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Kapitel 2
ОглавлениеDer alte Küchenhund in der Fakturei auf Malta verhielt sich genauso wie mein neuer Freund, wenn er jemanden ins Herz geschlossen hatte.
Malta - innerlich wurde mir warm, und das lag nicht an der aufgehenden Sonne.
Andere Gedanken drängten sich dazwischen.
Viel wusste ich nicht von meiner frühesten Jugend.
Einige Erinnerungen gab es, meistens Bilder, die sich immer wieder ohne Zusammenhang vordrängten, wenn nicht damit zu rechnen war. Sie schienen weit vor der Zeit zu liegen, als ich dauernd weitergeschoben wurde.
Umherziehen - dieser Gedanke war untrennbar verknüpft mit Unstetigkeit und Menschen, die anschließend für mich da waren, ohne den Jungen neben sich wirklich zu kennen.
Die Vergangenheit brachte verschiedene Frauen, die sich um mich kümmerten, weil ich noch sehr klein war. Im Grunde namenlos, blieben sie fast beliebig austauschbar, wie die dazugehörigen Familien. Sie wechselten wie die Hütten, in denen ich mit ihnen lebte, und wie die Umgebung, wenn nach langer Reise wieder einmal alles von vorn begann.
Jedes Mal brachte mich ein großer Mann mit gütigem Gesicht dorthin. Er war äußerst freundlich, aber sofort nach unserer Ankunft wieder verschwunden.
Ich musste wohl noch sehr klein sein, denn die Menschen sahen wie Riesen auf mich herab.
Nach dem Stehen begann auch das Laufen ohne Hilfe langsam zur Gewohnheit zu werden.
Sobald die Gewöhnung an eine Familie eingetreten war, holte man mich wieder ab.
Alles ging sehr schnell.
Manchmal wurde ich sogar nachts aus dem Bett gezogen und musste zu dem großen Mann auf ein Pferd klettern. Am Ende des Rittes wartete wieder eine neue Frau, und mein Beschützer verschwand wieder.
Ich fing an, mich innerlich an niemanden mehr zu binden, weil die nächste Veränderung ohnehin bald wieder bevorstehen würde.
Unzählige Male wurden diese Gedanken nicht enttäuscht ...
Über den vielen Ortswechseln wurde ich fast unbemerkt langsam größer.
Längst war aus dem unbeholfenen Gehen ein schnelles Rennen geworden, aber trotzdem blieb die Einsamkeit ein steter Begleiter. Das Spielen fand nur unter Beobachtung statt, und oft sollte ich mich dabei verstecken. Es war mir bald verhasst.
Immer, wenn Fremde erschienen, wurde das Geübte verlangt.
Es blieb mir unverständlich ...
Irgendwann, am Ende einer weiteren Reise, kamen wir nachts in ein Kloster. Nichts Ungewöhnliches - schon öfter war dies passiert. Erneut nahm man mich fast liebevoll in Empfang. Diesmal wartete allerdings keine Frau, sondern wieder ein Mönch.
Man wies mir einen eigenen Raum zu. Obwohl karg eingerichtet, fand sich trotzdem Holzspielzeug. Das war mehr als in den meisten Familien zuvor.
Ich konnte mich überall frei bewegen, aber an der Klostermauer endete die neue Welt.
Weitere Reisen gab es nicht mehr. Irgendwann wurde dieser Ort mein Zuhause, obwohl nie jemand da war, wenn ich nicht einschlafen konnte oder etwas erzählen wollte.
Bald waren täglich kleine Aufgaben zu erledigen. Ein Mönch brachte mir zusätzlich alles Mögliche bei - Getreidesorten, Vogelarten, Märchen, Einzelheiten über das Klosterleben und viele Geschichten aus der Bibel.
Später, des Lesens und Schreibens mächtig, half ich in der Bibliothek. Dabei gab es immer wieder genug Zeit, sich die Folianten und Codizes genauer anzusehen, bevor sie wieder in den Regalen verschwanden.
