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Kapitel 4

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Eines Abends, sie war alleine zu Hause, da ihr Bruder mit seiner Klasse im Schullandheim war, bekam sie Besuch von zwei Männern. Beide waren in ihren dunklen Anzügen und sauberem Schuhwerk gut gekleidet, Umgangsformen jedoch, kannten sie keine. So gingen sie ohne sich vorzustellen und absolut wortlos an ihr vorbei. Namen täten nichts zur Sache und seien somit völlig unwichtig, erklärte man ihr, bereits mitten in ihrem Wohnzimmer stehend. Da der Größenunterschied der beiden beträchtlich war, sprach Tatjana später, mangels Namenskenntnis, immer nur vom Großen und vom Kleinen. Während dem Kleinen, unter anderen Gegebenheiten, ein durchaus sympathisches Äußeres zu bescheinigen war, wirkte der Große, durch seine Breitschultrigkeit und seine kantigen Gesichtszüge eher bedrohlich. Er sprach kein einziges Wort, aber seine bloße Anwesenheit verfügte über genügend Aussagekraft. Der Kleine sah sich eher für die gesprochene Kommunikation zuständig. Tatjana protestierte lautstark und wollte diese Überrumpelung nicht hinnehmen. Der Kleine aber hatte sie unterbrochen und bedankte sich bei ihr für den freundlichen Empfang.

„Schön, dass Sie uns so bereitwillig bei Ihnen aufnehmen, Frau Dr. Smirnow. Es wäre auch sicher nicht ratsam gewesen, unhöflich zu sein, zumal auch Sie von unserer Verbindung profitieren werden. Sicherlich aber fragen Sie sich, wer wir sind. Sagen wir es mal so, wir sind gute Freunde von Ihnen und auch unser Boss freut sich schon sehr darauf, Sie persönlich kennenzulernen.“ „Hören Sie zu“, entgegnete Tatjana mit zitternder Stimme, „ich kenne weder Sie noch Ihren Boss und ich will ihn auch nicht kennenlernen. Verlassen Sie bitte sofort meine Wohnung, oder ich rufe die Polizei.“

Ohne ein Wort zu sagen, ging der Große zum Telefon und riss das Kabel aus der Wand. „Aber, aber, Frau Dr. Smirnow, behandelt man so Freunde? Ich sagte Ihnen doch bereits, auch Sie werden aus unserer Beziehung Ihren Nutzen ziehen. Sehen Sie, gerade einer so zierlichen und alleinstehenden Frau wie Ihnen, könnte doch leicht mal etwas zustoßen“, bemerkte der Kleine.

Während er das sagte stieß der Große, dreckig grinsend, mit dem Fuß eine Vase um, die ihr vor Jahren, ihre Tante geschenkt hatte.

„Verzeihen Sie bitte“, entschuldigte sich der Kleine, „aber wenn man abweisend zu ihm ist oder ihm gar mit der Polizei droht, reagiert er immer sehr empfindlich.“ Verängstigt wechselte sie ihre Blicke zwischen den beiden.

„Ich sehe, Sie haben sich wieder beruhigt“, meinte der Kleine „und hören mir deshalb jetzt genau zu. Wir wissen, wer Sie sind. Wir wissen auch genau, was Sie tun und wie Sie es tun. Ihre Karriere verläuft bisher nicht schlecht – stellvertretende Leiterin in der Kosmetikherstellung, da muss man sicher gute Beziehungen zum Chef haben, oder? Sie brauchen nicht zu antworten, wir wissen es, auch wie Sie Ihre Kollegin verraten haben, – da gehört sicher einiges dazu. Bewundernswert wie eiskalt Sie sind. Genau so jemanden haben wir gesucht. Sie haben Glück, dass unsere Wahl auf Sie gefallen ist. Kommen wir zur Sache. Ihre Firma hat gerade ein neues Kosmetikprodukt fertig gestellt, aber noch nicht auf den Markt gebracht. Ich spreche von dieser neu entwickelten Körperlotion – und genau diese Körperlotion werden Sie uns besorgen. Wir möchten sie haben, bevor sie offiziell am Markt erscheint. Machen Sie Ihre Arbeit gut und machen Sie sie mit Freude. Wir werden Sie übermorgen wieder besuchen, bis dahin haben Sie das Produkt!“

Er wandte sich dem Großen zu und signalisierte die Wohnung zu verlassen.

