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5. Kapitel

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Herbie und Julius trotteten die schmale Straße entlang, die sich zwischen den Feldern und Ansammlungen von allerlei Buschwerk hindurchwand. Der Mais stand schulterhoch, das andere Getreide war bereits abgeerntet. Als sie eine kleine Anhöhe hinter sich gelassen hatten, war die Tankstelle aus ihrem Blickfeld verschwunden. Dafür sahen sie jetzt, wie der vor ihnen liegende schmale Asphaltstreifen in der Ferne geradewegs auf eine Ansammlung von größeren Gebäuden zulief. Einige davon waren langgestreckte Stallungen mit großflächigen, hellgrauen Dächern. Dazugehöriges Vieh sahen sie nirgends. Ein alter Siloturm war halb vom Efeu überwuchert. Das musste Kaltwassers Aussiedlerhof sein. Von dort aus konnte die Autobahn nur noch einen Steinwurf entfernt sein. Man konnte den Verkehr bis hierher hören.

Etwa auf halber Strecke zwischen ihnen und dem Hof standen das Treckermonster und der weiße Hyundai mitten auf der Straße. Hier gab es offenbar keinen Verkehr, den sie behindern würden. Der Bauer hatte seine Tochter dazu gedrängt, ihm zu der Fundstelle zu folgen, und sie waren kurz nacheinander losgefahren.

Und warum dackelst du jetzt hinterher? Julius stolzierte neben Herbie durch das kniehohe Gras des Wegesrands und hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt. Die Gräser tanzten um seine graue Tuchhose. Er sah aus wie ein Großgrundbesitzer beim Abschreiten seiner Ländereien.

»Wegen der verdammten Waschanlage. Fee hat gesagt, ihr Vater könne mir vielleicht helfen. Jetzt hat er aber erst mal seinen Römerschädel. Vielleicht kann ich ihn ansprechen, wenn er sich zu Ende gefreut hat.«

Hm, na klar. Es hat natürlich gar nichts mit der jungen Dame zu tun.

»Quatsch.«

Natürlich, Quatsch. Es klang unverhohlen spöttisch.

»Ich habe jetzt andere Sorgen, Julius.«

Selbstverständlich.

»Wirklich.«

Klar.

Sie erreichten die geparkten Fahrzeuge und blickten sich um. Weder von Fee noch von ihrem Vater war etwas zu sehen.

»Wo sind sie hin, Julius? Rechts oder links von der Straße?«

Ruf doch mal was Römisches.

In diesem Moment war undeutlich eine Stimme zu hören, und Herbie folgte ihr, indem er sich zur Rechten durch das niedrige Gestrüpp schlug.

Donnerwetter, das nenne ich mal eine Aussicht.

Herbie hielt einen Moment inne und ließ den Blick in die Ferne schweifen. Dies war ein wirklich außergewöhnlicher Platz. Von einem Moment auf den nächsten standen sie an einer Stelle, an der Herbie von niemandem mehr gesehen werden konnte, aber dafür hatte man über die etwas weiter unten verlaufenden Weißdornhecken hinweg einen beeindruckenden Weitblick.

»Aber ja, glaub mir. Siehst du, Kind, genau deswegen haben sie hier ihre Toten begraben«, wurde jetzt die Stimme des Bauern deutlicher. Als sie einen Busch umrundeten, sahen sie, wie er eine weitschweifige Bewegung mit dem rechten Arm machte. »Der ideale Platz. Ich verwette mein letztes Hemd darauf, dass hier noch weitere Gräber sind. Man muss nur suchen. Man muss hier endlich graben!« Er wies in Richtung Norden. »Da hinten ging die Römerstraße lang. Das sind nur ein paar Kilometer. Hier haben sie gelebt. Wo die Grabstätten sind, war auch die Siedlung, ich bin mir sicher.«

Seine Tochter beschattete den Blick mit der flachen Hand. »Ich glaube dir ja, Papa.«

»Wenigstens du.«

Als Herbie sich näherte, fuhren ihre Köpfe herum.

Fee lächelte erfreut. »Na, neugierig geworden?«

Julius grunzte vergnügt. Ich bitte Sie, Frolleinchen, Neugier ist sein zweiter Vorname. Herbert Neugier Feldmann von Naseweis, geborener Vorwitz.

