchstens, schätzt Magda. Sie liegt, immer noch völlig entkräftet, auf dem Boden und hat sich nur auf die Seite gedreht.

„Brrr!“. Der kleine Mann hat das Fuhrwerk gestoppt und blickt zu ihr. „Kann ich euch helfen, Maid?“

Magda richtet sich etwas auf und stützt sich nun auf den Unterarm. „Nein, vielen Dank, Herr.“, sagt sie artig. Mehr geht nicht. Sie kann nicht begreifen, dass dieser kleine Mann mit dem kleinen Schaf und dem kleinen Fuhrwerk mit ihr spricht. Sie nimmt überhaupt nicht richtig wahr, was gerade passiert.

Dem kleinen Mann ist ihre Antwort genug. Mit einem Schnalzen bringt er das Schaf wieder in Bewegung. „Ich entbiete euch meinen Gruß“, ruft er noch. Das Fuhrwerk rollt gemütlich weiter und verschwindet hinter dem nächsten Busch.

Magda schüttelt den Kopf, als könne sie damit ihre wirren Gedanken wieder in Ordnung bringen. Dann setzt sie sich auf. Sie ist wie benommen. Sie glaubt, sie stünde neben sich und sähe auf sich herab. Die Angst vom Berg ist verschwunden, verdrängt von dem Bild des kleinen Mannes. Magda hat schon kleine Menschen gesehen; bei den fahrenden Leuten. Doch die waren irgendwie missgestaltet. Krumme Beine, zu kurze Arme, zu große Köpfe und so. Meist machten sie Späße auf dem Jahrmarkt. Aber dieser kleine Mensch war ….

Wie ein Mensch eben war. Alles ganz normal, nur sehr sehr klein. Wo war sie hier? Träumte sie? Was war geschehen? Es bleibt ihr nicht viel Zeit, darüber nach zu denken. Als sie sich erhebt und wieder auf den Weg treten will, hört sie vor sich Hufgetrappel und ehe sie es sich versieht, kommt ihr ein anderer kleiner Mann, mit wehender grüner Zipfelmütze, auf einem kleinen Ziegenbock reitend, entgegen galoppiert. Er hält sich an den Hörnern des Bockes fest

„Aus dem Weg, du dummes Ding. Dass einem die Großen immer im Weg rum stehen müssen! Es ist doch kaum zu glauben. Steh nicht dumm rum, sonst nimmt dich der Bock auf die Hörner.“ Und schon ist der kleine Reiter vorbei.

Das ist dann doch zu viel für Magda, die Panik ist wieder da. Sie rennt los, laut hysterisch schreiend, ohne Sinn und Verstand, einfach nur weg. Aus diesem Wald muss sie raus. Sei rennt und rennt, bis ihr vor Erschöpfung schwarz vor Augen wird und sie ohnmächtig zusammen bricht.

Nach der Ohnmacht ist Magda nicht erwacht. Ihr Körper hatte es vorgezogen, nahtlos in einen sehr tiefen und langen Schlaf zu fallen. Der ist aber auch bitter nötig. Viel zu viel hatte die so junge Frau zu ertragen. Diese vielen erschreckenden Erlebnisse. So viel Unbekanntes. Das muss erst verarbeitet werden und das macht der Körper am Besten im Schlaf. Man darf auch nicht vergessen, dass sie schwanger ist und auch das Ungeborene der Ruhe bedurfte. Keiner kann heute noch sagen, wie lange Magda tatsächlich geschlafen hat.

Als sie dann erwacht, fühlt sie sich ausgeruht und ruhig. Tief im Innern aber ist noch lange nicht alles in Ordnung und sicher hätte es nur eines kleinen Auslösers bedurft und Magda hätte erneut eine Ohnmacht erlitten. Aber es geschieht nichts. Eine Amsel über ihr singt und am Sonnenstand erkennt sie, dass es wohl noch früh am Morgen ist. Die Sonne ist zwar schon aufgegangen, aber sie hat noch nicht die Wipfel der Bäume überstiegen. Die Wiese, auf der sie liegt, ist vom Morgentau noch feucht. Auch ihre Kleider sind deshalb klamm und sie freut sich darauf, in der Sonne zu trocknen. Hunger und Durst hat sie. Für den Durst plätschert in der Nähe ein kleines Rinnsal. Gierig trinkt sie aus dem Bächlein. Auch wenn das Wasser sehr kalt ist. Nur mit dem Essen ist das immer noch so eine Sache. Löwenzahn ist das Einzige, von dem sie weiß, dass es ihr bekommt, das sie findet. Und ein paar Käfer, die sie kennt, kann sie erhaschen. Schweren Herzen überwindet sie sich, Krabbelviecher zu verspeisen. Hauptsache, der Hunger ist erst einmal gestillt und der Magen beschäftigt; auch wenn er massiv revoltiert.

Sie blickt sich um. Wozu eigentlich? Sie weiß schon lange nicht mehr, wo sie ist. Sie ist weit von zu Hause (wieder steigen ihr Tränen in die Augen) und sie kennt die Gegend nicht. Ach, wie sie ihre kleine Siedlung doch so sehr vermisst. Was nun? Wohin gehen? Natürlich nicht mehr auf den Berg. Keine zehn Pferde würden sie da hinauf schaffen. Aber, ….?

