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Kapitel 1

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Es ist Sommer, Gott sei Dank Sommer. Ich bin froh wieder hier zu sein, auch wenn nichts mehr so ist, wie es früher einmal war. Auf unserer Terrasse atme ich die frische, klare Luft, genieße den Blick in den, mit ein wenig weißem Dunst unterlegten, blauen Himmel. Warmer Wind trägt mir Vogelstimmen zu und es klingt, als wollten sie mir Vertrautes zurückgeben.

Geboren bin ich in Franklinton. Das liegt gut 80 Meilen nördlich von New Orleans, direkt an der Grenze von Louisiana zu Mississippi. Dort ist es meistens warm und feucht. Außerhalb unserer, durch Klimaanlagen gekühlten Häuser nimmt uns die hohe Luftfeuchtigkeit in einen ständigen Schwitzkasten. Hitze und Staub sind stete Begleiter und der Geruch ist von Schweiß geprägt. Wir lieben dieses Gefühl von Weite und Klebrigkeit, von Freiheit und Musik, genauer gesagt, von Blues. Der Blues macht unser Lebensgefühl hörbar, er berauscht und übergibt uns einer angenehmen Melancholie, oftmals untermalt von Whisky. Man trinkt ihn, weil er zu uns gehört und um zu genießen, nicht um zu betäuben.

Fast eine Ewigkeit sehnte ich mich wieder zurück in dieses vertraute zu Hause. Viel zu lange musste ich ihm fernbleiben, aushalten in einer schäbigen Zweizimmerwohnung in einer mir fremden Welt, am äußersten Stadtrand von Moskau.

Ganze fünf Monate, seit Mitte November, war ich von meinem zu Hause weg gewesen, war meiner Heimat so unendlich fern. Damals glaubte ich, mir macht all das nichts aus; die fremden Menschen, die zermürbende Kälte, diese mir unverständliche Sprache. Ich hatte beschlossen, den tiefsten Süden Amerikas zu verlassen, um ihr nahe zu sein. Ihr, Dr. Tatjana Smirnow, 31 Jahre alt, schlank, athletisch gebaut und von auffallender Schönheit. Ihre schwarzen kurz geschnitten Haare wirkten auf ihre dunklen Augen wie abgestimmt und ließen sie beinahe ein wenig frech erscheinen. Frech, herausfordernd und zugleich Distanz anmahnend.

Als ich sie das erste Mal in dieser Bar in New Orleans sah, trug sie einen kurzen schwarzen Rock zu einer weißen Bluse, die genau so weit aufgeknöpft war, dass man nicht sehen konnte, was man so gerne sehen wollte. Gierende Männerblicke registrierte sie, erwiderte sie aber nicht.

Gewohnt hatte sie damals in einem heruntergekommenen Vorstadthotel. Im Vergleich zu ihrer Kleidung und ihrer Erscheinung wirkte die Unterkunft beinahe unpassend. Vielleicht aber schien ihr diese Adresse ganz einfach unauffälliger. Es wusste auch niemand, warum sie überhaupt in der Stadt war. Abends hingegen ließ sie sich täglich mit einem Taxi zum Hotel Hilton fahren. Das Hilton gehört zu den teuersten Häusern der Stadt. Die Selbstsicherheit, als Frau ohne Begleitung eine Hotelbar zu betreten, schien ihr angeboren. Jeden Abend hatte sie den gleichen Platz an der Längsseite der Bar eingenommen, jeden Abend nur durch wortloses Nicken Gleiches bestellt, – eine für diese Gegend untypische, aber erfrischende Weinschorle. Weinschorle sei die edelste Form des Wassertrinkens, erläuterte sie einem überraschten Barkeeper an ihrem ersten Abend.

Damals, ich kam von einem Besuch bei einem guten Freund zurück, zwang mich starker Regen, der ganze Straßen wegzuspülen drohte, meine Heimfahrt zu unterbrechen und für eine Nacht im Hotel Hilton Unterkunft und Zuflucht zu suchen. Nachdem ich meine Frau Lisa über meinen ungeplanten Zwischenstopp telefonisch informiert hatte, wollte ich den Abend bei einem Southern Comfort in der Hotelbar gemütlich ausklingen lassen. Dicker Zigarrenqualm und die rauchige Lifestimme einer farbigen Soulsängerin füllten den Raum. Nur gut ein dutzend Gäste waren anwesend, einige, um wie ich das Wetter abzuwarten, andere, um zu trinken, manche, um ihrem Alleinsein für ein paar Stunden Gesellschaft zu spenden. Erst als sich meine Augen langsam an das schummrige Licht gewöhnten, bemerkte ich mein auffallendes Gegenüber. Ganz gewiss gehörte ich nicht zu der Sorte Mann, die jeder Frau hinterher schauten, an ihr aber, blieben meine Blicke hängen. Fasziniert tasteten meine Augen ihre nur halbversteckten, kleinen aber wohlgeformten Rundungen ab. Ganz ungestört fühlte ich mich dabei, aber ein Blick von ihr fing meinen ein und hielt ihn fest. Ich spürte Verlegenheit in mir, aber ich schämte mich nicht, hob mein Glas und nickte ihr zu. Auch heute weiß ich noch nicht, was mich damals ermutigte, die Thekenseite zu wechseln und sie anzusprechen. Auf meine Frage, ob ich mich zu ihr setzen dürfte, wandte sie nicht einmal den Kopf in meine Richtung, aber sie bejahte. Ohne darüber nachzudenken, wie klug und sinnvoll es wohl sei als verheirateter Mann und Vater zweier Kinder einer fremden und gut aussehenden Frau gegenüber den eigenen Namen zu erwähnen, stellte ich mich ihr als Benjamin Jordan vor. Dem nicht genug erzählte ich ihr sogar, wo ich her kam und was ich machte.

Ich arbeitete als Ingenieur in einer Firma die Traktoren herstellt. Dort leitete ich die Fertigungsstraße, das ist jenes Band, an dem die einzelnen Teile zu einem fertigen und fahrbereiten Traktor zusammengeschraubt werden. Die Firma war finanziell sehr gesund, weil in dieser Gegend beinahe jeder ein riesiges Stück Land besaß, welches zu bearbeiten war. Dementsprechend verfügte auch ich über ein ordentliches Gehalt, mit dem meine Familie und ich sehr gut über die Runden kamen. Wir bewohnten sogar ein eigenes Haus mit kleinem Pool. Kurz, wir fühlten uns der gehobenen Mittelschicht zugehörig.

In unserem Ort hatten wir es zu einem gewissen Ansehen gebracht. Einmal im Monat fand ein kleines Fest mit fünf oder sechs der einflussreichsten Familien statt. Zugehörig waren die Familien des Bürgermeisters und des Sheriffs, dazu kamen noch zwei Bankiersfamilien und ein kleinerer Clan, welcher schon immer reich gewesen war.

Wir durften uns dem Kreis zugehörig fühlen, weil der Bürgermeister gleichzeitig der Inhaber der Traktorenfabrik war, in der ich arbeitete. Ich war immer sehr stolz darauf, der Einzige aus unserer Firma zu sein, der in diesem Kreis aufgenommen war. Waren wir als Ausrichter einer der Grillabende an der Reihe, erwies sich meine Frau Lisa als die perfekte Gastgeberin. Sie sorgte nicht nur für eine ausgesprochen fantasievolle Dekoration, sie war auch selber immer elegant anzusehen. Auch unsere beiden Kinder, Marie, 8 Jahre und Roger, 11 Jahre alt, schienen sich an diesen Tagen mächtig ins Zeug zu legen. Dies ist erwähnenswert, weil es sonst das ganze Jahr über nicht unbedingt so war.

Tatjana sprach mich den ganzen Abend nie mit meinem Namen an. Nachdem ich ihr nicht mehr gegenüber saß, sondern neben ihr, trafen sich unsere Blicke auch nicht mehr. Aber sie sprach mit mir, wenn auch nur Belangloses. Zugeben muss ich, es interessierte mich auch nicht großartig, über was wir sprachen. Ich fühlte mich zu ihr hingezogen, in einer Art, wie ich es von mir bisher nicht kannte. Manchmal berührten sich auf der Theke unsere Unterarme. Sie zog ihren dann weg und griff nach ihrem Glas. Ich aber bemerkte ihre feinen schwarzen Härchen, die auf jede noch so zufällige Berührung reagierten. Ich sog alles in mir auf, jede Bewegung von ihr. Nach hinten gelehnt und im Schutz des fahlen Lichtes konnte ich ihren schmalen Rücken mustern, an dem sich die Wirbelsäule ganz leicht durch ihre weiße Bluse drückte. Ihr kurzer, seitlich geschlitzter Rock, schob sich im Sitzen so weit zurück, um ihren Slip beinahe erahnen zu können. Ihre Beine waren schlank und trotzdem muskulös, wie bei einer Läuferin. Tatjana war für mich schon an diesem ersten Abend das Abbild reiner Schönheit, dem ich schon nach kürzester Zeit zu verfallen drohte. Nur die sie umgebende Unnahbarkeit und wahrscheinlich auch meine angeborene Schüchternheit, ließen keine weitere Annäherung zu.

„Es ist jetzt 22:00 Uhr, ich muss gehen“, sagte sie ganz unvermittelt und war dabei schon im Aufstehen. Ich brachte gerade noch ein: „Wo gehen Sie hin?“ hervor, aber schon im Gehen hatte sie nur noch ein: „Ich gehe jetzt dahin, wo ich hergekommen bin“, übrig. Sie drehte sich nicht einmal mehr um.

Ich bestellte mir noch einen Southern Comfort und begann damit mir leidzutun. Auch die farbige Soulsängerin wechselte ins Traurige und unterstütze damit wohl ungewollt mein Gefühl des Verlassenseins. Der Barkeeper brachte mir meinen Drink und schaute mich dabei ziemlich mitleidig an. Sie säße hier jeden Abend, sagte er mir, ohne dass ich danach gefragt hatte. Man sah mir wohl an, dass ich ihr geistig gefolgt war. Ich war dankbar für seinen Tipp und überlegte mir, mit welcher Rechtfertigung meiner Frau gegenüber, ich am nächsten Abend wieder in der Bar sein konnte.

Ich gebe zu, nach einer Lösung gesucht zu haben, die ich für längere Zeit nutzen konnte. Die ganze folgende Nacht hatte ich kein Auge zugemacht und nur darüber nachgedacht, wie ich Tatjana wieder sehen konnte, ohne dabei Lisa zu verletzen. Den Gedanken, dass dies nicht möglich sei, verdrängte ich. Die unmöglichsten und absurdesten Lösungen gingen mir durch den Kopf. Selbst ein Recht, nach dreizehn tadellosen Ehejahren, einmalig egoistisch denken zu dürfen, erschien mir als angebracht. Natürlich war das Blödsinn, beinahe schon irre, zumal ich mir eigentlich nie aus anderen Frauen etwas machte. Lisa war mir immer genug und ich liebte sie vom ersten Tag an. Tatjana aber wollte ich wieder sehen.

Am nächsten Morgen, gleich nach dem Frühstück, hatte ich mich auf den Heimweg gemacht und war so gegen 10:00 Uhr wieder zu Hause. Schon als sie meinen Wagen vorfahren hörte, kam mir Lisa sofort entgegen, um mich mit einem dicken Kuss zu begrüßen. Sie hatte sich Sorgen gemacht und man spürte förmlich ihre Erleichterung, als sie mich in den Arm nahm und an sich drückte. Wir gingen ins Haus und ich freute mich über den frischen Kaffee den sie für mich aufgesetzt hatte. Sogar die Zeitung lag noch ungelesen auf meinem Platz. Ich könne mir ruhig Zeit lassen, meinte sie. Mein Chef hatte sie schon angerufen und ihn über meinen wetterbedingten Zwischenstopp informiert. Er lies mir ausrichten, dass ich mir keine Sorgen machen muss und den Tag, durch Abbau ein paar Überstunden, einfach frei machen kann. Wie so oft, hatte Lisa für mich wieder einmal alles geregelt. Durch ihre Herzlichkeit, die sie über all die Jahre gepflegt hatte, dazu ihre Fürsorglichkeit, kam ein schlechtes Gewissen in mir hoch.

Ich nippte an meinem Kaffee und blätterte die Zeitung durch. Auf der letzten Seite fiel mir auf, dass ich nicht einen einzigen Artikel bewusst wahrgenommen hatte. Ich fühlte mich schlecht. Da knapp zwei Stunden später die Kinder aus der Schule kommen würden, erzählte ich Lisa, die sich mittlerweile zu mir gesetzt hatte, von den Neuigkeiten des Vorabends.

Am Abend sei ich noch an der Hotelbar gewesen und hätte einen Herrn aus Oklahoma kennengelernt. Nach ein paar Drinks wären wir ins Gespräch gekommen. Er war gerade dabei, sich beruflich zu verändern. Nach etlichen gut verlaufenden Jahren in einer Exportfirma, hätte er sich zwei Monate zuvor wegen einer Lappalie mit seinem Vorgesetzten überworfen. Die Geschichte hatte sich hochgeschaukelt und man hatte sich voneinander getrennt.

Jahre zuvor hatte er von seinem Onkel ein beträchtliches Stück Land geerbt. Durch die unerwartete Trennung von seiner Firma, sah er jetzt die Zeit gekommen, sich um den Grund zu kümmern und diesen zu bestellen. Dabei habe ich sofort an unsere Firma gedacht und ihn versucht, von unseren Traktoren zu überzeugen. Die ganze Nacht hätten wir darüber verhandelt, seien aber noch zu keinem Schluss gekommen. Vielmehr hatte er danach gefragt, ob ich ihm bei der Planung seines Unternehmens behilflich sein könne. Er schlug vor, mir den Grund doch einmal anzusehen und mit ihm durchzugehen, wie viel Arbeitsgerät er für die Bestellung seiner Felder bräuchte.

Ich hätte ihm meine Unterstützung zugesagt, was aber mit sich brächte, dass ich demnächst des Öfteren zu ihm fahren müsste und ich somit nicht zu Hause sein könnte. Wenn ich als Mitarbeiter der Produktion, so erklärte ich Lisa, einen neuen Kunden gewinnen könne, würde das meine Position im Unternehmen weiter stärken und sich irgendwann sicher auch in bar auszahlen.

Lisa war sofort begeistert. Sie hatte mein Vorankommen in der Firma immer unterstützt. Wenn ich nochmals befördert würde, so meinte sie, hätten wir irgendwann soviel Geld, um auch den Kindern eine ordentliche Ausbildung ermöglichen zu können. Ich dankte Lisa für ihr Verständnis und bat sie darum, meinen Vorgesetzten nicht einzuweihen, um eine mögliche Enttäuschung bei Nichtzustandekommen des Neuauftrages zu vermeiden.

Jetzt war es raus. Eigentlich war ich sehr zufrieden mit meiner Lüge, fühlte mich aber beschissen. Trotzdem stellte ich fest, an diesem Abend wieder nach New Orleans fahren zu müssen, da mein potenzieller Neukunde noch die ganze Woche vor Ort wäre und wir somit mit unserem Gespräch fortfahren könnten. Lisa meinte, sie hätte sich zwar sehr auf den Abend gefreut, aber in diesem Fall hätte sie Verständnis, weil es doch auch zum Wohle unserer Kinder wäre. Sie kuschelte sich an mich und wünschte mir viel Glück.

An diesem Abend fuhr ich wieder nach New Orleans. Die ganze Strecke über war mir übel. Ich wusste nicht, ob ich mich mehr darüber schämen sollte, Lisa belogen zu haben oder mich darüber freuen sollte, Tatjana eventuell wiederzusehen. Gegen 19:00 Uhr kam ich am Parkplatz des Hiltons an. Um ihr zu gefallen, hatte ich mich besser gekleidet, als tags zuvor.

Um meine Aufregung und Nervosität zu lindern, steuerte ich schnell auf die Bar zu, um mir vor Tatjanas Eintreffen noch ein oder zwei Whisky zu gönnen. Der Barmann wies mir mit einem kurzen Nicken den richtigen Platz und servierte mir, meine Aufregung wohl bemerkend, schnellstmöglich die benötigte Alkoholration. Obwohl ich den Mann erst einmal gesehen hatte, war ich ihm richtig dankbar.

Etwa eine halbe Stunde nach mir betrat Tatjana die Bar und steuerte zielstrebig den Platz neben mir an. Ich spürte wie mein Herz heftig zu klopfen begann. Sie sah umwerfend aus. An diesem Abend trug sie eine türkisfarbene Bluse, einen kurzen weißen Rock und darauf abgestimmt hohe weiße Schuhe. „Ich nehme an, Sie sind rein zufällig hier?“, begrüßte sie mich, mit beinahe süffisant ironischem Unterton. Es gelang mir so zu tun, als hätte ich das nicht gehört, schob ihr stattdessen den Stuhl zurecht und fragte, ob ich sie zu einem Drink einladen dürfte. Sie verneinte und signalisierte dem Mann hinter der Theke, „das Gleiche wie immer bitte“. Dieser servierte ihr, ohne überlegen zu müssen, eine Weinschorle – so wie immer.

Als wir erstmalig an diesem Abend miteinander anstießen, schaute sie mir ganz kurz in die Augen, was mich, ob ihrer sonstigen Distanziertheit, sehr überraschte. Wie schon am Abend zuvor, hatte sie ihre beiden oberen Blusenknöpfe geöffnet. Auf ihrer makellos reinen und hellen Haut lugte ein winziger Leberfleck hervor, beinahe so, als wäre er gemalt. Eine ganz schlichte aber geschmackvolle Kette, wirkte wie ein Rahmen für die von der Natur geschaffene Vollendung. Als wir unsere Gläser wieder abstellten, fragte sie mich, ob mir ihre Halskette gefalle? Meine Blicke hatten sich wohl in ein Starren verwandelt, was mir sehr peinlich war. Meine Entschuldigung wies sie zurück. Es freue sie sehr, wenn jemand ihren Schmuck bewundere, sie selber habe auch bei mir auf den Ehering geachtet und fragte sich nun, warum ich wieder gekommen sei, wo ich doch verheiratet bin. Aufkommende Schamesröte versuchte ich durch kurzes Nippen an meinem Whisky zu überspielen.

„Sie brauchen nicht rot zu werden, es freut mich, wenn ich Ihnen gefalle“. Sie sagte dies keinesfalls arrogant oder überheblich, aber auch nicht besonders herzlich. Ich war sehr erleichtert, als die zugegebenermaßen peinliche Situation für mich überstanden war.

Tatjana gab sich weiterhin routiniert aufgeschlossen, redete mit mir wie am Vortag über Belangloses, schien aber irgendwie abwesend zu sein. Obwohl sie mir gegenüber keinesfalls unfreundlich war und immer wieder mal den Blickkontakt suchte, wirkte sie doch abgelenkt. Ich hatte das Gefühl, als würde sie noch auf jemanden warten, kannte sie aber nicht lange und gut genug, um danach zu fragen. Damit wir im Dialog bleiben, sprach ich sie auf ihre guten Sprachkenntnisse an. Sie erzählte, sie hätte in Russland während ihres Chemiestudiums die englische Sprache als Leistungsfach gewählt. Dadurch hatte sie erstmals, wenn auch ungewollt, Persönliches von sich preisgegeben.

Ob dies bei ihr ausgelöst durch einen Anflug von Sentimentalität, Gleichgültigkeit oder Hoffnungslosigkeit vermochte ich nicht zu sagen. Ich war aber froh, dass sie langsam etwas auftaute und lockerer wurde. Manchmal mussten wir sogar richtig lachen. Sie war wunderschön und mit ihren Lachfalten strahlte sie wie ein Model von einem Werbeplakat. Ich rückte etwas näher an sie heran und manchmal berührten wir uns dabei leicht. Ihre empfindsamen Antennen meldeten ihr aber sofort Alarm und so sprach sie mich an, warum ich dies täte. Aus mir unerfindlichen Gründen machte es mir nichts aus, zu sagen, dass ich wegen ihr wiedergekommen bin, ihr nahe sein wollte und deshalb sogar meine Frau belogen habe. Sie sollte einfach wissen, wie fasziniert und gefangen ich von ihr war.