Tatjana war verzweifelt. Lange überlegte sie, ob sie zur Polizei gehen sollte oder nicht. Wer waren diese Leute? Warum waren zwei Männer in teuren Anzügen an billiger Lotion interessiert? Was steckte dahinter und wie gefährlich waren die beiden wirklich? Und was sollte sie einer korrupten Polizei sagen, die darin wahrscheinlich nur überflüssige Arbeit sah?

Sie hatte Angst, große Angst und beschloss deshalb dieses beinahe wertlose Zeug zu besorgen.

Die ganze Nacht hatte sie kein Auge zugetan. Schweißgebadet kämpfte sie sich unruhig durch die langsam vergehenden Stunden. Niemals zuvor in ihrem Leben hatte sie etwas gestohlen. Obwohl sie von starken Gewissensbissen geplagt wurde, überlegte sie schließlich, wie sie an das Geforderte kommen könnte.

Während des gesamten Herstellungsprozesses, vom Zusammenmischen der einzelnen Komponenten bis zur Abfüllung in die handelsüblichen Tuben, war das Material niemals unbeaufsichtigt. Es gab keine einzige Stelle, weder auf dem Herstellungs- noch auf dem Abfüllband, an dem keine Mitarbeiterin daran zu tun hatte. Wie also sollte sie jemals an die Lotion kommen, ohne dabei beobachtet zu werden? Zumal die fertig abgefüllten und etikettierten Tuben direkt in bereitstehende Kartons gepackt wurden, die man wiederum sofort verklebt und palettiert hatte.

Tatjana wusste keinen Rat. Völlig niedergeschlagen erschien sie an diesem Tag an ihrer Arbeitsstelle. Obwohl ihre Nerven einige Male drohten sie zu verlassen, versuchte sie sich so unauffällig wie möglich zu verhalten. Sie beteiligte sich an kleineren Gesprächsrunden mit Kollegen, hörte ihnen aber gar nicht richtig zu.

Mehrere Male ging sie die Fertigungsstraße auf und ab, aber so sehr sie auch suchte, sie konnte keine Lücke entdecken. Die Gedanken, was wohl am nächsten Abend passieren würde, sollte sie den Beiden nichts übergeben können, verdrängte sie. Es war schon später Nachmittag, aber noch immer sah sie keine Möglichkeit unbemerkt an eine Tube zu kommen.

Erst als sie sich kurz vor Dienstschluss in ihrem kleinen Büro nochmals Kaffe kochte war ihr der Einfall gekommen das Band während der Dienstzeit von den Angestellten räumen zu lassen. Dabei überlegte sie sowohl die Möglichkeit eines Feueralarms, als auch eine kurzfristig einberufene Abteilungsbesprechung durchzuführen. In beiden Fällen mussten die Bediensteten die Fertigungsstraße für geraume Zeit verlassen.

Darin sah sie ihre einzige Möglichkeit unbemerkt in den Besitz einer Tube zu kommen. Lange überlegte sie, wie sie ihren Vorgesetzten von einer Besprechung überzeugen konnte, obwohl jegliche Betriebsunterbrechung ein Gräuel für ihn darstellte. Um dies zu erreichen müsste sie ihre Kollegen anschwärzen, was ihr jedoch widerstrebte. Die meisten der Mitarbeiter standen ihr nah, obgleich sie das niemals zeigte. Sie distanzierte sich wieder von ihrer Überlegung und schämte sich beinahe dafür, sie jemals angestellt zu haben.

Erst sehr spät an diesem Abend, sie war längst zu Hause, wurde ihr klar, dass nur ein Feueralarm am nächsten Tag helfen konnte. Hundemüde und weit nach Mitternacht ging sie zu Bett, aber an Schlaf war auch in dieser Nacht nicht zu denken.

