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Kapitel 5
ОглавлениеDie Ausbildung wurde immer härter.
Während ich mit dem Holzschwert auf dem Boden lag und einen angreifenden Feind abwehrte, flogen über mir die Möwen. Ob sie den Vogelfelsen von mir grüßen würden?
Was wohl der Küchenhund ohne mich machte? Seit Wochen hatte ich ihn nicht mehr gesehen, während wir sonst täglich am Inselrand gesessen und den Vögeln zugesehen hatten.
Ein derber Schlag auf das Schienbein holte mich in die Realität zurück. Der Templer hatte bewusst gezielt, weil er wusste, dass meine Gedanken wieder einmal abschweiften.
„Steht auf! Noch einmal. Hoch!“
Mein Körper war mittlerweile gut trainiert, so dass ich hochsprang und ihn gleichzeitig angriff. Er ließ sich nicht überrumpeln - meine Unerfahrenheit war zu groß. Wir beide wussten es. Seine Abwehr ließ mich stürzen, und erneut setzte es einen schmerzhaften Hieb.
Ich wollte diese Prozedur auch weiterhin nicht. Dementsprechend sahen auch meine Fortschritte aus - nach wie vor gab es kaum welche.
Der für mich abgestellte Schinder hatte kürzlich seine Strategie geändert. Anstatt sich weiter mit den unendlichen Misserfolgen aufzuhalten, beantwortete er jede fehlgeschlagene Waffenübung nun sofort. Die Abwehr meiner absichtlich miserablen und ungeschlachten Angriffe folgte grob und schmerzhaft. Rücksicht kannte er nicht mehr. Jeder Fehler wurde erbarmungslos bestraft.
Ohne Ankündigung kümmerten sich plötzlich drei Templer statt des einen unentwegt um die weitere Fortführung. Sie brachten mich an die Grenzen meiner Kraft.
Auch nachts wurde ich nun regelmäßig zu Übungen abgeholt. Trotzdem ertrug ich es klaglos. Irgendwann würde die Prozedur vorbeisein. Die Frage war nur, wer länger durchhielt - Broderik bei der rigorosen Umsetzung des Willens des unbekannten Toten oder ich.
Er würde nicht siegen!
Weitere Zeit verging.
Meine Kraft nahm ab, während sich der Druck nach wie vor stetig erhöhte. Längst versagte man mir die geringste Ruhe. Broderik benutzte jedes erdenkliche Mittel, den Widerstand zu brechen. Noch hatte der Templer keinen Erfolg gehabt, doch weit entfernt war er nicht mehr.
Auch nachts folgten nun Quälereien. Sobald ich eingeschlafen war, weckte man mich wieder. Jede Nacht war durchbrochen von willkürlichen Übungen. Jeglicher richtige Schlaf wurde absichtlich verhindert.
Mittlerweile war ein Zustand absoluter Gleichgültigkeit eingetreten. Völlige Erschöpfung sorgte dafür, dass mich nichts mehr erreichen konnte. Nur der Rest eines eisernen Willens und weit entfernte Erinnerungen an die Vergangenheit im Kloster verhinderten einen Zusammenbruch.
Unverdrossen setzten die drei Männer ihren vorgegebenen Weg fort. Nach wie vor wurde jegliche schlechte Leistung nicht mit Worten quittiert, sondern allein durch härtere Wiederholungen und Schmerzen.
Es nahm einfach kein Ende.
Immer wieder setzte man die gleichen Übungen aufs Neue an. Dem schnellen Laufen und anschließendem Rennen mit schweren Steinen und Baumstämmen folgten Schwertübungen, Lanzentraining, Streitkolbenkämpfe und all die anderen Möglichkeiten, einander umzubringen. Bei den kleinsten Fehlern wurde geschlagen und bestraft - mehr denn je. Unterbrechungen gab es längst nur noch zu den Gebeten und den Mahlzeiten.
Dann kamen die Einheiten zu Pferd hinzu. Deutlich härter als die vorherigen zu Fuß, ergänzten sie die pausenlose Schinderei nun regelmäßig.
Die Templer genossen einen hervorragenden Ruf als Krieger. Sie hatten bei allen Kämpfen regelmäßig auch deswegen hohe Verluste zu verzeichnen, weil ihre Einheiten an vorderster Front standen und nicht wichen. Die Mönchsritter betraten das Schlachtfeld früh und verließen es als letzte - so oder so. Flucht war verpönt, und eine Niederlage versuchte man durch gnadenlosen Einsatz zu verhindern. Durch fortwährende, übermäßig harte und gute Übungen an den Waffen versuchte der Orden, seine Kämpfer länger am Leben zu halten. Noch ein Grund mehr, diejenigen, die ihm beitreten wollten, sehr harten Übungen zu unterwerfen. Welche anderen Ursachen aber hatten bei mir Schlafentzug und zusätzliche Schindereien?
Broderiks verletztes Ego?
Vielleicht gab es eine Möglichkeit, das alles noch anders zu beenden als von ihm geplant!
Ich zerbrach mir den Kopf, aber eine Fluchtmöglichkeit ließ sich nicht finden. Nie ließ man mich allein, und die Bewachung schien mit der Zeit noch strenger geworden zu sein.
Ursache dafür konnten unmöglich allein die Attentate sein ...
Irgendwann begann auch das Bogenschießen.
Es machte Spaß und bildete eine angenehme Ausnahme in der Schinderei. Allerdings blieben auch hier die Erfolge absichtlich ebenso aus wie bei allen Waffenübungen vorher.
Ich war nach wie vor nicht freiwillig hier!
Kurz darauf überbrachte ein Knappe eine Nachricht von Broderik.
Zeit spiele ab sofort keine Rolle mehr. Sämtliche Übungen würden solange wiederholt, bis ich geschickt genug und in der Lage sei, mein Leben selbst zu verteidigen. Die Dauer dieser Prozedur läge ab sofort in meiner eigenen Hand!
Außerdem sollte keinen falschen Hoffnungen auf ein fehlgeleitetes, späteres Leben Raum gegeben werden. Der erfolgreiche Abschluss dieser Übungen sei so sicher wie die nachfolgende Aufnahme in den Orden. Ansonsten könne das Eine wie das Andere noch jahrelang verschoben werden, je nachdem welcher Widerstand geleistet würde. Abschließend gönne er mir als Zeichen seiner guten Absichten nun wieder genügend Schlaf, wie jedem anderen Menschen in der Komturei auch.
Die Drohung war unmissverständlich!
Der Templer hatte nicht nur erkannt, welches Ziel ich verfolgte - nämlich das Ende der Übungen wegen Unfähigkeit - sondern auch Gegenmaßnahmen angeordnet!
Broderik und Ambrosius schienen entschlossener denn je, den Willen meines Vaters umzusetzen. Entweder waren sie dem Toten noch immer verpflichtet, oder er wurde mehr geschätzt, als ich erahnen konnte. Jedenfalls setzten die beiden sich weiterhin bedenkenlos über meinen eigenen Willen hinweg und achteten rigoros auf die Umsetzung ihrer Ziele. Nach wie vor schien es selbstverständlich, dass ich den Mönchsrittern beitreten würde, wenn der Drill nur lang und hart genug bliebe.
Erneut vergingen Wochen.
Mit dem steigenden Druck wuchs gleichzeitig der Wille. Ich würde mich nicht brechen lassen! Irgendwann musste diese Hölle zuende sein - wann auch immer!
Die unterschiedlichen Teile der Ausbildung wiederholten sich wie angekündigt. Nichts änderte sich an meiner Situation. Allerdings wurde jeder noch so kleine Fehler umso härter und mit noch mehr Schlägen bestraft, je länger Erfolge ausblieben.
Es war weder ein Ende noch eine Fluchtmöglichkeit in Sicht!
Irgendwann war ich es leid, unentwegt Prügel zu beziehen.
Die bisherige Taktik musste geändert werden! Ansonsten würde es immer so weitergehen, nur weil ich die Übungen bewusst schlecht ausführte und damit ein Weiterkommen verhinderte.
Broderik hatte es angekündigt ...
Abgesehen davon fühlten sich die drei Mönchsritter längst persönlich provoziert. Es ging gegen ihre Ehre, keine Fortschritte zu sehen. Sie waren Elitekämpfer und keine heruntergekommenen Söldner!
Entsprechend sah ihr Verhalten aus.
Richtig ausgeführte Übungen wehrten sie ohne Schmerzen ab, falsche dagegen ließen die Gegentreffer schnell zur Tortur werden. Ein einziger Tag wurde so durch die bisherige stillschweigende Verweigerung fast ununterbrochen von Schlägen begleitet. Und zur Schonung waren die Templer um mich herum ohnehin nicht aufgefordert worden ...
Es musste sich etwas ändern - bei allem Widerstand ging es so nicht weiter!
Stillschweigend kam es zu einer Änderung des Verhaltens, nicht aber der Einstellung. Körperlich passte ich mich an und machte die Übungen nun aktiv mit, anstatt wie sonst nur Arme und Beine zu bewegen. Schnell ließ sich die Anzahl der mir zugedachten Treffer und Schmerzen verringern. Gleichzeitig beobachtete ich die Ausbilder unentwegt. Jeder von ihnen bewegte sich bei den Kämpfen unbewusst nach einem bestimmten Muster. Hatte man dies einmal erkannt und sich darauf eingestellt, ließen sich mit einem Minimum an Aufwand die Übungen absolvieren und Treffer fast ausschließen.
Bald war keiner der Templer mehr in der Lage, Fehler mit Schlägen zu bestrafen. Daraufhin wurde das Tempo der Übungen fast verdoppelt. Ich reagierte mit größerer Geschicklichkeit. Schnell zeigten sich Fortschritte. Als Reaktion darauf erhöhte man Drill und Schliff nochmals. Trotzdem kamen sie mir nicht mehr bei. Zu gut kannte ich nach der langen Zeit die Ausbildung wie das Verhalten der drei Männer.
Endlich schienen sie ausgehebelt zu sein!
Jetzt musste nur noch die Zeit unter den Rittern beendet werden, um dann schnell wegzukommen. Sobald das hier alles geschafft war, würden sie ihren Gefangenen wohl wieder vor die Mauern des Hauptquartiers lassen. Sollte man mich trotzdem festhalten, würde ich notfalls in den Orden eintreten und bei der ersten Gelegenheit fliehen. Die Welt war groß genug, um nicht überall von den Mönchsrittern aufgespürt werden zu können. Außerdem war ihnen sicherlich nicht jedes Kloster wohlgesonnen - eines davon würde sich schon finden!
Nach weiteren vier Monaten Schinderei eröffnete mir Broderik unverhofft, dass ich nun die Grundfertigkeiten der Templer besäße und von einem seiner Freunde weiter ausgebildet würde.
Bislang hatten sich weder er noch der Abt wieder sehen lassen. Unterschwelliger Hass begann sich zu regen. Die beiden waren die Schuldigen für diese Quälerei und ein völlig zerrissenes Leben!
Nur mühsam ließ sich die Beherrschung weiterhin aufrechterhalten. Noch war mein Ziel nicht erreicht - die Freiheit!
Also fügte ich mich zumindest äußerlich leicht in diese neue Aufgabe.
Diese Zeit würde auch vergehen!
Der Freund Broderiks war ein ehemaliger Waffenmeister des Ordens.
Ein alter Mann, der auf Bitten des Ritters in den kommenden Wochen sein gesamtes Wissen zur Verfügung stellen würde. Er bestand ausdrücklich auf einem Umzug innerhalb des Hauptquartiers. So bezogen wir ein großzügiges Areal am Rande der Komturei. Durch steinerne Mauern abgetrennt, lag es wie eine kleine Festung, die von außen nicht einsehbar und nur durch einen einzigen Eingang zu betreten war. Seine zierlichen Wehrgänge blieben wie die Schießscharten dauernd bemannt, das einflügelige Tor dauernd bewacht. Außerdem patrouillierten mehrere Brüder außen und hielten Neugierige fern.
Bald wurde klar, wozu diese Maßnahmen dienten. Es ging nicht allein um meine Sicherheit. Man wollte eine hier stattfindende Sonderausbildung, die nur wenigen Männern zuteil wurde, um jeden Preis geheim halten!
Die Besatzung des Areals war derartig stark, dass jede Hoffnung auf baldige Flucht wie Schnee in der Sonne dahinschmolz - erneut.
Nach dem Verwinden dieser Enttäuschung überraschte mich die folgende Zeit fast angenehm.
Hatten in den Monaten vorher Unbarmherzigkeit und Schmerzen regiert, so erhielten nun Freundlichkeit und schier unendliche Geduld den Vorzug.
Mein Gegenüber war sehr gebildet und unterlegte jede praktische Übung mit viel theoretischem Wissen. Völlig ausgehungert in Bezug auf geistige Nahrung, sog mein Gehirn fast zwangsläufig auf, was sich da aufdrängte. So konnte ich bald eine Belagerungsmaschine nicht nur bedienen, sondern sie auch bauen oder reparieren. Bezüglich des Kampfes zu Pferd oder nur mit einer Schlinge gehörten bald auch die Schwachstellen des Tieres genauso zum erweiterten Wissen wie das Rascheln der verschiedenen Stricke.
Nicht der Kampf allein, sondern das Überleben unter widrigsten Bedingungen wurde vermittelt. Der Ausbilder verstand sein Handwerk und gab auch seine persönlichen Erfahrungen weiter, Broderiks Wunsch entsprechend. So profitierte ich von der schier unerschöpflichen Lebenserfahrung eines alten Kämpfers, der nahezu jede Situation schon erlebt zu haben schien.
Der Mann war mir suspekt. Durch und durch ein unbarmherziger Templer, zeigte er von Anfang an eine große Vorsicht im Umgang mit dem neuen Schützling.
Die grundsätzlich unterstellte Falschheit bestätigte sich nicht. Ihm kam es scheinbar wirklich nur darauf an, dass ich später durch seine Hilfen überleben konnte. Dabei benahm er sich wie ein Großvater gegenüber dem Enkel. Nie fiel ein böses Wort, nie wurde die Stimme erhoben. Die aufgebotene Geduld war unbeschreiblich.
Unsere Gespräche nahmen persönlichere Züge an. Immer tiefer drangen wir in seine Vergangenheit ein. Wenn er von früher erzählte - aus der Jugend, von unzähligen Kämpfen oder der Teilnahme am zweiten Kreuzzug - dann wurde das Gesicht des Alten freundlich. Gleichzeitig floss mir sein Wissen regelrecht zu.
Es war, als kenne man den Inhalt einer kompletten Bibliothek, ohne sie je gelesen zu haben. Auf eine Art erinnerte er mich an die Ausbildung im Kloster. Natürlich waren die Umstände und Bedingungen völlig anders, aber dort wie hier versuchte man, mit Ruhe möglichst viel zu vermitteln. Niemand lernt gut mit Zwang, aber jeder behält freiwillig alles, was ohne Druck beigebracht wird.
Und so erreichte mich auch der alte Krieger auf diesem Wege besser, als beide je gedacht hätten. Wir kamen an dem Punkt an, wo ich selbst nachfragte, wenn etwas von Interesse war. Im Gegenzug wurde mehr und mehr dieses profunden Wissens preisgegeben.
Der Mann richtete außerdem auf, was die vorhergehende Ausbildung zerbrechen wollte - den Menschen. Dies geschah wohl aus rein egoistischen Beweggründen - der eigenen Ziele wegen.
Ging es bei der ersten Ausbildung nur um das Erlernen von Waffenübungen und tumben Gehorsam, verkehrte Broderiks Freund nun alles ins Gegenteil. Mit Feingefühl und Blick für das Individuum versuchte er, aus mir einen überlegenen Kämpfer zu machen.
Bald etwa wusste ich selbst die Vorzüge eines weiteren Messers im Stiefel oder in der Rüstung zu schätzen. Eigentlich von keinem Ordensangehörigen benutzt, leistete es wertvolle Dienste, wenn keine anderen Mittel halfen.
Er lenkte die Ausbildung so, dass ich jedem Angriff gewachsen sein würde, ganz gleich mit welchen Mitteln. Dabei war der Versuch offensichtlich, die Intelligenz seines Schülers zur schärfsten aller Waffen zu machen. Zusammen mit der praktischen Ausbildung sollte mich dies noch schwerer besiegbar machen.
Mein ironisches Lächeln verschwand allmählich, denn die Erfolge stellten sich schnell ein. Auch wenn ich weiterhin die alte innere Einstellung behalten hatte, konnte man sich dem aktuellen Geschehen nur schwer entziehen. Der Mönchsritter führte mir täglich vor Augen, dass dies alles nur einem einzigen Ziel diente - dem dauerhaften Überleben.
Und dieses Argument war nachhaltig ...
Er zerstörte so zudem die Illusion, allein durch die Flucht in ein Kloster das frühere Leben wieder herstellen zu können. Die Wirklichkeit sah anders aus - ob es mir gefiel oder nicht.
Die Tage waren angefüllt mit Übungen und Lernen.
Leise schleichend hatte eine stille Heiterkeit von mir Besitz ergriffen. Jegliche Schinderei vorbei, dafür geballtes Wissen und unendlich viel Neues - die beste Phase seit meiner Anwesenheit in der Komturei hatte begonnen.
Erst Wochen später wurde mir bewusst, wieweit der Prozess der innerlichen Umwandlung bereits vorangeschritten war.
Ich wurde mehr und mehr zum Tempelritter!
Gleichzeitig hatte sich die frühere Zeit im Kloster in meiner Erinnerung fortwährend nach hinten verschoben. Längst blieb kein Platz mehr für sie. In der Gegenwart ging es nur noch ums Überleben. Alle Sinne wurden unentwegt darauf ausgerichtet.
Herz und Verstand versuchten, mit aller Macht, dagegen anzugehen. Wann immer es möglich war, erinnerte ich mich an das Kloster. Das Leben dort, die Freundschaften, die Arbeit, selbst das Vogelgezwitscher - jede Kleinigkeit wurde zurückgeholt in die Gegenwart.
Sprachen, Philosophie, Naturwissenschaften - egal, ob gerade ein Bogen benutzt oder eine Falle gebaut wurde, ich wiederholte alles im früheren Leben Gelernte. Die Bemühung, sich nicht völlig von der Ausbildung zum Elitekrieger vereinnahmen zu lassen, wurde zum ständigen Begleiter.
Nur nicht weiter verhärten!
Es war schwierig, gelang aber irgendwie. Mein eigentliches Wesen schien sich erhalten zu können, ohne dass ein Beobachter es bemerkte. Es war nicht einmal ein Verstellen nötig. Scheinbar nur stiller geworden, achtete ich darauf, nach außen einen konzentrierten Eindruck zu hinterlassen, als ginge es allein um die gestellten Aufgaben. In Wirklichkeit arbeitete mein Inneres mit aller Macht daran, alte Erinnerungen wachzuhalten, während der Waffenmeister allmählich subtil auf mich einzuwirken versuchte. Seine eindimensionale Denkweise, nach der nur das Mönchsrittertum die Elite der Menschheit sei, trat allmählich deutlich zutage. Er brachte sie mir ganz nebenbei näher - wie bei der Umerziehung eines gefangenen Feindes.
Äußerlich zeigten sich auch weiterhin die nötigen Fortschritte und Erfolge. Innerlich war ich nur mit den eigenen Gedanken befasst, ohne dass er es bemerkte.
Trotzdem schien der Templer mit meinen Fortschritten zufrieden zu sein.
Ich schwankte mittlerweile zwischen Respekt und Verachtung. Natürlich hatte der alte Mann einen Wissensschatz und eine Lebenserfahrung, die jemandem meines Alters schier unermesslich erschienen. Freiwillig teilte er das alles weiterhin, ohne sich zurückzuhalten. Für die Ansichten allerdings, die er ungefragt mitlieferte, hätte ihn jeder Prior sofort aus dem Kloster gejagt. Zudem war Broderiks Freund nur auf ein Lebensziel ausgerichtet - den Orden.
Auch diesen stumpfen Standpunkt würde ich auf keinen Fall übernehmen!
Für mich war und blieb ein Mensch ein Mensch, und nicht nur einfach Freund oder Feind, den es entsprechend zu behandeln galt!
Mein zweites Anliegen neben dem Selbstschutz ließ sich nicht verwirklichen - eine Flucht war nach wie vor unmöglich.
Überall standen Wachen, und ich war so gut wie nie allein. Also musste dieses Vorhaben ruhen, bis eine echte Möglichkeit bestand.
Die Zeit verging.
Der Ausbilder schien es auch nach Monaten als eine Ehrensache zu betrachten, mich weiterhin bestens zu unterrichten und all sein Wissen zu vermitteln. Mittlerweile achteten wir uns trotz aller Unterschiede. Ansonsten begegnete er mir wie meine Umgebung mit Abstand, als wüssten alle mehr über mich als ich selbst. Eine Erklärung für dieses Verhalten gab es so wenig, wie ein Irrtum möglich war.
Der Spätsommer nahm Abschied, und ich befand mich noch immer bei den Mönchsrittern.
Von Broderik oder Ambrosius kam kein Lebenszeichen mehr.
Die Ausbildung hatte sich gewandelt.
Im Beisein des alten Templers wurden die praktischen Übungen wieder aufgenommen. Unter eingehender Anleitung kämpfte ich längst allein gegen zwei oder drei Gegner, später dann gegen eine ganze Gruppe. Die Waffen wechselten ständig. Selbst mit den bloßen Händen galt es irgendwann zu siegen. Alles war nur darauf ausgelegt, mich jede noch so unterlegene Situation überleben zu lassen.
Um uns herum pulsierte das Leben in der Komturei, aber es wirkte unerreichbar weit weg. Ich hatte mir abgewöhnt, einen Gedanken daran zu verschwenden, da andere Dinge wichtiger waren.
An meiner Einstellung hatte sich nichts geändert, und so würde es bleiben!
Der Winter kam.
Bei den vorherrschenden milden Mittelmeertemperaturen fanden die Unterrichtungen nach wie vor im Freien statt. Mittlerweile wurden nur noch Übungen zu Pferd abgehalten. Es hatte keine weiteren Zwischenfälle gegeben, ohne dass man deswegen jedoch die Bewachung lockerte.
Wieder keine Flucht!
Mir wurde schmerzlich bewusst, dass wir uns Weihnachten näherten.
Sonst nahm ich um diese Zeit die Bibel freiwillig einmal mehr in die Hand, um mich auf das Fest einzustimmen. Diesmal, an diesem Ort, blieb sie unberührt liegen, weil mir nicht danach zumute war. Griffbereit auf dem Tisch der Zelle, umgab die Heilige Schrift nicht der feierliche Hauch, den ich aus dem Kloster von jeher kannte und liebte. So ignorierte ich abends das Buch in meiner Zelle, dachte aber wie früher im Kloster über verschiedene Passagen nach, sobald Zeit blieb.
Trotzdem war es kein Ersatz für die Zeit wie früher in diesem Monat.
Die Feiertage rückten immer näher.
Langsam ließ sich der innere Schmerz nur noch schwer unterdrücken. Noch nie hatte ich in den vergangenen Jahren Weihnachten außerhalb der Abtei, ohne die Brüder, gefeiert. Hier war im Vergleich zu dort kaum die gleiche Aufgeregtheit und Freude auf das wichtigste Fest nach Ostern zu spüren.
Für die Templer stellten diese Tage ebenfalls zweifelsohne eines der größten feierlichen Ereignisse dar. Trotzdem wirkten sie nur wie eine Unterbrechung zwischen Waffengängen, kommenden Kämpfen mit den Ungläubigen und Politik, die im Zusammenspiel das Überleben der Christen in Outremer sicherten. Dabei blieb wenig Platz für die gleiche Vorfreude wie im Kloster.
Ich wurde nun seit schier unendlichen Monaten in den Waffengängen unterrichtet, und ein Ende war nicht in Sicht.
Jede Fluchtmöglichkeit blieb nach wie vor verwehrt, trotz allen Bestrebens. Mittlerweile wurde aus der Not eine Tugend und die Wut bei den Übungen kanalisiert. Nicht hemmungslos - das hatte ich im Kloster von klein auf gelernt - sondern in Maßen. Dafür aber umso effizienter ...
Weniger Druck bedeutete einen klaren Kopf - so konnte man besser denken. Trotzdem waren insgesamt innere und äußere Beherrschung Maß aller Dinge. Anders als in der ersten Zeit nach dem Attentat wurde alles umgesetzt, was mir der Waffenmeister beigebracht hatte. Längst war ich mehr als gut, ohne mich darüber zu freuen oder übermütig zu werden. Nach wie vor war dies alles von mir nicht gewollt. Allerdings schien es mittlerweile endgültig die einzige Möglichkeit zu sein, irgendwann von hier wegzukommen!
Meinen Gegnern bei den Übungen wurde ausnahmslos schmerzhaft bewusst, dass ich jedem Angriff schnell und erbarmungslos begegnete. Trotzdem feilte der alte Waffenmeister immer noch an sämtlichen Techniken und dem erforderlichen Kraftaufwand. Er gab keine Ruhe, und ein Ende der Prozedur zeichnete sich einfach nicht ab.
Ich übte mich weiterhin in Geduld, wenn auch nur unter großen Anstrengungen.
Sollte sich hier nicht bald etwas ändern, dann musste es einen anderen, besseren Weg geben!
Mit dieser Einstellung sah ich den Feiertagen entgegen, entschlossen, vorerst nicht weiter zu grübeln.
Eine Woche vor Weihnachten besuchten mich Ambrosius und Broderik.
Sie eröffneten mir fast kalt, dass die Ausbildung fast abgeschlossen wäre. Ich sei in den Waffen sicher und insgesamt soweit gereift, dass man allmählich über eine Aufnahme in den Orden nachdächte. Nach Weihnachten stünden entsprechende Beratungen an. Bis dahin wolle man mir ein Fest mit den Brüdern der Abtei als Belohnung schenken, sofern ich denn den letzten Feiertag mit den Templern verbringen würde. Mein Herz hüpfte vor Freude bei dem Gedanken an die Feier mit der Familie - nichts anderes waren die Mönche nach wie vor!
Trotzdem würde auch dieser Versuch des Umgarnens fruchtlos bleiben.
Ich war nicht aus freien Stücken hier!
Diese unselige Waffenausbildung sowie der Verlust des Klosterlebens und der freien Bewegung fußten auf dem Willen eines Mannes, der vor mehr als 20 Jahre mein Leben verplant hatte, um seinen Willen zu verwirklichen - des unbekannten Vaters!
Und die Attentate hatten ihren Ursprung auch nicht in meinem vorherigen Klosterleben!
Weder Gesicht noch Stimme zeigten einen Anflug von Freude gegenüber dem Abt und dem Templer …
Am Tag vor Weihnachten, früh morgens, öffnete sich mir das Tor der Komturei, das in den letzten Monaten den Weg in die Freiheit versperrt hatte.
Die entgegenkommenden Ritter grüßten knapp, aber freundlich. Aus Sicht dieser Männer war ich zu einem der ihren geworden, auch wenn die Aufnahme in den Orden noch fehlte. Sicherlich wussten die meisten, dass sie bald bevorstand, sonst hätte man mich schlichtweg ignoriert. Die Templer waren gelebter Standesdünkel, selbst der Obrigkeit gegenüber.
Wer Königen Geld lieh, brauchte sein Licht nicht unter den Scheffel zu stellen ...
Es war unglaublich.
Bestes Winterwetter begrüßte mich. Ein leichter Wind wehte, Cirruswolken zogen langsam weiter, und der strahlend blaue Himmel vertrieb jeden Anflug von schlechter Laune. Milde Kälte erinnerte an die Jahreszeit, aber sie war nicht unangenehm. Die Sonne hatte nicht sonderlich viel Kraft, aber das war unwichtig.