»Ach nein«, sagte Herbie abwehrend. »Ich habe da nur dieses Problem, Sie wissen schon. Und Sie sagten, Ihr Vater …«

»Ach ja, stimmt, Papa. Da ist irgendwas mit der Waschanlage, und …«

»Jaja, soll der Horst sich drum kümmern. Ach nein, der ist ja …«

Fee, Herbie und Julius sagten im Chor: »Im Krankenhaus.«

»Kann der Cedric-Dingenskirchen nicht helfen?«

Fee schüttelte den Kopf. »Das Auto ist eingeklemmt. Ich fürchte, das übersteigt seine Fähigkeiten.«

»Oh, Mist. Ja gut, ich sage dem Jogi Bescheid«, brummte der Bauer und guckte auf die Armbanduhr. »Der müsste gleich von der Schicht kommen.« Es war deutlich erkennbar, dass ihn im Moment nichts auch nur annähernd so sehr interessierte wie sein jüngster historischer Fund. Er machte zwei Schritte auf Herbie zu und fasste ihn beim Oberarm. »Guck dir das mal an, Junge.« Mit sanfter Gewalt zog er ihn an den Rand einer kleinen Bodenwelle und deutete auf die aufgewühlte Erde dahinter. »Es muss beim Gewitter vorletzte Nacht passiert sein. Da ist ordentlich was runtergekommen. Siehst du, da vorne sieht man, wo das Rinnsal von der Straße runtergelaufen ist. Und auch da und da hinten auch noch. Und das muss hier alles freigespült haben.«

Zu ihren Füßen waren offenbar erst kürzlich einige Vertiefungen entstanden, die ganz frisch aussahen. Es war die einzige Stelle ringsum, an der kein Gras mehr stand. Das Erdreich war lehmig und feinkörnig. In den Kuhlen stand der getrocknete Schlamm in handtellergroßen, erstarrten Pfützen. Gelblich-bleich ragten an einer Stelle einige Knochen daraus empor. Sie waren schlank und länglich und lagen parallel zueinander. Es gab keinen Zweifel daran, dass es sich hier um einen Brustkorb handelte.

Julius reckte den Kopf vor und blickte nach unten. Sieht aus wie Kasseler Rippchen mit Püree und Sauerkraut, nur ohne Sauerkraut und ohne Püree. Und abgenagt sind sie auch noch.

Wenn das, was Herbie hier in der Kuhle erkennen konnte, alles gewesen wäre, hätte Herbie nicht sagen können, ob es sich um die Knochen eines Tieres oder eines Menschen handelte. Aber der Schädel, den der Bauer in dem schmutzigen Stoffbündel in seiner Linken hielt, sprach für sich.

Herbie ging in die Hocke, reckte den Arm hinunter und strich mit den Fingern über eine der Rippen. »Römer? Sind Sie sicher?«

»Ja klar«, blaffte der Bauer. Er schien kein Freund gegenteiliger Meinungen zu sein.

»Aber müsste man nicht eigentlich die Polizei …«

»Blödsinn!« Er fuhr mit der Rechten in die Tasche seiner ausgebeulten Cordhose und förderte ein paar kleine Gegenstände zutage. Einen davon schüttelte er sich zwischen Daumen und Zeigefinger und drückte ihn Herbie in die Hand. Es war ein kleines, annähernd rundes Stück Metall mit schartigem Rand und grob geprägten Linien und Zeichen auf beiden Seiten. Eine römische Münze.

»Guck hier, Constantin der Zweite«, sagte der Bauer. »Vermute ich. Ist stark zerkratzt.«

»Stimmt, kann man kaum erkennen«, murmelte Herbie und hielt sich die Münze ganz dicht vor die Augen.

»Kannst du behalten, ist nicht viel wert. Hier, lauter Zeug aus meinem Boden.« Auf der flachen Hand des Mannes lagen kleine Tonscherben, rostige Metallhaken und weitere Münzen. »Finde ich hier jeden Tag. Da brauch ich nicht mal so ein Suchgerät für wie die Tünnesse aus der Stadt, die hier am Wochenende immer rumdödeln.« Der Bauer ließ die Gegenstände wieder in seine Hosentasche gleiten und zog stattdessen ein Handy aus seiner Weste. An seine Tochter gewandt sagte er ernst: »So, und jetzt werde ich diesen Dr. Schircher in Trier anrufen. Dieses verdammte Großmaul wird auf den Knien angerutscht kommen und mich um Entschuldigung bitten.« Er hielt das Handy in die Höhe und guckte mit zusammengekniffenen Augen auf das Display. Auf der Suche nach einem besseren Empfang ging er ein paar Schritte hügelaufwärts.

»Ihr Vater ist ja wirklich sehr überzeugt davon, dass das hier ein römisches Grab ist«, sagte Herbie, der immer noch am Rande der Vertiefung hockte.

»Oh ja, das ist er. Und ich glaube ihm.« Fee lächelte ihn an. »Seit ich denken kann, hat er meinem Bruder und mir prophezeit, dass er hier, auf unserem Grund und Boden, eines Tages eine archäologische Sensation freilegen würde.«

»Was kann das denn sein? Eine römische Siedlung ist doch nichts Besonderes in der Eifel.«

Ich kenne mich ja nicht aus mit Römern. Julius kratzte sich am Bart. Ich weiß nur, dass sie alle riesige Knollennasen hatten und in Zeltstädten wohnten, die Kleinbonum, Laudanum oder Babaorum hießen.

»Das stimmt schon, römische Siedlungen gibt es genug in der Eifel. Es gibt die Villa in Blankenheim, die in Bad Neuenahr, die Villa Otrang und was weiß ich noch wo. Mein Vater glaubt aber, dass das, was hier begraben liegt, viel, viel größer ist als alles andere, was bis jetzt gefunden wurde.«

Und all ihre Namen endeten auf die Silbe us. Wie bei mir.

Gedankenverloren stupste Herbie mit der Schuhspitze gegen ein Knochenstück, das neben der glatten, runden Höhlung aus der Erde ragte, in der eindeutig der Schädel gesteckt hatte. »Wer ist denn dieser Dr. Schircher, den Ihr Vater jetzt anrufen will?«

Sagte ich schon, dass er schrecklich neugierig ist?

»Vor drei, vier Jahren hat Papa einen Archäologen aus Trier beauftragt. Einen Dr. Schircher. Ziemlich komischer Typ. Ganz anders, als man sich einen Archäologen so vorstellt. Ich habe ihm von Anfang an nicht getraut. Papa hat richtig viel Geld vorgeschossen. Das muss man sich mal vorstellen, er hat das alles finanziert. Jeden zweiten Tag kam dieser Schircher und sagte, wir brauchen noch dies und das. Hier muss noch ein Gerät ausgeliehen werden und da noch Werkzeug beschafft werden …«

»Klingt ein bisschen unseriös.«

»Und wie. Und nach ein paar Wochen gab es dann einen schlimmen Streit, weil dieser Schircher der Meinung war, das wirklich interessante Gelände läge eigentlich weiter da hinten, wo die Ahekapelle steht, und gar nicht hier auf dem Land meiner Familie. Und es wäre mittlerweile für immer und ewig unter der Autobahn begraben. Da ist Papa dann ausgerastet.« Sie kaute nachdenklich auf der Unterlippe und senkte kurz den Blick. »Mein Vater rastet öfter schon mal aus.«

Herbie wusste nicht, was er sagen sollte. Er guckte in die Richtung, in die sie gezeigt hatte.

»Es wäre vielleicht nicht so schlimm gewesen, wenn mein Vater nicht in den Siebzigern das ganze Land für den Autobahnbau verkauft hätte. Ausgerechnet!« Fee lächelte säuerlich. »Das muss man sich mal vorstellen: Mein Papa hat womöglich damals die ganze kostbare Historie, nach der er so verzweifelt sucht, verscheuert, damit dann meterdick der Asphalt drübergewalzt wurde. Ich glaube, schon allein für die Aussicht, dass das Schicksal ihn so gelinkt hat, hätte er diesen Archäologen am liebsten ordentlich vertrimmt.«

»Aber wären solche historischen Funde denn nicht bei den damaligen Baumaßnahmen ans Tageslicht gekommen?«

Fee blies geräuschvoll die Luft aus. »Na, hören Sie mal! Wenn der Verkehr rollen soll, interessieren die sich doch nicht für ein paar alte Gürtelschnallen und Tonpötte.«

Herbie dachte daran, dass diese Dinge womöglich in der damaligen Zeit wirklich nicht so eine große Rolle gespielt hatten. Heute wurde hingegen die Fertigstellung der letzten fünfundzwanzig Kilometer Autobahn nicht zuletzt dadurch verhindert, dass in den Neunzigern auf der geplanten Trasse ein einziges totes Haselhuhn gefunden worden war.

Fee zuckte mit den Schultern und seufzte. »Na ja, und dann ist dieser Schircher bei Nacht und Nebel mit seinen Leuten abgehauen. Einfach so. Mein Vater hat das Geld nie wiedergesehen.«

»Das ist hart.«

»Allerdings nicht wegen des Geldes. Davon hat meine Familie mehr als genug.«

»Dieser Jogi, der mir helfen soll, ist das Ihr Bruder?«

»Nein, der Jogi lebt mit Frau und Kind in der alten Scheune des Hofs zur Miete. Er hilft meinem Vater ab und zu. Mein Bruder Tom ist ins Ausland gegangen, nachdem meine Mutter gestorben ist. Nach Marokko. Trekking-Touren für Möchtegern-Abenteurer. Da hat er sich ab und zu noch gemeldet. Einmal kam er sogar mal zu Weihnachten nach Hause, aber da hat es nur Stress mit meinem Vater gegeben. Dann ist er nach Thailand, und jetzt mogelt er sich schon ein paar Jahre in Südamerika durch, soweit ich weiß. Er ist nicht so für die Arbeit geschaffen, für Familie und festen Wohnsitz und so.«

Oh, redet sie von dir?