Wo ist eigentlich der Berg? Ist es der ihr gegenüber? Oder ist es der weiter hinten zur Rechten? Oder ist es nur die kleine Anhöhe hinter ihr? Es gibt keine Orientierung für sie. Seit dem kleinen Ziegenbockreiter ist alles Folgende in Dunkel gehüllt. Sie hat keine Erinnerung, dass sie die große Strasse überquert und auf der anderen Seite, ein wenig westlich gewandt, wieder eine kleine Anhöhe erklommen hat.

Magda versucht, mit ihrem bescheidenen Wissen, ihr Weiterkommen zu überdenken. Wasser war sehr wichtig, das weiß sie. Und alle Siedlungen die sie kennt oder von denen sie weiß, liegen an einem Wasser. Sei es Fluss oder See. Gut! Wasser ist hier neben ihr. Zwar klein und nicht geeignet, viele Leute und deren Tiere zu versorgen, aber immerhin. Wie immer ist ein großer Umblick nicht möglich. Sie kann also nirgends eine Lichtung sehen, auf der vielleicht Menschen leben würden. Selbst das hätte ihr aber nichts genutzt, denn, und das ist ihr auch klar, es könnte auch eine Wüstung sein. Dort hatten vielleicht früher einmal Menschen gelebt. Weil der Acker aber keinen Ertrag mehr brachte, waren sie weiter gezogen. Außer Disteln und Brennnesseln hätte sie dort nicht viel vorgefunden. Mit viel Glück vielleicht ein halb verfallenes Dach, unter dem sie sich hätte verbergen können. Kleines Wasser läuft in großes Wasser, hatte ihr die Großmutter erklärt. Also muss sie jetzt nur dem kleinen Bach folgen, bis er in einen größeren Bach oder Fluss mündet. Dort sollte sich wohl eine Siedlung in der Nähe finden lassen.

Nachdem sie ihre Notdurft erledigt und sich im Bach gereinigt hat, beginnt sie ihre, nun endlich, selbst geplante Wanderung auf der Suche nach einer Bleibe. Sie folgt dem Bachlauf abwärts, so gut sie kann. Oft genug, muss sie, wieder einmal, dem Wald und den Sträuchern ausweichen. Aber immer behält sie den Bach im Blick; oder zumindest im Ohr. Es ist nicht einfach; wirklich nicht.

So ist Magda nun schon einige Zeit gewandert. Gerade eben hat sie eine kleine Rast gemacht. Aus dem Bach hat sie etwas getrunken. Voraus kann sie schon erkennen, dass sich dort wohl eine dichte Hecke gebildet hat, die sie wohl umgehen muss, denn der Bach läuft zwischen den Büschen hindurch. Nur nicht zu früh vom Bach abweichen. Soll sie nun rechts herum laufen oder links? Es möchte sein, der Bach nimmt eine Wendung und sie findet ihn hinter der Hecke nicht mehr. Aber die Entscheidung wird ihr abgenommen.

Noch während sie darüber nachdenkt, hört sie die Stimme ihrer Tante: “Magda, wo hast du so lange gesteckt? Die Schweine und Gänse wollen versorgt werden. Meinst du, das ginge von alleine?“

Sie hasst nicht nur die Stimme ihrer Tante. Doch wo ist sie? Magda blickt sich um. Es kann nicht sein, dass sie so nahe ihres Zuhauses ist. Nein, niemand zu sehen. Sicher nur eine Einbildung. Kein Wunder nach den letzten Erlebnissen. Und Magda geht weiter.

„Ich habe es satt, dich durchfüttern zu müssen.“ Das ist ihr Onkel. Ist der auch hier? Halt, wieso auch? Ihre Tante ist doch auch nicht hier, Aber der Onkel? Ganz deutlich hat sie seine Stimme gehört. „Nichts machst du ordentlich. Willst du wohl endlich herkommen, wenn ich dich rufe? Du sollst dich nicht so weit im Wald herum treiben.“

„Magda, wo bist du? Ich kann dich nicht finden. Komm zurück!“ Das ist Hilda, die kleine Tochter ihres Onkels, die sie so sehr liebt. Es zerreißt ihr fast das Herz. Aber nein, das kann doch nicht sein. Magda dreht sich im Kreis, kann aber noch immer niemanden erblicken. Wo kommen die Stimmen her? Das ist doch nicht möglich. Sie verspürt den Drang, nach Hause zu gehen. Dort ist es doch viel schöner, als hier. Sie kann es nicht begreifen. Sie hört die Stimmen, klar und deutlich. Aber sie kann niemanden sehen. Wie kann das nur möglich sein. Wie?

Schon lange ist sie keinen Schritt mehr gegangen. Die Stimmen haben sie aufgehalten. Aber sie will doch weiter. Sie will doch eine Siedlung finden, neue Menschen, die sie aufnehmen, weil sie zu Hause nicht mehr sein darf. Aber jetzt rufen sie die Stimmen nach Hause zurück. Das ist doch nicht vernünftig. Oder doch? Hat sie sich geirrt? Haben Onkel und Tante sie doch lieb? Warum hört sie ihre Großmutter nicht?

