Читать книгу Ein Grab für zwei - Ralf Kramp - Страница 12
4. Kapitel
ОглавлениеDie junge Frau zeigte nach draußen. »Säule zwei.« Julius runzelte die Stirn. Nun sieh mal einer an. Es hieß doch, hier tanke niemand.
Erst jetzt sah Herbie den weißen Hyundai an der Zapfsäule. Er hatte ein Frankfurter Kennzeichen.
»Der Rost-Horst?«, fragte sie noch einmal. »Ist er nicht da?«
Mein lieber Freund, so kommen wir nicht weiter. Julius schüttelte ernst den Kopf. