Читать книгу Ein Grab für zwei - Ralf Kramp - Страница 11
3. Kapitel
ОглавлениеHerbie wischte sich den Schweiß von der Stirn und guckte zu der Quertraverse hinauf. Da saß alles bombenfest. Er hatte jetzt eine geschlagene Stunde lang erfolglos versucht, die Metallachse der Bürste mithilfe einer großen Rohrzange und eines Hammers in eine senkrechte Position zu bringen. Immer wieder rieselten kleine Federn und trockenes Gras irgendwo aus der Höhe auf ihn und den Mercedes herunter. Alle paar Minuten kamen einige der grünen Vögel hereingeflogen, flatterten zeternd herum und ließen ihrer Verdauung freien Lauf.
Der Praktikant hieß Cedric-Maurice, und das Mobiltelefon schien mit seinen Händen verwachsen zu sein. Was auch immer auf dem Display des Geräts zu sehen sein mochte, es erforderte offenbar gleichbleibend fünfundneunzig Prozent seiner Aufmerksamkeit.
Verlier doch nicht gleich die Geduld. Jungen Menschen muss man mit Langmut und Verständnis begegnen.
Cedric-Maurice lehnte an der Waschhallenwand und fixierte das Handydisplay. Herbies Bemühungen nahm er gar nicht zur Kenntnis.
Plötzlich tauchte eine junge Frau neben ihm auf. Sie trug eine Brille mit zierlichem Metallgestell, hatte dunkelbraunes Haar, das zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden war, und ihre Augen waren von einem außergewöhnlich klaren Blau. Sie trat von einem Fuß auf den anderen, spielte nervös mit einer leeren Stofftasche und zupfte sich immer wieder die weite, geblümte Bluse auf dem molligen Körper zurecht.
»Hallihallo«, sagte sie, eine Winzigkeit zu fröhlich, als dass es echt geklungen hätte. »Ist der Horst da?«
»Mblmblkrankenhaus«, nuschelte Cedric-Maurice.
»Oh, echt? Was Schlimmes?«
Der Praktikant deutete kaum wahrnehmbar eine Art Schulterzucken an. »Mblmblweißnich.«
»Ich will nur ganz schnell was holen. Muss mich beeilen. Der Kleine schläft.« Mit dem rechten Zeigefinger wies sie ins Ungenaue.
»Sind Sie die Vertretung?«, fragte sie an Herbie gewandt.
»Ich, nein, nein.« Er wog den Hammer in der Hand. »Notfalleinsatz.«
Ein Teufelskerl! Er ist von der Initiative Autowohl, die nicht artgerecht gehaltene Autos befreit.
»Na, okay, sagt Horst jedenfalls liebe Grüße und gute Besserung. Ich lege das Geld auf die Theke. Weißt Bescheid, ja?«
Cedric-Maurice murmelte eine Art Zustimmung.
Dann lief sie hinaus, und Herbie guckte ihrem wippenden Pferdeschwanz nach.
»Ist der denn lange weg, oder kommt der heute wieder?«, fragte er den Praktikanten.
Wieder diese unmerkliche Bewegung und ein Murmeln: »Mblmbldochnich. Keineahnung.«
»Ja, aber du kannst doch hier nicht ganz allein den Laden schmeißen.«
»Mblmbltanktsowiesokeiner.«
So langsam fange ich an, mich an seine Art zu gewöhnen. Er läuft anscheinend nur auf drei Pötten, um mal im Bild zu bleiben. Vielleicht muss er mal ein oder zwei Stündchen an eine Autobatterie angeschlossen werden. Julius stolzierte um den Mercedes herum und summte leise vor sich hin.
»Ach, hat doch alles keinen Zweck.« Herbie zückte sein Handy. »Köbes kann uns vielleicht helfen.«
Ah, Köbes, der Zottel aus Zingsheim! Dein verrückter Autoschrauber-Freund wird dem Ding den Rest geben!
»Die Waschanlage ist mir piepegal. Ich will das Auto da raushaben.«
Das schafft er. Nur nicht in der alten Form.
»Von Zingsheim aus ist er in ein paar Minuten hier.« Herbie wählte. »Er kann gleich seinen Schweißbrenner mitbringen.«
Cedric-Maurice blickte irritiert auf und schaute suchend um sich, um zu sehen, mit wem Herbie sprach. Dann erschien ihm aber doch sein Handy wichtiger, und er versank wieder in der Abenddämmerung seiner Gedankenwelt.
»Hallo Herbie!«, quakte Köbes fröhlich aus dem Gerät.
»Tach Köbes, du musst mir helfen.«
»Klar, wie immer, aber hör mal, ich …«
»Oh, die Verbindung ist mies. Es geht um das Auto meiner Tante, Köbes.«
»Mblmblscheißnetz hier«, murmelte der Praktikant.
»Nee, sorry, Herbie, ich …«
»Keine Sorge, du musst es nicht reparieren. Es ist nur … eingeklemmt.«
Die Verbindung war wirklich ausgesprochen schlecht, sogar für Eifeler Verhältnisse. Zuerst war am anderen Ende nur noch einen Knacken zu hören, dann wieder die verzerrte Stimme von Köbes: »Die Leitung ist echt dürftig. Ich habe ›eingeklemmt‹ verstanden.«
»Ja, stimmt, eingeklemmt. Hat keinen Zweck, dass ich versuche, es dir am Telefon zu erklären. Komm doch mal schnell rüber.«
»Geht nicht.«
»Wieso?«
»Bin in Island.«
»Oh. Island, echt? Also das Island?«
»Nein, Island.«
»Sag ich ja.«
Jetzt kam nur noch ein Knastern.
»Köbes?«
Das Gespräch löste sich irgendwo zwischen Island und der Eifel in nichts auf, und Herbie starrte ratlos auf das Display.
Du siehst gerade ein bisschen so aus wie Cedric-Maurice.
»Verdammt, und jetzt? Hast du ein Branchenbuch da drinnen?«, fragte Herbie in Richtung des Praktikanten und deutete in Richtung des Verkaufsraums. Cedric-Maurice begriff nur sehr langsam, dass er gemeint war, und der Blick, mit dem er diese Frage beantwortete, glich der allumfassenden Leere eines schwarzen Lochs im Weltall.
»Gelbe Seiten?«, fragte Herbie eindringlich.
Du könntest ihn genauso gut um einen Brockhaus oder die Tora bitten.
»Okay, dann eben Internet. Habt ihr einen Computer? Mit dem Handy komme ich bei dem miesen Empfang hier nicht weiter.«
Als Cedric-Maurice immer noch nicht reagierte, steuerte Herbie entschlossen den Verkaufsraum an. Als er die Glastür öffnete, kam ihm die junge Frau mit dem Pferdeschwanz entgegen. Was war nur an ihrem Lachen, das es so unglaubwürdig machte? Die Augen waren es. Die Augen lächelten nicht mit. Der Einkaufsbeutel war jetzt gefüllt. Etwas klirrte leise darin.
»Geld liegt da. Hab’s abgezählt!«
Herbie blickte sich nach dem Praktikanten um, der es offenbar noch nicht aus der Waschhalle herausgeschafft hatte. »Okay«, sagte er. »Ich sage Bescheid.«
Sie hob jetzt den Beutel hoch, presste ihn gegen die Brust und ging mit zielstrebigen Schritten los.
Ein nervöses, kleines Pummelchen.
»Da waren Flaschen drin. Scheint sie öfter hier zu kaufen.«
Die junge Frau verließ den Vorplatz über einen kleinen Schotterweg, der hinter dem großen Überseecontainer zwischen dem hüfthohen Gestrüpp verschwand.
Herbie öffnete jetzt die Tür am rechten Rand der schmutzigen Glasfront des Gebäudes. Als er eintrat, reiste er im selben Augenblick zurück in die Vergangenheit.
Rechts stand ein Zeitschriftenregal. Zumindest war es einmal eins gewesen. Ein paar aktuelle Exemplare der Bild-Zeitung und des Kicker waren dort einsortiert, aber auch einige alte Illustrierte, auf deren Titelseiten noch Lady Diana lächelte und Dieter Bohlen und Thomas Anders zusammen posierten. Im unteren Regal wurden ein paar in Folie eingeschweißte Pornomagazine neben Bussi Bär, Fix und Foxi und anderen alten Kinderheften angeboten.
Über die gesamte Länge der hinteren Wand verlief ein Metallregal mit fünf Etagen, in dem ein paar einsame ölverschmierte Autoersatzteile, Dosen mit Bremsflüssigkeit und Motoröl, Reservekanister, Frostschutzmittel, Schachteln mit Luftfiltern, Wischblättern, Bremsbelägen und Zündkerzen und eine beachtliche Menge von Duftbäumchen in verschiedenen Aromarichtungen verteilt lagen. Eine Ecke war ein paar alten Konserven, Keksschachteln und Weinflaschen vorbehalten.
Links thronte die große Kassentheke, verkleidet mit einer weißlichen Kunststoffplatte, die an den äußeren Rändern honigfarben angelaufen war. Sie wurde rechter Hand flankiert von einer offen stehenden, leeren Eistruhe, einem hochmodernen, leuchtenden Kühlschrank, randvoll mit Bierdosen, und zur Linken von einem kleinen, fast leeren Regal mit ebenso fast leeren Pappkartons mit ein paar Schokoriegeln.
Julius beugte sich naserümpfend über die Süßigkeiten. Ach, guck mal. Heißt das nicht inzwischen Twix?
Hinter der Kasse standen ein abgewetzter Lederdrehsessel, ein Radio mit einem zur Antenne gebogenen Drahtkleiderbügel und ein klobiger Computerbildschirm samt Tastatur voller Zigarettenasche. An der Wand dahinter platzte ein großes Tabakwarenregal regelrecht aus allen Nähten.