Ich liebte es. Oft fanden mich die Mönche noch spät abends in der Bibliothek, obwohl alle Aufgaben längst erfüllt waren.
Die Zeit hier schien stillzustehen.
Eines Nachts wurde ich wie früher aus dem Bett geholt und musste sofort meine Sachen packen.
Diesmal wartete kein Pferd auf uns. Stattdessen lief der Mann von früher mit mir immer tiefer in den nahegelegenen Wald hinein.
Irgendwann kamen wir zur Küste und später zu einer abgelegenen Stelle, wo ein Boot wartete. Schnell brachte es uns hinaus auf das Meer.
Erst im Morgengrauen gingen wir irgendwo an Land. Es folgte ein langer Fußmarsch, wieder zu einem kleinen Kloster. Dort übergab mich der freundliche Mann einem wartenden Mönch. Kurz darauf schloss sich die Klosterpforte von innen. Nach dem Zuweisen einer Zelle war ich allein.
Wieder einmal ...
Nach einigen Tagen der Eingewöhnung bezog man mich komplett ins allgemeine Leben ein.
Nun standen mehrfach täglich Gottesdienste an, und die Aufgaben wurden ausgedehnt. Wie ein Knecht musste ich selbst in der Küche arbeiten. Regelmäßig gehörten Gemüseputzen für das nächste Mittagessen der Mönche wie auch das Wischen des Bodens auf Knien dazu. Die Mönche schienen bei den zu verrichtenden Arbeiten vergessen zu haben, dass ein Knabe vor ihnen stand.
Gleichzeitig hielt man mich jedoch auch regelmäßig zum Lesen an.
Es fiel mir schwer, die Anforderungen zu erfüllen. Kurz zuvor noch mit den Freiheiten eines Kindes ausgestattet, galten nun andere, unbekannte Maßstäbe. Regelmäßig schlief ich vor Übermüdung in den Gottesdiensten ein. Zuviel harte Arbeit, dagegen kaum noch Momente der Ruhe ...
Nach einiger Zeit des Einlebens schaffte ich mein Tagespensum leichter als bisher.
Auch weiterhin nahm niemand Rücksicht.
Irgendwann befasste man sich eingehender mit dem Neuankömmling. Es folgte eine intensive Ausbildung in jedem Bereich der klösterlichen Welt. Der Abt legte auf jede Kleinigkeit Wert. Endlich nahmen die harten körperlichen Arbeiten ab. Stattdessen achteten die Mönche auf unentwegte Zuführung von Wissen.
Ich begann sehr schnell, es zu genießen.
Dieses Kloster lag nicht versteckter als andere meiner bisherigen Aufenthaltsorte, wenn auch deutlich abgeschiedener.
Man hielt mich zwar nicht direkt von der Welt jenseits der Mauern fern, achtete aber darauf, dass ich nicht mit fremden Menschen zusammenkam. Auch weiterhin war freie Bewegung nur innerhalb der Anlage erlaubt.
Scheinbar war mein Aufenthalt hier auf lange Zeit ausgelegt. Eigentlich deuteten nur viele Kleinigkeiten daraufhin, aber in der Summe waren sie bedeutsam.
Die kommenden Monate und Jahre gaben mir Recht.
Es folgte nicht eine einzige Flucht mehr. Die Mönche versuchten, von Anfang an unentwegt ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln - als ob mein Bestimmungsort erreicht wäre.
Vielleicht würde ich ja für immer hier bleiben ...
Trotzdem räumte ich dieser Hoffnung bewusst wenig Raum ein.
Wer wusste, was noch kommen würde ...
Ich war bei den Zisterziensern gestrandet. Sie unterhielten eine kleine Abtei auf Malta, wie ein Bollwerk gegen die Zeit. Den Orden gab es sonst nirgendwo mehr auf der Insel, und umso enger war der Zusammenhalt. Man fand bei ihnen nicht die sonst in Klöstern übliche straffe Disziplin, die von einem harten Regelwerk unterstützt wurde. Dafür hielt ein freundschaftliches Miteinander in gesteckten Grenzen diese Großfamilie zusammen. Unüblich für den Orden, wie Ambrosius, der Abt, betonte, aber äußerst wirkungsvoll.
