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Kapitel 4

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Ich zuckte zusammen.

Gleichzeitig ging ein Ruck durch das Pferd. Der Hund hatte leise geblufft, wie immer in den letzten Tagen, wenn er etwas bemerkte. Meine Hand fuhr zum Schwert und zog es leicht aus der Scheide.

Wir waren stetig weiter Richtung Küste vorgedrungen, und die Einsamkeit nahm allmählig ab. Immer wieder kamen uns Fuhrknechte und wandernde Handwerker entgegen, doch der Hund hatte sich dabei ruhig verhalten.

Irgendetwas stimmte nicht.

Eine Biegung später hörte auch ich die Stimmen. Leise, dann schnell überdeutlich. Wüstes Gegröhle aus mindestens zwei Kehlen, dazwischen ein leiseres Schluchzen.

Ich band das Handpferd an und ritt soweit vor, bis die Sicht frei war.

Zwei Männer waren dabei, einen Jüngling auf seinem Pferd aufzuhängen. Der Strick war bereits gespannt, und einer der beiden wartete darauf, mit der Peitsche das Tier ihres Opfers anzutreiben. Sie hatten Spaß bei ihrem Tun und ließen sich Zeit, ohne auf das bitterliche Flehen zu achten.

Ich drängte vorwärts. Als die Henker den Hufschlag hörten, stellten sie sich mir mit gezogenen Schwertern entgegen. Einer der beiden griff zu seiner Lanze, die neben ihm an einem Baum lehnte, und warf sie, sobald ich in Reichweite kam. Mein Oberkörper tauchte ruckartig ab, die Flanke des Braunen hinunter, und die Waffe sauste über mir ins Leere. Im Hochkommen riss meine rechte Hand das Schwert aus der Scheide. Einige Momente später ritt ich den Mann frontal um. Er brach zusammen und blieb regungslos liegen. Einen Galoppsprung weiter hatte ich den Strick erreicht, der an einem Ast festgebunden war und von da zum Hals des Jungen führte. Ein kräftiger Hieb mit dem Schwert, und der Gefangene war frei. Geistesgegenwärtig ließ er sich vom Pferd fallen und rannte weg.

Noch war die Gefahr nicht beseitigt.

Ich stoppte, drehte auf der Hinterhand herum und ritt wieder an. Zu spät - der zweite Henker zielte bereits mit einer Armbrust und drückte ab. Er hatte die verstrichenen Momente gut genutzt. Hielt er bei meinem Erscheinen noch die Peitsche gegen das Tier ihres Opfers in der Hand, war er bei dem unerwarteten Angriff auf seinen Kameraden sofort zum nahen Lager der beiden gestürzt, um die Waffe hochzureißen. Der Bolzen sirrte regelrecht heran. Kurz vor dem Einschlag stieß ich mich seitlich aus dem Sattel. Wie bei dem letzten Kampf folgte ein harter Aufprall, diesmal auf den verletzten Arm. Das Stöhnen ließ sich nicht verhindern - zu groß war der Schmerz, als die Wunde aufplatzte. Ich stolperte auf die Beine, während der andere die Sehne seiner Waffe spannte und ein neues Geschoß einlegte. Die Entfernung war ideal für eine Fernwaffe, aber zu groß, um hinüberzurennen. Wie auch immer - es musste zu einem Nahkampf kommen, bevor er wieder schoss. Ansonsten war dies das Ende!

Im Hochtorkeln sah ich aus den Augenwinkeln, wie der umgerittene Mörder bäuchlings wegkroch. Er wollte zu einem Bogen, der am Lager der beiden neben dem Feuer lag.

Das Blatt hatte sich binnen Momenten gegen mich gewendet!

Ich hasste es, wider besseres Wissen einen Kampf eingehen zu müssen, ohne ausreichend bewaffnet oder vorbereitet zu sein. Die Situation wurde nicht besser dadurch, dass das Schicksal scheinbar wieder einmal keine Wahl gelassen hatte ...

Oder hätte ich dem Hängen tatenlos zusehen sollen?

Es spielte nun keine Rolle mehr. Die Gedanken jagten sich in meinem Kopf. Seit dem Aufrappeln war noch kein weiterer Atemzug vergangen. Ich wankte in Richtung des zweiten Mannes, der die größere Gefahr darstellte.

Der Hund war bei dem Schimmel zurückgeblieben und beobachtete alles mit wachen Augen.

Als er die Bewegungen des Mannes auf dem Boden sah, kam Bewegung in den massigen Körper. Als hätte ich ihn gerufen, drückte er sich mir plötzlich mit großen Sätzen entgegen. Ein gewaltiger Sprung, und der Mörder wurde umgerissen. Der gefleckte Angreifer verbiss sich regelrecht in seinem Genick. Mein Gegner schlug wild um sich, aber das Tier ließ nicht ab. Es blieb keine Zeit mehr zuzusehen, denn auch der zweite Strauchdieb war schussbereit. Ich riss das Messer aus dem Stiefel und warf in vollem Lauf. Es traf seine Brust, und er sackte mit einem gurgelnden Geräusch zusammen. Sofort drehte ich mich wieder dem anderen Gegner zu, um gleich darauf innezuhalten.

Alles war vorbei.

Ich stürzte zu dem Getroffenen. Vielleicht konnte er noch Informationen von sich geben!

Zu spät.

Ganze Arbeit - wie die Ausbildung bei den Templern, die keine Verletzten bei der Verteidigung des eigenen Lebens vorsah. Wieder einmal hatte sie sich als äußerst hilfreich erwiesen. Diese Zeit zog sich seitdem wie ein roter Faden durch mein Leben ...

Ich schnitt dem Jungen die Handfesseln los, und er fiel mir um den Hals. Zu groß war die Todesangst gewesen, als dass er in diesem Moment auf Standesunterschiede geachtet hätte.

Sein Name war Malos. Die Männer hatten ihn beim Marsch zum nahen Kloster im Hohlweg überrascht und behauptet, er habe ein Reh gewildert. Ohne jegliche Handhabe wollten sie ihn dafür bestrafen. Das Hängen war reiner Zeitvertreib für die beiden. Schurken wie diese arbeiteten oft als gedungene Mörder und töteten auch aus Vergnügen.

Gemeine Wegelagerer! Ein Menschenleben zählte nichts für sie.

Der Junge hatte Glück gehabt, dass der Hund rechtzeitig auf ihn aufmerksam geworden war.

Das Tier war in kürzester Zeit zum treuen Gefährten geworden. Dass es mich jedoch in der Not aus freien Stücken heraus auch verteidigt hatte, freute mich unglaublich. Ein eindeutiger Hinweis darauf, dass er mich als Freund ausgesucht hatte, nicht nur umgekehrt.

Nun hatte ich unwiderruflich einen treuen Gefährten!

Der Junge drängte darauf, mit ihm das naheliegende Kloster Sichlagues aufzusuchen und mich zum Dank dort beliebig lange aufzuhalten. Die Mönche würden sich erkenntlich zeigen. Ich konnte und wollte die Einladung nicht annehmen. Wenn der Feind schon so nahe war, würden noch mehr Überraschungen warten und ein Weiterkommen immer schwerer machen.

Keine weitere Verzögerung, keine Umwege mehr!

Andererseits - ich war ausgezehrt, hatte kein Essen mehr und nächtelang mit der Gefahr im Nacken nicht mehr richtig geschlafen. Etwas Ruhe würde guttun und neue Kraft bringen. Durch die Fürsprache des Jungen war vielleicht ein kurzes Durchatmen im Kloster möglich, ohne sofort verraten zu werden. Auch die Pferde würden es danken.

Der Jüngling ließ nicht ab. Schließlich zogen wir über einen Seitenweg Richtung Sichlagues, weg von der blutigen Stätte.

Wieder ein Kloster - sie waren wie Eckpunkte meines Lebens ...

Ich wollte nicht ohne sie und konnte nicht mehr mit ihnen. Das Schicksal führte mich scheinbar bewusst weg, aber trotzdem immer wieder zu ihnen zurück.

Als wir die Pforte erreichten, wirkte es wie eine Rückkehr nach Hause.

Viele Erinnerungen lebten wieder auf.

Die Mönche gaben dem unerwarteten Ankömmling eine Zelle mit Bett und Fenster.

Sie zeigten außerordentliche Gastfreundschaft, die so sicherlich nicht jedem Besucher zuteil wurde. Außerdem musste ich nicht am gemeinsamen Essen und den Messen teilnehmen, hatte völlige Bewegungsfreiheit im Kloster und wurde von niemandem behelligt. Der Jüngling schien viel Einfluss zu besitzen, oder aber seine Erzählungen wirkten für sich.