Völlig zermartert stand sie am nächsten Morgen auf, aber auch die eiskalte Dusche, unter der sie stehen blieb, solange sie es aushalten konnte, vermochte ihr keine Frische zu verleihen. Ihre Angst war riesengroß. Sowohl die Tatsache stehlen zu müssen, als auch die Befürchtung erwischt zu werden, ließ sie förmlich erschaudern.

Völlig verkrampft, aber äußerlich unverändert, erreichte sie rechtzeitig ihren Arbeitsplatz. Nach einem kurzen Gruß verschwand sie in ihrem Büro und versteckte ihren Kopf in den Unterlagen der Produktionszahlen. Dabei dachte sie ausschließlich an den richtigen Moment für einen Alarm.

Mittags, wenn einige Mitarbeiter in ihre kurzen Pausen verschwanden und die Kollegen deren Arbeit mit übernehmen mussten, war immer ein wenig Hektik und Unruhe am Band. Deshalb sah Tatjana die Mittagspause als den geeigneten Zeitpunkt an. Schon eine halbe Stunde zuvor war sie am Band und wechselte mit der einen oder anderen Mitarbeiterin ein paar nette Worte, ganz wie eine vorweggenommene Entschuldigung.

Als sie im alltäglichen Mittagsdurcheinander Richtung Küche ging zerschlug sie unauffällig das dünne Glas am Feuermelder und drückte den Alarmknopf. Sofort heulte die Sirene los und die restliche Belegschaft stürmte nach außen.

Um sich durch ihr Zurücklaufen nicht verdächtig zu machen, nutzte sie ihre Position als stellvertretende Abteilungsleiterin und rief laut zum sofortigen Verlassen der Halle auf. Als sie nur noch alleine war, nahm sie sich eine Tube vom Band und ließ diese in ihrer Tasche verschwinden. Darauf lief sie den Anderen nach und verkündete, dass sich Gott sei Dank niemand mehr im Herstellungsraum befände.

Schon kurz darauf traf die werkseigene Feuerwehr am vermeintlichen Brandort ein und meldete die eingeschlagene Scheibe an die Firmenleitung weiter. Diese ließ aus Disziplinierungsgründen die komplette Belegschaft an diesem Tag länger arbeiten. Die fehlende Tube fiel niemandem auf. Tatjana fühlte sich trotz der durch sie verhängten Kollektivstrafe erleichtert.

Ein Fehler, – sollte doch der weitaus unangenehmere Teil an diesem Abend noch folgen. Als sie zu Hause ankam, legte sie die Tube in ein Regal und ließ sich auf ihr Sofa fallen. Mit einer Mischung aus Zufriedenheit über die gelungene Aktion und Unbehagen darüber, es überhaupt getan zu haben, hielt sie ihr Diebesgut noch lange mit Blicken fest. Sie war müde geworden, hatte ein beißendes Hungergefühl, wollte mit dem Essen aber warten, bis sie ihre beiden Erpresser wieder aus der Wohnung hatte.

Nach gut einer halben Stunde, es war längst dunkel geworden, erschienen die Beiden wieder. Alles lief ab wie beim ersten Mal. Beide gingen an ihr achtlos vorbei, ohne eine Aufforderung zum Eintreten abzuwarten. Wieder führte der Kleine das Wort, die Aufgabe des Großen bestand darin, Dominanz zu zeigen. Tatjana hatte Angst vor ihm. Er sagte nichts, schaute sie nur durchbohrend an. „Die Ware“, forderte der Kleine und streckte dabei seine Hand nach ihr aus. Tatjana nahm die Tube von der Ablage und übergab sie ihm.

„Sie wollen mich beleidigen?“ fragte er in vorwurfsvollem Ton. Tatjana verstand nicht. Sie hatte doch genau das getan, was man von ihr gefordert hatte. „Wissen Sie Frau Dr. Smirnow, wenn ich Ihnen sage, Sie sollen mir diese neu entwickelte Lotion besorgen, dann meine ich nicht eine Tube davon. Sie enttäuschen mich sehr. Ich dachte, wir hätten es mit einer intelligenten, zielstrebigen, jungen Frau zu tun, stattdessen sehe ich hier jemanden vor mir, der glaubt, sich mit uns anlegen zu müssen.“

Tatjana rang nach Luft. „Ich wusste nicht, dass Sie mehr davon haben wollen. Es wäre aber auch gar nicht möglich gewesen, eine größere Menge unauffällig aus der Firma zu bringen. Es gibt keine Stelle am Band, zu der ich unbemerkt Zugang habe. Ich kann Ihnen nicht mehr beschaffen, es ist schlicht und einfach unmöglich. Bitte glauben Sie mir.“

Der Kleine fauchte sie an. „Was hier möglich ist und was nicht, sage ich Ihnen! Sie sind stellvertretende Abteilungsleiterin, also nutzen Sie Ihre Position und schieben Sie den Diebstahl einfach auf eine Kollegin. Jedenfalls setzen Sie genau das um, was ich Ihnen sage. Sie könnten meine Freundschaft sonst sehr leicht überstrapazieren. Wissen Sie, ich müsste sonst meinem Kollegen hier ein Zeichen geben und ich kann Ihnen sagen, er wartet nur darauf.“

Der Große öffnete ruckartig eine Glastüre am Wohnzimmerschrank und schaute Tatjana dabei hämisch an. Nur ganz langsam nahm er den Blick von ihr und wandte sich einem alten Kaffeeservice zu. Er nahm eine Tasse an sich und ging damit auf Tatjana zu. Nur an seinem Zeigefinger hängend, ließ er das wertvolle Stück vor ihren Augen hin und her baumeln. Zitternd kam sie seiner unausgesprochenen Aufforderung nach. „Das mit der größeren Lieferung geht in Ordnung, ich werde mein bestes tun, aber bitte lassen Sie mir etwas Zeit.“

„Schön, dass wir uns verstanden haben. Sie scheinen doch lernfähiger zu sein, als ich dachte. Aber wie viel Zeit Sie dazu brauchen, entscheiden wir. Wir kommen übermorgen Abend wieder, dann übergeben Sie uns einen vollen Karton. Ich denke, Sie haben verstanden. Schlafen Sie gut, so wie Sie aussehen, könnten Sie ein paar Stunden gebrauchen.“ meinte der Kleine.

Dann verließen beide die Wohnung. Tatjana setzte sich, schaute auf die Erbstücke im Schrank und begann zu weinen. Sie saß einfach nur da, umschlang ihre angewinkelten Knie und lehnte ihren Kopf darauf. Sie fühlte sich als der einsamste Mensch der Welt und hatte immense Angst.

An diesem Abend dachte sie nicht mehr darüber nach, wie an eine größere Menge zu kommen wäre, sondern legte sich einfach nur auf ihr Bett und weinte. Irgendwann später, von der Müdigkeit überwältigt, schlief sie dann endlich ein.

Schon am frühen Morgen, kurz nach dem Aufstehen, begann sie darüber zu grübeln, wie sie ohne dabei erwischt zu werden, an die größere Menge Lotion kommen könnte. Dass sie selbst keine Möglichkeit dazu hatte, war ihr klar. Es klang ihr aber noch in den Ohren, sie solle den Diebstahl einfach einer Kollegin anlasten. Da sie sich selbst in größter Not sah, begann sie ernsthaft darüber nachzudenken. Bei dem Gedanken, so etwas zu tun, wurde ihr beinahe schlecht. Sie fühlte sich mies, noch ehe sie irgendetwas getan hatte, denn alle ihre Mitarbeiterinnen waren von ihrem Job abhängig.

Die Möglichkeit offiziell um die Ware zu bitten, schloss sie aus. Ein neues Produkt, welches noch der Geheimhaltung unterlag, war für einfache Mitarbeiter nicht zu bekommen.

Um das Bandende zu beobachten, hielt sich Tatjana an diesem Tag sehr lange dort auf. Wenn man einen ganzen Karton unbemerkt an sich nehmen wollte, schien das, wenn überhaupt, nur dort möglich zu sein. Drei Mitarbeiter waren unmittelbar daran beschäftigt. Igor, 62 Jahr alt, unverheiratet und seit seinem 15. Lebensjahr in der Firma beschäftigt, Sonja, 28 Jahre, alleinerziehend und Mira, 41 Jahre, verheiratet mit einem arbeitslosen und gewalttätigen Trinker. Diese Drei falteten die Kartonagen, befüllten diese mit jeweils 20 Tuben, verklebten die Kartons und stapelten diese auf dafür bereitgestellten Paletten. Danach wurden diese als Ganzes versperrt, so dass ab dort kein Zugriff mehr möglich war.

Tatjana musste also eine dieser drei Personen als Verbündete gewinnen. Gedanklich unterzog sie alle Drei einer Eignungsprüfung. Aber selbst wenn einer der Kollegen mit ihr zusammengearbeitet hätte, wäre sie ab diesem Tag von dieser Person erpressbar gewesen. Deshalb machte sie noch am gleichen Nachmittag von einer Möglichkeit Gebrauch, die sie selbst anwiderte.

Gegen 15:00 Uhr bestellte sie Mira zu sich ins Büro. Sie entschied sich für Mira, da sie diese Mitarbeiterin für das schwächste Glied in der Dreierkette hielt. Zudem wusste Tatjana, dass Mira Angst vor ihrem Mann hatte. Schon mehrfach hatte er sie geschlagen und misshandelt. Sollte sie ihren Arbeitsplatz verlieren, wäre sie auch untertags häuslicher Gewalt ausgesetzt.

Tatjana bot ihr einen Stuhl gegenüber dem ihren an. „Hören Sie Mira, ich habe Sie zu mir bestellt, weil ich mit Ihnen über die Situation in unserer Firma sprechen möchte. Wie Sie wissen, wird hier bei uns das Leistungsprinzip nicht nur proklamiert, sondern auch gelebt. Das heißt, Mitarbeiter über die Lobenswertes berichtet wird, kommen durchaus in den Genuss von außertariflichen Kulanzleistungen. Anders verhält es sich, wenn Verfehlungen an die Firmenleitung gemeldet werden. In solchen Fällen wird sich die Firma umgehend vom entsprechenden Mitarbeiter trennen. Nun, es war sicher nur eine Frage der Zeit, bis Ihr unübersehbares Leistungsdefizit ans Licht kam. Sie werden verstehen Mira, dass wir uns mit sofortiger Wirkung von Ihnen trennen müssen.“

Mira war sichtlich um Fassung bemüht. Völlig verängstigt und hilflos beteuerte sie, sich nichts zu Schulden habe kommen lassen. Sie versicherte Tatjana, dass es wegen ihr noch nie zu einem Bandstau gekommen sei und auch niemals einer ihrer Kollegen ihre Arbeit habe übernehmen müssen. Auch sei sie nie krank gewesen und war der Firma gegenüber stets loyal. Nie hätte sie auch nur ein negatives Wort über ihren Arbeitsplatz verloren. Sie flehte Tatjana an, ihre Entscheidung nochmals zu überdenken. „Bitte geben Sie mir noch eine Chance, Sie werden sehen, ich werde Sie nicht enttäuschen.“

Innerlich das Herz zerreißend blieb Tatjana äußerlich kalt. „Wissen Sie Mira, dass Sie Ihrer Arbeit nicht im geforderten Maße nachkommen, ist eine Sache, dass Sie aber versuchen durch Bettelei Ihren Arbeitsplatz zu sichern, ist mehr als erbärmlich. Hätten Sie auch nur einen Hauch an besserer Zusammenarbeit signalisiert, wäre ich unter Umständen bereit gewesen, Gnade vor Recht walten zu lassen.“

Mira begann zu weinen. Sie erzählte von ihrem zu Hause und von ihrem prügelnden Mann. Käme sie ohne Job heim, bezöge sie umgehend Schläge, so wie er es schon des Öfteren getan hatte.