Der Glaube war hier nicht nur eine Hülle oder ein Vorwand.
Wärme prägte das Leben.
Mittlerweile war ich zwölf Jahre alt.
Schier unendliches Lernen beherrschte die folgenden Jahre.
Naturwissenschaften, Sprachen, Landwirtschaft, Ethik und Moral - alle Bereiche des weltlichen und geistigen Lebens waren den Mönchen bei der Ausbildung wichtig.
Bibliotheken übten auch weiterhin eine unglaubliche Anziehungskraft auf mich aus, aber auch eine einzige selbstgezogene Möhre bewirkte ehrliche Freude.
Die Mönche kümmerten sich ausnahmslos rührend um mich. Überall fand ich eine Schulter zum Anlehnen oder ein offenes Ohr, wenn es nötig war. Man steckte mir Kleinigkeiten zu und nahm mir Arbeiten ab, ohne dass der Abt davon erfuhr.
Sie kümmerten sich wie eine große Familie um mich.
Der Glaube bestimmte mein Dasein. Auch er ersetzte an vielen Stellen die fehlende Familie. Ich ging über die Jahre hinweg regelrecht darin auf. Trotzdem fand sich nie ein Gespräch darüber, mich in den Orden aufzunehmen. Scheinbar interessierte niemanden hier ein solcher Gedanke. Manchmal dachte ich schon darüber nach, aber die Zeit des Lernens war zu schön und überdeckte alles wie von selbst.
Die Zeit verging.
Allmählich wich das kindliche Denken einem Prozess der Weiterentwicklung. Meine Welt war weiterhin heil und sonnendurchflutet. Die trüben Gedanken der frühen Kindheit tauchten nur noch selten auf, ansonsten verblassten sie gegenüber der Gegenwart mehr und mehr.
Es ging mir gut.
Mit 14 Jahren wurde ich ohne Widerstand der Mönche von zwei unbekannten Männern abgeholt und nach Frankreich gebracht.
Auf dem Weg dorthin erklärte man mir kurzerhand, ich würde nun bei den Templern zum Knappen ausgebildet.
Mit der Ankunft begann ein anderes Leben. Nicht nur wegen der bisher unbekannten Sprache fiel mir die Eingewöhnung unglaublich schwer.
Dies war nicht das Leben, das ich wollte!
Einem Ritter zugeteilt, lernte ich in den folgenden Jahren trotzdem den Umgang mit Waffen, andere Umgangsformen und eine bisher unbekannte Form Art des Gehorsams. Auch hier achtete man auf Abgeschiedenheit, und ich musste nie mit in einen Kampf ziehen.
Die Zeit war hart, unendlich lang und nicht mit dem vergleichbar, was ich bisher zu schätzen gewusst hatte.
Als ich 21 Jahre alt wurde, erfolgte nicht wie bei dem Knappen eines Ritters eine Weihe zum Ende dieser Zeit.
Stattdessen schickte man mich ohne einfach zurück zu den Zisterziensern auf Malta. Ich hatte mir abgewöhnt, nach Gründen zu fragen und gehorchte.
Der Abt wies mich an, fortan solle ich als rechte Hand des Bibliothekars mein Wissen vertiefen. Es war mir mehr als recht, konnte ich doch mein geliebtes Leben fortführen. Die vergangenen sieben Jahre schienen wie ein schlechter Alptraum. Ich lebte zwar nicht in den Tag hinein, doch um die Zukunft machte ich mir keine Sorgen mehr.
Alles hatte sich wieder zum Guten gewendet!
Genau an meinem 22. Geburtstag meldete sich ein Besucher an - ungebeten und unbekannt. Wir trafen uns in einer der wenigen Klosterzellen, die für solche Treffen vorgesehen waren. Vor mir stand ein Mann mit sonnengebräuntem Gesicht, das viele Furchen trug - nicht nur die Schwere des Lebens war darin zu sehen. Anscheinend lachte er gerne. Das Gesicht wurde von vollen, grauen Haaren regelrecht umspielt. Die Züge waren todernst, auch wenn die dunklen Augen mich wohlwollend ansahen.
Seine Ausstrahlung allerdings unterdrückte jede tiefergehende Beobachtung. Machthunger und starker Wille füllten den Raum geradezu aus. Sie standen fast körperlich zwischen uns, obwohl ich davon nicht im Geringsten beeindruckt wurde. Ein imposanter Mann, auch wenn seine körperliche Größe nicht unbedingt ihr Teil dazu beitrug.
Die Ordenskleidung der Templer war blitzsauber und korrekt. Der Mann trug bis auf Schild und Lanzen sämtliche Waffen bei sich; außerdem ragte der Griff eines Stiefelmessers leicht aus dem linken Beinschutz. Unüblich für einen Ordensritter, war es kaum zu bemerken von demjenigen, der nicht genau hinsah.
Nach einer kurzen Vorstellung durch den Abt verzichtete der Besucher auf jegliche Höflichkeitsfloskeln. Ohne Umschweife beschrieb er fehlerfrei mein bisheriges Leben, als sei es sein eigenes. Gebieterische Handbewegungen sorgten für ungestörten Redefluss.
Ich war geschockt.
Was sollte das hier? Woher hatte der Fremde seine Informationen?
Doch das war nur der Anfang ...
Mit nüchternen Worten trug er dann Unglaubliches vor.
Mein Vater sei ein Templer gewesen, bei einem Angriff umgekommen, und die Mutter wäre früh gestorben. Geschwister gäbe es nicht. Dem Willen des unbekannten Vaters nach solle ich mit dem 22. Geburtstag zum Krieger ausgebildet werden und später ins Heilige Land ziehen. Alles sei geplant gewesen - die lange Anwesenheit in dieser Abtei wie mein gesamtes Leben überhaupt. Sämtliche wechselnden Aufenthaltsorte vorher hätten allein der Sorge um größtmögliche Sicherheit Rechnung getragen. Den freundlichen Mann, der mich damals von einem Ort zum anderen gebracht hatte, nannte er einen engen Vertrauten meines Vaters.
Nun, mit Erreichen des passenden Alters, sei die Zeit für den nächsten Abschnitt meines Lebens gekommen. Alles Weitere würde man mich beizeiten wissen lassen; für den Moment sei es genug.
Die Entscheidung stünde an - entweder nähme ich den Willen meines Vaters an und würde von den Templern zum Krieger ausgebildet. Ansonsten sei die Abtei sofort zu verlassen, da kein Geld mehr für mich gezahlt würde. Man könne mich zwar nicht auf Dauer von einem Ordensbeitritt abhalten, aber als Mönch sei ich hier unerwünscht. Mein Bleiben hier im Kloster wäre also so oder so beendet.
Ambrosius bestätigte alles Vorgetragene.
Die beiden schienen sich zu kennen. Es herrschte eine seltsame Vertrautheit zwischen ihnen, die man nur unter Freunden spürt. Auch hatten sie sich auf dieses Gespräch wohl vorbereitet, denn die Antworten auf jegliche Fragen wirkten nicht sonderlich spontan.
Ich konnte es nicht glauben.
Die Abtei, die Brüder und das Lernen waren mein Leben.
Und nun solch ein Bruch!
Kämpfen - ich half jeder Raupe vom Salat.
Jerusalem?
Malta hörte am Meer auf, und diese kleine Insel war ausreichend groß für mich!
Veränderung - den eigenen Plänen nach würde sie nur durch die endgültige Aufnahme in den Orden anstehen.
Meine heile Welt brach völlig zusammen.
Das Gespräch dauerte bald den ganzen Nachmittag.