Sie schaute mir ganz tief in die Augen, sagte aber nichts. Langsam beugte ich mich zu ihr hinüber und küsste sie ganz leicht auf die Stirn. Ihr sichtbar aufkommendes Haarsträuben amüsierte mich und dass sie nicht zurückgewichen war, machte mich stolz. Wortlos hielten wir unsere Blicke noch eine Zeit lang fest, ehe sie mich unvermittelt fragte: „Haben Sie sich in mich verliebt?“

„Ja, gestern schon, als ich Sie zum ersten Mal sah.“

„Das sollten Sie nicht, Sie sind verheiratet und mich dürfen Sie nicht lieben. Glauben Sie mir, mit mir könnten Sie nicht glücklich werden. Vielleicht später einmal, in einem zweiten Leben, aber in diesem würde ich Ihnen nur Unglück bringen.“

„Ich heiße Benjamin, lass uns das SIE vergessen.“

Sie lächelte. „Ich heiße Tatjana, aber ich mag meinen Namen nicht mehr. Aus dem Mund der Anderen klingt er schrecklich. – Aber bitte frage mich jetzt nicht, wer die Anderen sind, ich würde es Dir nicht sagen.“

Wir stießen miteinander an und ich nahm mir vor, mich daran zu halten.

Ich genoss es einfach, diesem für mich so wunderbaren Menschen so nah zu sein. Wir lachten miteinander und zwischendurch, wenn auch ganz zaghaft, küssten wir uns. Viel später als am Abend zuvor stand sie auf, verabschiedete sich aber genauso unvermittelt. Sofort sprang ich mit auf und gab dem Barkeeper einen Wink um zu zahlen, aber sie hielt mich zurück. „Bleib da, Du kannst nicht mitkommen, ich habe es Dir erklärt und mehr möchte ich darüber nicht sagen.“ Sie winkte mir noch zu und verschwand.

Die farbige Sängerin erfüllte mir einen Wunsch und in Gedanken hörte ich mich mitsingen: „What a wonderful world …“

Mit einem mir unbekannten Glücksgefühl fuhr ich wieder nach Hause zu Lisa. Obwohl es schon ziemlich spät geworden war, wartete sie in der Küche bei einem Glas Wein auf mich. Ob bei meinen Verhandlungen schon ein Ergebnis erzielt wurde, wollte sie sogleich wissen. Ich sagte ihr, wir wären ein gutes Stück weitergekommen, aber letzte Details müssten noch geklärt werden. Deshalb müsse ich tags darauf noch mal nach New Orleans. Um mich nicht weiter erklären zu müssen, stellte ich schon für dieses nächste Treffen eine Lösung in Aussicht. Noch eine Weile saß ich mit Lisa zusammen, dann legten wir uns ins Bett und noch ehe ich einschlief, bemerkte ich, wie sie mich ganz leise und sanft zudeckte.

Der darauffolgende Tag setzte mir innerlich sehr zu. Ich stand in der Firma an meinem Band, überwachte die Arbeiten, aber meine Gedanken sprangen lediglich zwischen Tatjana und Lisa hin und her. Glücksgefühle wurden von Selbstverachtung überholt, meine Zerrissenheit tat weh. Lisa erneut anlügen zu müssen beschämte mich, aber mein Verlangen Tatjana nah zu sein, ignorierte die Moral. Den Gedanken, wie das alles wohl weitergehen würde, vermied ich so gut ich konnte. Ich hatte schlichtweg Angst davor.

Niemals zuvor war ich auf die Idee gekommen, nach Dienstschluss nicht den direkten Weg nach Hause, zu Lisa und zu den Kindern zu nehmen. An diesem Nachmittag aber, fand ich mich an der Theke irgendeiner austauschbaren Eckkneipe wieder. Eingerahmt zwischen anderen Nachmittagstrinkern, wurde mir bewusst, wie ich dabei war, mich innerhalb kürzester Zeit von einem ehrlichen und anständigen Menschen in einen miesen egoistischen Lügner zu verwandeln. Die Nähe zu meinem Spiegelbild hinter der Theke wurde mir unerträglich. Ich schüttete mein Bier in mich hinein und verließ mehr oder weniger fluchtartig das Lokal. Zum Glück begegnete mir auf den paar Metern zu meinem Auto niemand den ich kannte. Es wäre mir peinlich gewesen, hätte man mich um diese Uhrzeit aus einer Kneipe kommen sehen.

Zu Hause angekommen begrüßte mich Lisa wie jeden Tag mit einem Kuss. Sie bemerkte sofort den Alkohol in mir. Ein neuer Mitarbeiter habe heute seinen Einstand gegeben und ich hätte mich kurz dazugesetzt, versuchte ich sie zu beruhigen.