Die freundliche Aufmerksamkeit der Brüder schlug um in offenen Respekt, als ich nach zwei Tagen ununterbrochenen Schlafes morgens pünktlich zum Gebet erschien.

Die Ruhe und Sicherheit hatten innerlich wie äußerlich gut getan. Ich sah wieder wie ein Mensch aus und fühlte mich auch so. Nicht mehr so hohlwangig, verkniffen und vor allem - weniger hasszerfressen.

Eigentlich hätte ich nicht teilnehmen dürfen - zu viel Schuld lag auf mir seit der Ausbildung zum Kämpfer, aber es war ein inneres Bedürfnis.

Der Drang, Ruhe zu finden wie früher, als meine Welt noch heil war ...

Niemand fragte anschließend, aber alle hier schienen zu verstehen.

Kurz darauf kehrte die alte Unruhe zurück. Der Aufenthalt hier hatte bereits zu viel Zeit gekostet. Zwei Tage waren vergangen, die die Feinde sicherlich genutzt hatten. Vielleicht ließ sich mein Ziel schon nicht mehr rechtzeitig erreichen!

Ein längerer Aufenthalt im Kloster gefährdete die Mönche außerdem nur unnötig. Eilig packte ich alle Sachen zusammen, sattelte die Pferde und zog nach einer herzlichen Verabschiedung zum Tor. Dort warteten der Prior und der Jüngling. Sie übergaben mir als Dank für die Rettung eine Auflistung mit vertrauenswürdigen Kapitänen, die in diesen Tagen nach Malta übersetzen wollten und über das Kommen eines Vertrauten informiert waren. Ich müsse nur noch ein passendes Schiff aussuchen.

Malta? Woher wussten sie...?

Ich hatte weder etwas von irgendwelchen Plänen noch dem nächsten Ziel erwähnt, aber hier schien jeder alles zu mitzubekommen.

Unendlich wertvoll war das Pergament mit den Namen nicht kompromittierter Ordensleute auf der Insel, an die ich mich halten konnte, sollte sich das Schicksal gegen mich wenden. Als er ehrliche Freude bemerkte, strahlte der Prior über das ganze Gesicht. Der Dank fiel überschwänglich aus - meine Aussichten hatten sich so erheblich verbessert.

In dem Bewusstsein, Freunde zurückzulassen, versprach ich eine Wiederkehr und passierte die Mauern nun endgültig.

Der Weg in die Hafenstadt Sapralles dauerte nicht so lang wie erwartet. Ich ritt trotzdem erst nach Einbruch der Dunkelheit zum Kai. Ein Schiff war dank der Liste schnell gefunden. Die Überfahrt kostete nicht allzu viel. Der Kapitän überließ mir seine Kajüte, die vor jedweder Nachforschung und neugierigen Blicken schützte.

Die Mönche schienen bereits im Vorfeld alle Türen geöffnet zu haben!

Bis zur Abfahrt blieb noch Zeit, also ging ich mit dem Hund zurück in den Hafen.

Die Pferde standen gut versorgt an Bord - es gab also keinen Grund zur Sorge. Ihnen tat Ruhe gut, bevor die Überfahrt begann; es würde noch anstrengend genug werden. Ich mochte nicht daran denken …

Aber es gab keine Alternative. Ich wandte mich einer der nahegelegenen Spelunken zu, in der Matrosen, aber auch Sklavenhändler, Söldner und gedungene Mörder verkehrten. Um etwas zu essen, fand sich keine bessere Möglichkeit im Umkreis. Außerdem wollte ich mich nicht zu sehr von den Tieren entfernen.

Die Spelunke war noch schäbiger, als es von außen wirkte. Sie war zum Bersten voll von Menschen, deren Gegröhle bis nach draußen schallte. Innen musste man über Unrat steigen, weil wohl jeder seinen Dreck einfach auf den Boden warf. Überall floss der Fusel reichlich.

Mein Eintritt wurde aufmerksam beobachtet. Dabei schienen etliche Besucher weniger betrunken zu sein, als es den Anschein hatte. Sie verfolgten jeden meiner Schritte aufmerksam, und dies war keine Einbildung.

Ich nahm einen großen Tisch an der Wand, damit der Hund sich hinlegen konnte, ohne getreten zu werden. Das bestellte Essen kam schnell; es war üppig und halbwegs genießbar.

Nach dem Abräumen trat unvermittelt ein Mann heran.

Der Fremde hatte allein in einer Ecke gesessen und machte einen eigenartigen Eindruck. Von der Statur her klein, ging er extrem aufrecht, wie nur Menschen auftreten, die voller Selbstbewusstsein sind. Der Unbekannte gehörte sicherlich zu dem Schlag Menschen, die keinen Widerspruch duldeten, weil sie wussten, wer sie waren. Knapp an die 60 Jahre alt, schien ihn kein Moment des eigenen Lebens gebeugt zu haben. Der Vergleich mit anderen Männern dieses Alters fiel äußerst positiv zu seinen Gunsten aus. Die Kleidung dagegen war eher armselig und zerrissen; sie passte überhaupt nicht zu ihrem Träger. Höflich, aber bestimmt bat er darum, Platz nehmen zu dürfen. Verärgert sah ich hoch.

Es gab sicherlich noch andere Möglichkeiten, als bei mir seinen Wein trinken zu können!

Unwirsch stimmte ich aus einer Laune heraus trotzdem zu. Während der ungebetene Gast sich setzte, beobachtete ich die Umgebung. Vielleicht stand ein neues Attentat bevor ...

Bis jetzt war jedoch nichts Auffälliges zu entdecken.

Am Tisch ignorierte ich den Unbekannten bewusst, bis er von sich aus das Gespräch suchte. Einer Vorstellung folgten nichtssagende Sätze und dann sofort die Offensive. Freundlich, aber bestimmt wollte der Fremde Alter, Herkunft und Ziel wissen. Woher der schöne Hund stamme, welchen Grund meine offensichtliche Müdigkeit hätte - die Fragen nahmen kein Ende. Ungehalten blockte ich ab und wollte ihn gerade des Platzes verweisen, als er unvermittelt leise, vornübergebeugt, für ein Schaudern sorgte.

„Ihr seht aus wie Eure Mutter!“

Die Überraschung ließ mich schweigen. Ich musste mich verhört haben!

„Wisst Ihr nicht, was ich meine?“

Ein fassungsloses Gesicht bewirkte völlige Verständnislosigkeit bei meinem Gegenüber.

„Eure Mutter - Ihr seht genauso aus wie sie.“

„Der Wein lässt Euch faseln!“

„Nein! Seid Ihr nicht der Sohn von Fatima, der Tochter von Nurim Abdul Fahd?“

Ich verneinte wiederum und erntete ein heftiges Kopfschütteln meines Gegenübers. Wir sahen uns ernst an und schwiegen. Jeder glaubte dem anderen kein Wort. Trotz aller Beherrschung siegte die Neugier. Welche Mutter hatte er erwähnt?

Jetzt wollte ich unbedingt noch mehr hören. Mein Gegenüber wirkte äußerst gesprächswillig. Vielleicht ließen sich noch weitere Informationen bekommen ...

Die Gesprächspause dauerte nur kurz.

Unvermittelt bat der Mann, einen Blick auf meinen linken Oberarm werfen zu dürfen. Es war ohnehin schon alles skurril verlaufen seit dem Betreten dieser Spelunke. Warum also nicht?

Unauffällig schob ich den Ärmel hoch. Gierig sogen sich die Augen des Älteren regelrecht fest. Ein intensiver Blick auf den Arm ließ ihn buchstäblich bleich werden. Nach Atem ringend, bat er darum, die Konturen des Muttermals mit den Fingern abfahren zu dürfen, um sich Sicherheit zu verschaffen. Dieses Verhalten war nicht nachvollziehbar. Eine plumpe Ablenkung etwa?

Unauffällig glitt meine Hand zum Stiefel und hangelte nach dem Messerschaft. So leicht würde ihm ein Anschlag nicht gemacht werden!

Währenddessen wurden wir weiterhin unentwegt von einigen Gestalten um uns herum beobachtet. Sollten diese Gesellen seine Komplizen sein, würde es bis zum Scharmützel wohl nicht mehr lange dauern, wenn er jetzt dermaßen in die Offensive ging!

Ich war einverstanden. Nachdem der Mann sich von der Echtheit des Mals überzeugt hatte, wurde er schlagartig sowohl blass als auch stumm und stierte in die Gegend. Eine innere Erschütterung schien ihm fast den Verstand zu rauben, so tumb wurde sein Blick. Dieser Zustand änderte sich nicht. Nun war es an mir, für den Fortgang des Gesprächs zu sorgen.

„Seid Ihr nicht eine Erklärung schuldig, nachdem Euer Wunsch erfüllt wurde. Bisher tretet Ihr mehr als unhöflich auf!“

Meine Worte klangen äußerst unwirsch, aber ich war verärgert. Der Fremde setzte sich hierher, bedrängte mich, und anstelle des erwarteten Angriffes folgte solch ein Verhalten!

Die Reaktion fiel überraschend aus. Der Unbekannte schüttelte den Kopf, als wolle er einen schlechten Traum loswerden und entschuldigte sich mehrfach beinahe herzlich.

„Dies ist die Bestätigung - Ihr seid der Enkel von Nurim Abdul Fahd!“

Misstrauische Blicke umher suchten den Raum nach ungebetenen Zuhörern ab, bevor seine Erzählung begann. Mir schoss das Blut in den Kopf. Es rauschte förmlich zwischen den Ohren. Obwohl auf einem Stuhl sitzend, schien der Boden sich zu drehen. Langsam fasste ich nach dem treuen Hund, wie zum Beweis, dass alles Wirklichkeit war und kein Traum.

Der Name des Mannes war Kilian.

Als wandernder Arzt und Heiler im Heiligen Land unterwegs, besuchte er von Zeit zu Zeit Freunde auf Malta und Zypern, um sich dort auszuruhen. Seine genaue Unterkunft blieb unerwähnt.

In diesen Tagen war mein Gegenüber wieder einmal auf dem Weg dorthin und wartete wie ich auf das Schiff für die Überfahrt. Viel schien ihm seine Arbeit nicht einzubringen, aber zum Überleben reichte es wohl, wie er durchblicken ließ. Ich war verwundert, ließ ihn aber erzählen. Was hatte das alles mit mir zu tun? Bald ging das Schiff, und trotzdem sprach er langatmig nur von sich!

Dann folgte plötzlich ein Wechsel in die Vergangenheit. Dabei straffte sich seine Gestalt, als würde die alte Zeit wieder lebendig.

Vor seiner Zeit als Heiler hatte er als Leibarzt für einen Ritter gearbeitet, der im Auftrag der Templer unterwegs war. Der Mann heiratete eine Einheimische aus einer der besten Familien. Sie bekamen ein Kind und ließen sich im Heiligen Land nieder. Ohne Warnung wurde die Familie abgeschlachtet. Das Kind konnten Getreue retten, aber später verschwand es spurlos. Die Mörder suchten noch jahrelang nach ihm, um ihren Triumpf zu komplettieren, aber sie blieben erfolglos.

Kilian stockte, vielleicht auch, weil er sah, welche Wirkung seine Worte hatten. Mir dröhnte der Schädel, denn ich wusste, wie diese Schilderung weitergehen würde. Ich konnte es nicht glauben, wollte die Entwicklung kaum wahrhaben. Noch einige Sätze mehr - vielleicht hatte ich endlich einen weiteren Zugang zu meiner Vergangenheit und der eigenen, unbekannten Familie gefunden!

Angst kam hoch, mich verstiegen zu haben und falsch zu liegen, wieder ins Leere zu laufen.

Mein Gegenüber sprach weiter, und jeder einzelne Gedanke bekam Bestätigung.

Der Arzt war bei der Rettung des Kindes dabei gewesen, wie er es auch mit auf die Welt geholt und seinen ersten Schritten zugesehen hatte. Der Junge wurde nach dem Massaker immer wieder neu versteckt. So gut wie niemand wusste von der nächsten Zuflucht. Dann verlor sich bei einem plötzlichen Zugriff der Feinde die Spur des Kindes. Der frühere Knappe des Ritters versteckte ihn in höchster Not woanders als geplant. Kurz darauf wurde er aufgespürt und erschlagen, ohne den Feinden etwas verraten zu haben. Aber auch die anderen Helfer des Jungen hatten ihn nun verloren. Sie suchten vergebens.

Er blieb bis heute wie vom Erdboden verschluckt.

Das Kind hatte damals am linken Arm einen Blutschwamm von der Größe eines Eichenblattes, das an drei Seiten geschlossen, an der vierten weit offen und geschwungen war. Sollte die Waise überlebt haben, könnte man sie vielleicht ein Leben lang daran erkennen.

Ansonsten hatte es nie wieder ein Lebenszeichen gegeben.

Ich musste meinen linken Arm nicht ansehen - Kilian sprach von meinem Mal!

Das Reden war unmöglich, das Denken fiel schwer - ich stierte ihn nur noch an.

Zu groß war die Tragweite dessen, was der Arzt mir gerade offenbart hatte!

Er fasste meinen Arm und drückte ihn fest.

„Ihr seid der Sohn meines Freundes. Ihr seid der verschollene Junge!“

Wir hatten schlagartig beide Tränen in den Augen. In seinem Gesicht spiegelten sich Rührung und grenzenlose Freude. Ich war völlig überrumpelt von der Schilderung und konnte nicht sprechen. Dieser Mann hatte meine Mutter gekannt und war ein Freund meines Vaters gewesen!

Ich schluckte und wollte reden, aber es kam kein Wort heraus. Wir fielen uns in die Arme und drückten einander vor Freude. Kurz darauf stand eine Magd am Tisch und fragte eindringlich nach Wünschen.

Langsam kam die Wirklichkeit zurück.

Dann brach die innere Anspannung auf. Einer überschüttete den anderen mit Fragen. Es schien unmöglich, Jahrzehnte aufholen zu können, aber wir versuchten es. Kilian erkundigte sich genau nach dem Verlauf meines Lebens. Ich verschwieg nichts, außer dem Ort und Namen meines Klosters. Sollten seine Erzählungen auch komplett der Wahrheit entsprechen, durften die Freunde dort trotzdem durch Redseligkeit keiner Gefahr ausgesetzt werden. Feinde waren ohnehin genug unterwegs.

Kein Misstrauen, nur Vorsicht ...

Es wurde Zeit - das Schiff wartete.

Wir verließen die ungastliche Stätte und gingen an Bord. Die Pferde waren wohlauf und begrüßten mich mit lautem Wiehern, wie einen vermissten Freund. Trotz der überbordenden Gefühle achtete ich unentwegt auf unsere Umgebung, doch bis jetzt drohte keine Gefahr.

Nach dem Bezug der Kapitänskajüte redeten wir pausenlos, als solle auch nicht ein einziger Moment verlorengehen.

Kilian hatte das Leben nach dem Tod meiner Eltern übel mitgespielt. Für die geleistete Treue mussten er und andere Weggefährten teuer bezahlen. Im Kerker folterte man sie fast zu Tode. Der Templerorden intervenierte und konnte so das Schlimmste verhindern. Trotzdem waren sie geächtet. Es blieb nur noch die Zuflucht in Templerstätten und befreundeten Klöstern. Irgendwann tauschte er die Arbeit bei den Mönchsrittern gegen das Wanderleben ein und versuchte, mich auf seinen Wegen aufzuspüren - erfolglos.

Die Jahre vergingen.

Mittlerweile lebten nicht mehr viele der Weggefährten meines Vaters. Sie gaben die Hoffnung nicht auf, aber auch ihren Nachforschungen war einfach kein Erfolg beschieden.

Unsere Zeit an Bord des Schiffes schien regelrecht zu verrinnen.

Irgendwann bat Kilian um ein wenig Schlaf. Ich verließ die Kajüte und ging an Deck, den Hund immer neben mir.

Welch eine Entwicklung!

Der Mann, der mich auf die Welt geholt hatte, schlief unten, und ich wachte über ihn. All die langen Jahre der Einsamkeit, ohne eigene Familie, ohne Zuhause und richtige Erinnerung - und plötzlich dies!

Jetzt noch die Fahrt zur Insel, zurück in meine Vergangenheit! Dazu ein Hund, der mich weiterhin als Freund ausgesucht hatte!

Zu groß wurden die Gefühle. Meine Fassung drohte verlorenzugehen.

Ich stand an Deck und sah verloren in die Ferne. Die See wurde stürmischer. Gischt peitschte, und die Wellen kräuselten sich nun deutlich mehr. Alles war bis zum Horizont aufgewühlt.

Noch etwas kam hinzu. Ich versteinerte fast vor Rührung. Oder war es Wehmut?

Der Vogelfelsen mit seinen Tausenden von Vögeln - ich konnte ihn sehen!

Er war noch weit entfernt. Aber die Schreie der vielen Tiere, der Geruch des Salzwassers, das Licht der aufgehenden Sonne, die hochsteigende Wärme - all das war Erinnerung und Wirklichkeit zugleich!

Es kam mir vor, als wäre ich nie von zuhause fortgewesen. Vogelschwärme zogen über uns hinweg, als begrüßten sie mich aufs Neue.

Jeder Moment wirkte wie eine Ewigkeit. Die Zeit verging einfach nicht.

Ich schien mitten in meiner Vergangenheit zu stehen.

Der Dolch des Propheten

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