Ich sog jeden Luftzug bewusst langsam ein. Die Momente wirkten wie Ewigkeiten - zu lange hatte man mich eingesperrt.
Alles schien wie gestern zu sein - fast das gleiche Wetter hatte es ein Jahr zuvor gegeben. Die Erinnerung war ungetrübt - ungefähr zur gleichen Zeit hatte mir der Koch der Abteiküche einen Knochen für den Hund gegeben. Anschließend saßen das Tier und ich bis in den Abend hinein an der Küste gegenüber dem Vogelfelsen. Damals war die Freude auf das anstehende Weihnachtsfest und über den Hund übergroß gewesen, der den Kopf auf mein Knie gelegt hatte. Jahrhunderte schienen seitdem vergangen zu sein. Ich versuchte jeden Moment zurückzuholen, als könne die Vergangenheit über die Gegenwart hinweghelfen.
Es gelang.
Die Leibwache folgte unmittelbar. Zwei Männer in voller Rüstung, dazu einer in der Kleidung eines Knechts und zwei weitere in Mönchskutten waren abgestellt worden. Sie würden jeden meiner Schritte bewachen, auch im Kloster während der Weihnachtsfeier mit den Mönchen.
Broderik war nach wie vor beunruhigt.
Die Nachforschungen wegen der damaligen Attentate waren endgültig erfolglos geblieben - man hatte weder die Auftraggeber noch den entflohenen Mörder aus der Bibliothek gefunden.
Der Tempel wie die Kirche waren an die Grenzen ihrer Möglichkeiten gestoßen. Auch die Märkte der Insel, sonst immer zuverlässige Informationsquellen, gaben nichts her. Der oder die Urheber der Anschläge hatten wahrlich bestens geplant oder waren längst geflüchtet. Also wusste bis jetzt niemand Genaueres, und so blieb die Unsicherheit eines weiteren Anschlages bestehen.
Vor diesem Hintergrund war die Überlegung, mich zum Kämpfer auszubilden, um den Schutz zusätzlich zu erhöhen, aus Broderiks Sicht nachvollziehbar und fruchtbar. Sie würde aber auch wegen der bestehenden Gefahr eine Aufnahme in den Orden noch beschleunigen, um mir dessen vollen Schutz zukommen lassen zu können. So würde der Wille des unbekannten Vaters weiter in Erfüllung gehen, und mich wiederum noch mehr von dem früheren, geliebten Leben abrücken!
Es war unglaublich, mit welcher Präzision die Mechanismen einander ergänzten, ohne dass ich Einfluss nehmen konnte!
Viele Gedanken bedrückten mich auf dem Weg zur Abtei, auch wenn jeder Schritt in Freiheit, insbesondere durch die Gassen Vallettas, ein unendlicher Genuss war. So groß die Freude auf die Mönche und die Zeit mit ihnen auch war - mit dem Ende der Feiertage standen die Beratungen über die Aufnahme in den Ritterorden bevor!
Sie rückten unerbittlich näher.
Das Templerhauptquartier lag am Rande der maltesischen Hauptstadt.
Trotzdem mussten wir zum nächstgelegenen Stadttor mitten durch die Stadt, um aus Valletta herauszukommen.
In diesen Tagen gab es überall Trubel und Menschenmassen innerhalb der Mauern, und so ließ sich nur langsam ein Weg bahnen.
Ich liebte Ruhe und Stille, aber nach der langen Zeit der Abgeschiedenheit sogen alle Sinne das quirlige Stadtleben förmlich auf. Bis zur Ankunft in der Abtei würde es länger dauern als geplant, da wir zu Fuß unterwegs waren und dem Andrang nicht entgehen konnten. Eine Reise zu Pferd wäre schneller vonstattengegangen. Allerdings gab es zu Fuß eine große Anzahl kleinster Wege und Trampelpfade, die wir nehmen konnten, um so weniger Möglichkeiten für einen Hinterhalt bieten.
Unwillkürlich achtete ich auf jede Nebensächlichkeit um uns herum, während unsere Gruppe zielstrebig, aber möglichst unauffällig durch die Straßen lief.
Noch war das Kloster nicht erreicht.