An den Wänden hingen zwischen den Regalen Werbeplakate und Kalender längst vergangener Zeiten. Fast ausnahmslos textilarme, junge Frauen schmiegten sich an Allwetterreifen oder räkelten sich auf Mofatanks und Autokühlerhauben. Ein fleckiges, großes Pappdisplay über der leeren Eistruhe zeigte Flutschfinger, Brauner Bär und Düsenjäger. Die bunten Farben der abgebildeten Eissorten waren verblasst, aber Herbie hatte den künstlichen Geschmack von damals sofort wieder auf der Zunge.
Dies war eine Tankstelle aus seiner Jugendzeit. Es sah aus wie damals, es roch wie damals, und selbst die kleinen, metallenen Schellen, die von der Tür in Schwingung versetzt worden waren, verbreiteten den scheppernden Klang von damals.
Was war geschehen? Wo war die Zeitmaschine?
Mach den Mund zu.
»Julius, das ist … ich bin … All diese Dinge kenne ich. Es ist so … Wie kann es sein, dass diese Tankstelle überlebt hat?«
Julius sah sich seufzend um. Nun, du weißt doch: Schönes bleibt.
»Guck mal hier, Julius! Das Yps-Heft mit der Fliegenschreck-Pistole!«
Du siehst mich schlichtweg überwältigt.
»Ich hatte damals die Urzeit-Krebse. Die sind mir eingegangen.«
Ja, wem nicht. Julius räusperte sich vernehmlich. Sosehr dich auch die Nostalgie gefangen genommen zu haben scheint, darf ich daran erinnern, dass deine Tante ungeduldig auf ihren Benz wartet? Sicherlich findest du hier irgendwo ein Branchen-Telefonbuch, aber ich fürchte, dass die Fachleute, die du darin zu finden hoffst, inzwischen alle längst das Zeitliche gesegnet haben.
»Dolomiti«, hauchte Herbie und strich mit der Hand ehrfürchtig über die Eis-Papptafel.
Du brauchst einen Plan, Herbert Feldmann!
Die Türglocke schepperte, und Herbie drehte sich um. Er zeigte immer noch das sehnsuchtsvolle Lächeln, das ihm die Erinnerung auf die Lippen gezaubert hatte.
Die Frau, die eintrat, lächelte zurück. Als sich um Herbie der Nebel seiner Kindheitserinnerungen lichtete, glaubte er zuerst, die junge Frau mit dem Pferdeschwanz sei zurückgekommen. Aber zwischen ihr und der Gestalt, die sich dort lächelnd im Türrahmen materialisierte, konnte es keine Verwechslung geben. Sie hatte schulterlanges, glattes Haar, das beinahe zu blond schien, um echt zu sein. Ihr Lächeln war eines, das diesem Gesichtsausdruck den Namen gegeben haben musste. Über der sinnlich aufgeworfenen Oberlippe hatte sich dabei ein niedliches, kleines Grübchen gebildet. Ihre Augen verengten sich in strahlender Heiterkeit.
»Hallo«, sagte sie und sah sich suchend um. »Wo ist denn der Horst?«
Alle Frauen fragen nach Horst. Der scheint ganz schön beliebt zu sein, der Bursche.
Jenny hielt das Glas gegen die Sonne. Der Wein hatte eine schöne Farbe. Jetzt hatte sie doch mehr ins Glas geschüttet, als sie sich das vorgenommen hatte. Aber ein Glas war ein Glas – egal, wie voll es war. Nur ein Glas!
Sie trank. Es tat unglaublich gut.
Ihr Blick wanderte durch die Gardine des Küchenfensters zum Haupthaus hinüber. Hinter dem Erkerfenster erkannte sie Ketchens Umrisse. Dort saß sie oft stundenlang. Wenn sie nicht im Haushalt herumwerkelte, arbeitete die alte Frau am Computer. Da war sie in ihrem Element. Sie beobachtete das Börsengeschehen und passte mit großem Geschick die Momente ab, in denen es zu handeln galt.
Börse … Jenny trank noch einen Schluck. Warum konnte sie nicht so was? Das war doch kein Hexenwerk. Man konnte das doch lernen.
Wenn sie Ketchen dort oben sitzen sah, wurde ihr so oft ihre eigene Unzulänglichkeit bewusst. Was konnte sie überhaupt? Was hätte aus ihr werden können, wenn sie das Abi gemacht, irgendwas studiert, irgendeinen gut bezahlten Job angenommen hätte
Sie trank das Glas leer.
Nur eins.
Obwohl … es war ja nicht ganz voll gewesen.
Sie schüttete zwei Finger breit Wein hinein und trank ihn rasch aus, sodass es sich anfühlte, als wäre er gar nicht drin gewesen.
Dann nahm sie ihr Handy und schrieb eine SMS an Jogi.
Hast du an die Bank gedacht?, schrieb sie.
Augenblicklich kam die Antwort: Klar!
Jenny lächelte. Was würde sie ohne Jogi machen?
Aus dem Nebenraum drangen leise, grunzende Geräusche zu ihr herüber. Da wurde jemand wach.
Und ohne Jonte. Was würde sie ohne Jogi und ohne Jonte machen? Sie tippte ins Handy: Bis gleich. Und sie hängte drei Sonnen-Icons dahinter.
Sie war eine glückliche Frau.
Ihr fehlte nichts!