Nein, so gerne sie auch wieder nach Hause ginge, aber es ist ihr doch verboten. Der Herr selbst hat sie fortgeschickt. Will man sie nach Hause locken, damit sie bestraft werden kann? Wie gemein. Sogar die kleine Hilda missbrauchen sie, um mich zu kriegen, denkt Magda.

Sie merkt nicht, dass sie bereits die Stimmen ernst nimmt. Sie spürt nicht, dass sie die Realität nicht mehr wahr nimmt. Ihre Umgebung verschwimmt vor ihren Augen. Der Bach, die Hecke – nichts mehr sieht sie so, wie es ist. Eine Scheinwelt baut sich in ihr auf. Jetzt sieht sie auch ihre Lieben und auch die weniger oder gar nicht Geliebten. Sie sieht Großmutter, die die kleine Hilda auf dem Schoß hat. Beide schauen so unendlich traurig drein. Sie sieht jetzt auch Tante und Onkel. Sie stehen nicht weit vor ihr und schauen gar nicht freundlich.

Dann sieht sie Hermann, des Grafen Sohn und Vater ihres Kindes. „Na, du Lügnerin! Trau dich nur her. Man wird dich lehren, die Wahrheit zu sprechen. Der Stock freut sich schon, auf deinem Rücken zu tanzen. Komm nur, komm nur.“, hört sie ihn rufen. Und zu allem Überfluss taucht übermächtig hinter allen der Graf auf, riesig groß, und er schreit nach ihr. „Magda, ich kriege dich! Wo du dich auch versteckst! Du entkommst mir nicht! Wage es nicht, weiter zu gehen!“

Aus dem Wunsch, weg zu gehen, ist ein Zwang zur Flucht geworden. Dort vorne, hinter der Hecke, da sind sie alle. Da warten sie alle, um ihr Böses zu tun. Nein, ihr kriegt mich nicht. Ihr habt mich nicht lieb. „Nein!“ schreit Magda, „Ich will nicht. Lasst mich.“, bricht es aus ihr heraus.

Magda dreht sich um und rennt. Sie rennt und rennt und rennt. Sie kann nicht mehr denken. Des Zaubers, dem sie gerade erliegt, kann sie sich nicht erwehren. Denn ja, dies ist ein Zauber. Alle Menschen, die sie gesehen und gehört hat, sind überhaupt nicht gegenwärtig. Es gibt sie hier nicht. Im Moment verschwendet keiner von ihnen auch nur einen Gedanken an sie. Vielleicht ausgenommen Großmutter und Hilda. Ein Abwehrzauber zwingt sie dazu, sofort und so schnell wie möglich von diesem Ort zu verschwinden. Ihm nicht näher zu kommen.

Sonst wirkt der Zauber nicht so stark. Er ist ausreichend, jeden, der nicht willkommen ist, zu vertreiben. Doch bei Magda, die schon so schreckliches kurz zuvor erlebte, wirkt der Zauber so viel stärker. Schon wieder rennt sie, ohne auf irgendetwas zu achten, durch den Wald. Jedes Tier, das sie bei ihrer Flucht aufscheucht, erschreckte sie noch mehr. Doch diesmal rettet sie keine schützende Ohnmacht.

Völlig verwirrt und unendlich erschöpft kämpft sich Magda weiter durch den dunklen Wald. Mit den Armen drängt sie kleine Äste aus dem Weg. Doch sie erwischt nicht alle und manches mal erhält sie dann einen Schlag gleich einer Peitsche ins Gesicht. Kein Lichtstrahl des inzwischen voll aufgegangenen Mondes erreicht durch das dichte Blätterdach den Boden. Schwer atmend lehnt sie sich an den Baumstamm, dessen Wurzeln sie eben fast zu Fall gebracht hatten, und sieht sich um. Bei der Dunkelheit eine vollkommen unnötige Bemühung. Sie sieht nichts.

Aber ihre Angst treibt Magda vorwärts. Sie hat zwar keine Ahnung, in welche Richtung, geschweige denn wie weit, doch immer weiter stolpert sie dem unbekannten Ziel entgegen. Plötzlich steht Magda vor einem sehr großen hellen Felsen, der sich deutlich aus dem Dunkel abhebt. Fast wäre sie daran gestoßen, denn trotz seiner hellen Farbe hat sie ihn erst gar nicht gesehen. Rechts und links von sich ertastet Magda weitere Felsen der gleichen Farbe. Er fühlt sich merkwürdig an. Er ist nicht glatt, sondern irgendwie - schuppig. Ja, genau. Einen schuppigen Felsen kennt sei nicht. Sonderbar. Zurück gehen will sie nicht, weiter gehen kann sie nicht. Kraftlos sinkt sie mit dem Rücken zum Felsen zu Boden. Und noch in dieser Bewegung verlangt der Körper sein Recht nach Ruhe. Magda ist tief eingeschlafen.

Eringus, der Drache vom Kinzigtal

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