Offenbar war ich nach dem Tod meines Vaters als kleines Kind hier nur untergebracht worden, damit mir nichts passierte und später eine gute Ausbildung folgte. Jemand hatte das Geld dafür bis zu dem maßgeblichen Geburtstag im Voraus bezahlt.
Wer - das nicht zu wissen gaben beide Männer vor.
Jedenfalls legte derjenige größten Wert darauf, den letzten Willen meines Vaters umzusetzen und mich in seinem Sinne dauerhaft am Leben zu erhalten. Diese Person hatte so viel Macht, dass ihr ein Vertreter der Kirche wie auch ein Angehöriger eines Mönchsordens gehorchten. Oder aber der Unbekannte hatte derartigen Einfluss besessen, dass er auch lange nach seinem Tode noch derart einwirken konnte!
Eine weitergehende Erklärung für die dauernden Ortswechsel über Jahre hinweg bis zum meinem Einzug hier in der Abtei bekam ich nicht. Zweifelsohne hatte ein größerer Kreis von Verschworenen an meinem Leben mitgewirkt. Ein Machwerk dieser Art war unmöglich von dem Abt und dem Templer allein umzusetzen gewesen!
Und nun sollte ich alles aufgeben, um die nächste Stufe eines fremdbestimmten Lebensplanes zu erreichen!
Als das Gespräch beendet war bewegten sich meine Füße wie von selbst nach draußen.
Der Kopf war leer; er konnte keine Befehle mehr an den Körper geben.
Im Klostergarten angekommen, sprang mir der Küchenhund freudig entgegen. Er verschenkte seine Liebe nicht oft ...
Ich dachte angestrengt nach, während er wie üblich gestreichelt wurde. Von klein auf hatte es immer eine enge Verbindung zu Tieren gegeben, doch in diesen Momenten war sie unwichtig geworden.
Dauernd schweiften die Gedanken ab. Mein Blick fiel auf die untergehende Sonne, die ich so liebte. Vielleicht half sie genau jetzt beim Nachdenken ...
Schnell verlor ich mich in den gleißenden Strahlen, die sich auf dem hellblauen, glatten Meer brachen.
Die Fakturei lag am Rande der Insel, neben einer Ecke der Insel, von der aus man ein nahes, kleines Eiland beobachten konnte.
Tausende von Vögeln trafen sich hier. Es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen, eine Mischung aller möglichen Farben und Größen.
Das Gekreische und Gefiepe, das dauernde Auf und Ab, dazu die unzähligen Möwen, die unentwegt auf der Suche nach Fischen kreisten - alles war so vertraut. Ich schien jede Handbreit zu kennen.
Hier lag die Ruhe in der Unruhe. Ließ man sich darauf ein, brachte sie Stille für den Kopf. Ich konnte ganze Tage hier verbringen und allein in die Vogelmassen sehen, den Hund an meiner Seite. Der Blick vertiefte sich dann immer mehr und nahm die Gedanken mit.
Anstatt nur in schweren Gedanken zu ertrinken, versuchte ich auch diesmal, mich auch an dem gewohnten Anblick zu erfreuen.
Dabei brach mir fast das Herz.
Welche Entscheidung war die richtige?
Ein Leben mit den Brüdern war ohne Ordensbeitritt nicht möglich, wollte man nicht als Knecht enden. Dann vielleicht eines als Mönch in meiner Abtei, trotz der angekündigten Widerstände?
Ich war beliebt, aber wie sah eine Ordenszugehörigkeit auf Dauer aus, die vom Abt nicht gewünscht war?
Ambrosius hatte klar zu verstehen gegeben, dass mein weiteres Leben anders zu verlaufen habe. Der Vertraute des Templers würde mir ein von ihm nicht gewünschtes Dasein bei den Zisterziensern zur Qual machen - die Macht besaß er allemal!
Auch die Freundschaft zu den anderen Brüdern könnte dann ein unerträgliches Leben kaum erleichtern. Und unerträglich wurde es für mich werden, nur damit ich die Abtei dann möglichst schnell verließe.
Bislang war dies immer vor dem Hintergrund von Verfehlungen der Fall gewesen ...