»Südamerika … Weiter weg von der Eifel geht kaum, oder?«

»Allerdings.«

»Habt ihr Kontakt?«

Sie schüttelte mit betretener Miene den Kopf. »Nur bei meiner Tante Ketchen meldet er sich ab und zu. Das darf mein Vater aber nicht erfahren, sonst macht er Rabatz.«

»Verstehe. Entschuldige, ich wollte nicht indiskret sein.«

Julius prustete. … sprach Herbert Neugier Feldmann von Naseweis, geborener Vorwitz von und zu Indiskret und Taktlos.

Der Bauer kehrte in diesem Moment zurück und schnaubte verärgert. »Hat wohl eine neue Nummer, der Knilch. Aber der hätte von mir sowieso keinen Auftrag mehr gekriegt. Dieses Mal werde ich mich an das Archäologische Institut in Köln wenden.« Er klopfte Herbie, der in diesem Moment wieder aus der Hocke hochkam, auf die Schulter. »Ich bin übrigens Herbert Kaltwasser. Kannst Hepp sagen. Sagen alle.«

»Herbert? Lustig, ich auch. Herbie. Herbie Feldmann«, sagte Herbie und hielt ihm lächelnd das Knochenstück entgegen, das er soeben aufgelesen hatte.

»Tja, blöd, das mit deinem Auto«, sagte Hepp. »Kriegen wir aber hin. Überhaupt Mist, auch das mit dem Horst und der Tankstelle. Irgendwer müsste da einspringen, wenn jetzt die Graberei wieder losgeht. Ich meine, dann ist doch hier was los. Die Archäologen-Crew, die Presse, das Fernsehen und all so was. Weißt du zufällig, wer sich was dazuverdienen will, solange der alte Trottel im Krankenhaus ist? Wie wär’s denn mit dir? Würde ich mir durchaus auch ein bisschen was aus der eigenen Tasche kosten lassen.«

Herbie kaute auf der Unterlippe. »Zeit hätte ich ja«, murmelte er.

»Das wäre ja schön. Da wäre das Problem ja schnell gelöst.« Fee strich sich eine blonde Strähne hinter das linke Ohr und lächelte ihn an.

»Meine Schwester macht das gleich mit den Papieren und so. Nix Großes. Wir stellen dich als Aushilfe auf dem Hof an, und wenn der Horst zurückkommt, regle ich das schon mit dem.« Hepp klopfte ihm auf die Schulter.

»Jetzt scheint es hier ja richtig turbulent zu werden«, sagte Herbie, und gerade als Hepp Kaltwasser wieder mit großer Geste ausholen wollte, um das Szenario der anstehenden archäologischen Grabungen zu beschreiben, fiel sein Blick auf den Knochen in Herbies Hand.

»Oh, der Unterkiefer«, sagte er. »Hm, wir sollten besser nicht noch mehr von diesen Knochen da rausholen.« Er nahm ihn an sich und fasste seine Tochter im nächsten Moment ungestüm um die Hüfte. »Und jetzt stoßen wir an. Ich muss dringend Ketchen Bescheid sagen. Komm mit, Herbie, wir machen eine Pulle auf. Und dann kommen wir zurück und decken hier alles mit Plastikplanen und Schaltafeln ab!«

Sie gingen zurück zu den Fahrzeugen, und Fee sagte: »Ich nehm dich mit. Es sei denn, du willst Trecker fahren.«

Herbie hatte nicht nur überaus wenig Lust, in ein Gefährt zu steigen, dessen Räder größer waren als er selbst, es bereitete ihm auch viel mehr Vergnügen, neben der Tochter zu sitzen als neben dem Vater.

Julius saß wie immer auf dem Rücksitz und lehnte sich breit grinsend mit den Ellenbogen zwischen Herbie und Fee auf deren Sitzlehnen. Tut so, als wäre ich gar nicht da.

Es gab häufig Gelegenheiten, bei denen Herbie sich wünschte, sein Begleiter würde mal für ein paar Momente verschwinden, aber so gut wie nie tat ihm Julius dann auch diesen Gefallen. Eine solche Gelegenheit wie jetzt ließ sich der blasierte, fette Kerl niemals entgehen.

Ein Grab für zwei

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