Tatjana ging zu ihr hinüber und legte tröstend den Arm um sie. „Glauben Sie mir, Mira, ich habe keine andere Wahl. Ich muss so handeln, obwohl es mir schwer fällt. Natürlich wissen wir beide, dass mein Vorwurf gegen Sie gelogen ist, aber eben nur wir beide. Wenn mein Wort gegen Ihres steht, wird Ihnen niemand glauben.“

Mira schaute ungläubig und die Tränen liefen noch immer über ihr Gesicht. „Was soll ich tun?“, fragte sie kleinlaut. „Sie sind die Einzige, die einen kompletten Karton von dieser neuen Lotion verschwinden lassen kann, ohne dass es jemandem auffällt. Tun Sie das für mich! Stellen Sie ihn lediglich nicht auf die Palette, sondern unter das Bandende. Wenn Sie Ihre Sache gut machen, können wir unsere kleine Geschichte vergessen. Sind wir uns einig?“

Mira nickte. Tatjana lächelte ihr zu. „Jetzt putzen Sie sich noch Ihr Gesicht ab und dann gehen Sie wieder an Ihre Arbeit. Ich gehe davon aus, dass ich nach Dienstschluss unter dem Band etwas für mich finde.“

Noch am selben Abend, Tatjana blieb etwas länger als die anderen, konnte sie den Karton problemlos an sich nehmen und nach Hause bringen.

Am Abend kreisten ihre Gedanken unentwegt und ließen keine Ruhe zu. Wie wird es Mira nach dieser Demütigung gehen? Wird sie darüber hinwegkommen? Was könnte sie selber tun um ihr zu helfen? Wie wird ihr eigener nächster Abend verlaufen? Wird sie von den beiden Erpressern in Ruhe gelassen oder kommen weitere Forderungen auf sie zu? Sie drehte sich im Kreis, einerseits war die Zufriedenheit darüber den Karton zu haben, anderseits die Angst vor dem Morgen. Früher als sonst, sie hatte nicht einmal etwas gegessen, sank sie an diesem Abend in ihr Bett.

Der darauffolgende Tag gestaltete sich für Tatjana mehr als schwierig. Sie hatte das Bedürfnis, Mira in den Arm zu nehmen und ihr Trost zu spenden. Dies hätte aber die anderen Kollegen aufmerksam oder gar misstrauisch gemacht und gleichzeitig ihre eigene Autorität unterwandert. Deshalb lud sie Mira noch mal zu sich ins Büro ein, was schon auffällig genug war. Sie bot ihr einen Kaffee an und sprach in sehr ruhigem Ton mit ihr. „Mira, ich möchte noch mal auf unsere kleine Aktion von gestern Abend zu sprechen kommen. Natürlich haben Sie damit nicht im Interesse der Firma gehandelt. Aber mal ganz ehrlich, außer mir hat niemand etwas mitbekommen und da ich für Ihr beiseite geschafftes Diebesgut Verwendung hatte, sollte sich die Angelegenheit für Sie nicht weiter negativ auswirken. Daher schlage ich Ihnen vor, die Sache zu vergessen und sich wieder auf Ihre Arbeitsabläufe zu konzentrieren. Ich werde Sie weiterhin als loyale Mitarbeiterin zu schätzen wissen.“

Mira nickte wie erwartet und Tatjana legte ihr zum Abschied noch ganz leicht die Hand auf die Schulter. Tatjana blieb noch eine Weile in ihrem Büro und war zufrieden, ihre Mitarbeiterin wenigstens ein klein wenig beruhigt zu haben.

Den Rest des Tages verbrachte sie damit, sich einfach nur zu verstecken und den Arbeitstag möglichst ohne weitere Zwischenfälle rasch hinter sich zu bringen.