Selbst wenn Ambrosius mich bisher persönlich schätzte - in der kommenden Zeit würde sich unser Verhältnis nachhaltig ändern.
Die Gedanken jagten sich förmlich in meinem Kopf.
Was sollte ich nur machen?
Wissen - allein darum ging es.
Ein Leben als Krieger? Unvorstellbar.
Ein unbekannter Vater hatte mein Leben geplant? Das konnte ich nicht akzeptieren!
Nur Gott hatte das Recht dazu, solche Entscheidungen zu treffen!
Und Weggang?
Wohin? Ich hatte nichts und niemanden. Und ein Leben als Bettler sollte es nicht geben, genauso wenig wie als Übersetzer für einen der reichen Araber, die immer wieder auf der Insel auftauchten. Sie gierten danach, alte lateinische Bücher in ihre Sprache übertragen zu bekommen.
Irgendwann wurde es Nacht, doch es hatte sich keine Lösung aufgetan.
Ich brachte den Hund zurück und ging anschließend in meine Zelle.
Karges Mondlicht erhellte sie nur mühsam durch ein kleines Fenster. Beim Hinlegen fiel mein Blick auf einen Zettel, der auf der wollenen Decke lag. Dort hatte ich weder etwas vergessen noch hingelegt!
Das Kerzenlicht zeigte eine herausgerissene Seite aus einer Bibel. Auf den Rand hatte jemand mit roter Tinte einige Worte geschrieben, als sollten sie unbedingt auffallen.
„Euer Vater lebt!“
Wie erstarrt stand ich da. Was sollte das?
Ein übler Scherz?
Mein Vater war doch nach Aussage des Ritters gefallen!
Bei dem Gespräch mit Abt und Templer auch über diesen unbekannten Mann hatte es keine Zuhörer gegeben. Zudem war auf Stillschweigen und absolute Geheimhaltung Wert gelegt worden.
Und nun dies!
Ich war beliebt bei den Brüdern, hatte keine Feinde. Wer hatte so etwas geschrieben - in dem Bewusstsein, mich bis in das Mark zu treffen?
Seit Broderik, der Templer, in mein Leben getreten war, schien kein Stein mehr auf dem anderen zu bleiben!
Der Ritter hatte die Abtei nach unserem Gespräch verlassen - von ihm konnte die Nachricht nicht kommen!
Wer also wollte mich innerlich wie äußerlich zerstören?
Warum?
Das Grübeln dauerte die ganze Nacht, aber ein Ergebnis gab es nicht.
Mit dem morgendlichen Vogelgezwitscher dämmerte ich ein, um dann direkt wieder von der Glocke zum Morgengebet geweckt zu werden.
Der Messe folgte eine Zeit des Schweigens, danach die Verteilung der Aufgaben für den Tag, anschließend die tägliche Arbeit. Ambrosius nahm mich von allem aus. So etwas hatte es noch nie gegeben!
Anstatt Gemüse zu putzen, die Räume zu reinigen, die Kapelle zu schmücken oder die Pferde zu pflegen, sollte ich in den Lesesaal gehen und mich in Studien der arabischen Sprache üben. Weshalb? Wofür? Und auch - wieso auf einmal um diese Tageszeit?
Der Lesesaal mit seinen Studien war dem Nachmittag vorbehalten!
Anscheinend blieb in meinem Leben plötzlich überhaupt nichts mehr so, wie es war ...
Also führte der Weg in das Nachbargebäude, in dem sich die Bibliothek befand. Mürrisch und ohne Eile suchte ich einige entsprechende Codizes heraus, immer in dem Bewusstsein, der Abt würde sie kontrollieren. Durch die großen, einfach verglasten Fenster konnte man die anderen im Garten arbeiten sehen.
Welch ein Genuss - jetzt in der Morgensonne zu stehen, zu arbeiten, zu reden und sich auf den Lesesaal am Nachmittag zu freuen!