Zum Glück stürmten Marie und Roger auf uns zu und erzählten von ihren Schulerlebnissen. Schon kurz darauf saßen wir beim gemeinsamen Abendessen. Lisa erzählte den Kindern, ich müsse abends noch einmal weg, um einen Kunden zu treffen. Sie lobte mich richtiggehend vor den beiden und meinte, wie schön es doch wäre, so einen tüchtigen Mann und Vater zu haben.

Als wir uns gerade über unsere Riesenportion Nachspeiseeis hermachten, fragte Lisa, ob ich den Mann aus New Orleans nicht mal zu uns einladen wollte? „Wie heißt er eigentlich?“, wollte sie wissen. „Mister Parker“ antwortete ich. „Ich weiß aber nicht, ob er unsere Einladung annehmen wird. Er wäre dann noch weiter von zu Hause weg und ich glaube nicht, dass er das will. Aber ich werde ihn heute Abend auf jedem Fall fragen und von Dir grüßen. Siehst Du, jetzt hätte ich es beinahe vergessen, auch von ihm soll ich Dir herzliche Grüße ausrichten.“

Das alles wurde unerträglich für mich und ich beschloss, schon früher als notwendig wieder loszufahren. Obwohl ich noch über eine Stunde Zeit gehabt hätte, entfloh ich dieser für mich so unangenehmen Situation. „Lisa, für heute ist wieder starker Regen angekündigt. Um rechtzeitig bei Mister Parker zu sein, halte ich es für sinnvoll, eher loszufahren.“ Lisa zeigte wie immer Verständnis und bestärkte mich sogar aus Sicherheitsgründen sofort zu starten. Ich verabschiedete mich bei den Kindern und wünschte ihnen eine gute Nacht. Dank des mitlaufenden Fernsehers vermissten sie mich nicht sonderlich. Lisa hingegen hielt mich lange in ihren Armen, drückte mich ganz fest an sich und meinte, es würde sicher alles gutgehen. Ganz bestimmt würde Mister Parker seine Traktoren bei unserer Firma bestellen, schließlich habe er doch einen guten und vertrauenswürdigen Berater. Lisa begleitete mich bis zum Auto. Noch eine ganze Weile sah ich sie im Rückspiegel mir nachwinken.

Die Autofahrt war wieder alles andere, als angenehm. Zweifel und Gewissensbisse plagten mich, aber je näher ich New Orleans kam, desto mehr stieg meine Vorfreude auf Tatjana. Ich konnte es kaum erwarten, sie wiederzusehen.

Endlich in der Bar angekommen, wurde ich vom Barkeeper freundlich begrüßt. Seinen Augen sah ich an, er wusste auf wen ich wartete, aber sein Blick schien mir wie eine Mischung aus Mitleid und Sorge. Da ich an diesem Tag schon getrunken hatte, bestellte ich mir lediglich ein Glas Wasser und lauschte der mir schon bekannten Sängerin.

Nach über einer Stunde erschien Tatjana. In ihrem schulterfreien mintgrünen Kleid, wirkte sie wie ein Traumwesen auf mich. Ein tiefer Ausschnitt gewährte Blicke auf ihre wohlgeformten Rundungen. Eine Bewunderung bis zur Sprachlosigkeit erreichte mich. Die Frage, kann ein Mensch so umwerfend schön sein, drängte sich in meine Gedanken.

Obwohl wir uns am Abend zuvor etwas näher gekommen waren, überraschte mich ein Begrüßungskuss von ihr. Ich fasste sie ganz leicht an den Schultern und gestand ihr, wie schön sie doch sei. Sie setzte sich zu mir und ich bestellte eine Weinschorle für sie. Sie lachte und war amüsiert darüber, wie schnell ich ihre Gewohnheiten registriert hatte. Als wir miteinander anstießen, sah ich ihre edle Uhr am rechten Handgelenk. Darauf angesprochen, warum sie ihre Uhr rechts trage, meinte sie nur: „Weil alle anderen Leute sie links tragen.“

Wir hatten eine Menge Spaß, aber zunehmend wurde sie ernster und nachdenklicher. Ich bat sie darum, mir zu erzählen, was mit ihr los sei und was sie bedrücke. Sie meinte, sie hätte Angst, sich in mich zu verlieben. Um sich zu erklären, begann sie zu erzählen.

Mauern der Macht

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