Zu Hause angekommen begann für sie die lange Zeit des Wartens. Obwohl sie die beiden Männer erst viel später erwartete, war sie zwischenzeitlich unfähig irgendetwas zu tun. Sie mochte sich kein Essen kochen und konnte sich weder umziehen, geschweige denn entspannen. Nicht einmal das Radio hatte sie an diesem Tag angestellt.

Später als die Tage zuvor ertönte die Klingel. Sie zuckte erschreckt zusammen, obwohl sie den ganzen Abend darauf gewartet hatte. Sie öffnete die Tür und bemerkte selbst, wie sie am ganzen Körper zitterte. Es folgte das schon beinahe gewohnte Spiel. Die Beiden gingen ohne zu grüßen achtlos an ihr vorbei. Tatjana empfand es als sehr erniedrigend, fremd Leute in die Wohnung lassen zu müssen, ohne gefragt zu werden. Auch sie sagte nichts und stellte den Karton ohne erkennbare Regung auf den Tisch.

„Gut gemacht, Frau Dr. Smirnow. Wir wussten, dass Sie gut mit uns zusammen arbeiten würden. Bewundernswert dabei ist Ihre Kaltschnäuzigkeit. In einer von vorne bis hinten lückenlos überwachten Fertigungsstraße einen kompletten Karton zu entwenden, verdient unsere Anerkennung. Wir wissen natürlich nicht, wie Sie an die Ware gekommen sind, es ist auch egal, aber es beweist, mit wie viel krimineller Energie Sie ausgestattet sind. Wir dürfen Sie daher als Mitglied unserer Organisation begrüßen. Als Anerkennung sollen wir Ihnen von unserem Chef dieses kleine Etui hier überreichen.“

Tatjana nahm es entgegen, öffnete es und blickte auf eine wunderschöne Halskette mit dazu passenden Ohrringen. Ungläubig schaute sie die Beiden an.

Auch an diesem Abend tat sich der Kleine als Wortführer hervor. „Sie werden den Schmuck heute Abend tragen. Gegen 22:00 Uhr holen wir Sie hier ab. Inzwischen bleibt Ihnen noch genügend Zeit, sich ein wenig frisch zu machen. Unser Chef freut sich schon darauf Sie kennenzulernen. Er hat einen ruhigen Tisch für Sie beide reservieren lassen. So, genug der Worte, es ist jetzt kurz vor 21:00 Uhr, deshalb beeilen Sie sich lieber. Wir holen Sie in einer Stunde ab. Ach übrigens, damit ich es nicht vergesse, die zwanzig Tuben Lotion sollten Sie in die Toilette spülen, - oder wissen Sie jemanden, der so billiges Zeug braucht?“

Von sich selbst überrascht fand Tatjana Widerworte. „Was ist, wenn ich Ihren Chef nicht treffen will und auch seinen Schmuck nicht haben möchte?“

Der Große machte schon eine Bewegung in ihre Richtung, wurde aber mit einem Wink von seinem Partner zurückgehalten. Lange fixierte er ihr in die Augen. „Frau Doktor, oder sollte ich Sie treffender mit Diebin ansprechen, Sie werden wollen! Ich sehe Ihnen förmlich an, wie sehr Sie sich über die Einladung freuen. Das ist auch besser so, unser Chef mag es nicht, wenn man ihn enttäuscht! Bis später.“

Tatjana fiel nahezu in sich zusammen, begriff aber sofort, welche Konsequenzen es für sie hätte, sollte der Diebstahl aufkommen. Ihr war klar geworden, die Geschichte mit der Lotion galt einzig und allein dem Zweck, sie unter Druck setzen zu können. Was aber wollte man wirklich von ihr? Sie fühlte sich leer und müde.

Trotzig stand sie auf. Um möglichst formal zu wirken, entschied sie sich für ihren blauen Hosenanzug und den farblich passenden Schuhen. Es war schon kurz vor 22:00 Uhr. Widerwärtig legte sie sich die Kette um und steckte die Ohrringe an.

Kurz darauf standen die Beiden wieder in der Tür. „Sie sehen sehr schön aus Frau Dr. Smirnow. Unser Chef wird sich freuen.“

Mauern der Macht

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