Und ich saß hier und wollte nichts Arabisches lesen. In dieser Woche standen eigentlich sarmatische Schriften an. Außerdem hatte sich immer noch keine Lösung für das Problem meines Lebens aufgetan!
Erst viel später, kurz vor dem Mittagessen, rief mich eine bekannte Stimme an.
Ambrosius erkundigte sich nach Fortschritten. Nicht bei den Studien, sondern bezüglich einer Entscheidung!
Ich war wie vor den Kopf geschlagen.
Nicht einmal einen Tag nach dem Gespräch mit dem Ritter schien er mich loswerden zu wollen. Sollte die Sympathie der letzten Jahre nur gespielt gewesen sein? Hatte man mich nur als Kostgänger gesehen, für den nun kein Geld mehr gezahlt wurde?
Aufgeregt bat ich mir eine weitere Bedenkzeit aus, obwohl für ihn die Wahl von anderer Seite aus schon getroffen zu sein schien.
Ambrosius ging, und die schweren Gedanken setzten sich fort.
Mein 22. Geburtstag lag einen Tag zurück. Wofür war er das Schlüsselerlebnis?
Welche Kräfte waren hier am Werk?
Mein Kopf sank langsam müde vornüber auf die Brust. Die lange Nacht forderte ihren Tribut. Dann läutete die Glocke mehrfach im bekannten Takt. Ich fuhr hoch.
Vesper! Das Abendgebet!
Scheinbar hatte ich auch die Non, das Nachmittagsgebet, und das vorherige Mittagessen verschlafen!
Trotzdem war niemand gekommen, mich abzuholen. Die Mönche hatten gegen die Regel verstoßen, das Essen nur gemeinsam mit allen Angehörigen von Fakturei und Abtei einzunehmen! So etwas war noch nie passiert!
Warum jetzt?
Schlaftrunken riss ich die Augen auf und versuchte wachzuwerden, auch wenn es nicht richtig gelang. Nur schnell in den Speisesaal!
Fast schwerfällig sprang ich vom Stuhl auf, drehte mich um - und sackte zusammen. Ein unbeschreiblicher Schmerz zog sich durch den Körper, von den Zehen bis zu den Haarwurzeln. Blut lief über die an den Oberkörper gepressten Finger. Gleichzeitig brach aus jeder einzelnen Pore kalter Schweiß hervor.
Jemand hatte mir ein Messer tief in die Brust gestoßen!
Ein großes Loch tat sich unter den schwankenden Füssen im Boden auf.
Mir direkt gegenüber stand ein Mann mittleren Alters. Nur noch mühsam ließen sich schmierige Haare und ein aufgedunsenes Gesicht wie bei einem Trinker erkennen. Krähenfüße unter den Augen und schuppige Haut machten ihn nicht unbedingt ansehnlicher. Ich versuchte mich mit einer Hand krampfhaft an seinem staubigen Gewand aus grober Wolle festzuhalten, um nicht umzufallen.
Vergeblich.
Kein Muskel zuckte, während der Eindringling mich ansah. Sein Blick war kalt und völlig unberührt von dem, was hier gerade passierte. Kraftvoll drehte er das Messer in meiner Brust, um seines Erfolges sicher zu sein. Mir kam es vor, als hörte man dabei ein lautes Knirschen. Dabei sah ich die Tätowierungen auf dem Unterarm.
Ein gedungener Mörder, wie sie für wenig Geld auf dem Markt zu bekommen waren!
Jedes Kind wusste von ihnen.
Aber wieso ich? Warum wollte er mich umbringen?
Es musste ein Irrtum vorliegen. Ich war Klosterschüler - ohne Geld oder Feinde!
Wie war er überhaupt in den Lesesaal gekommen?
Meine Gedanken kreisten pausenlos, während das Pochen in den Ohren unerträglich wurde. Gleichzeitig stieg eine unerklärliche Hitzewelle auf. Kurz darauf sackten beide Beine weg. Im Fallen hielt ich mich an der Hand mit dem Messer fest und wurde ohnmächtig.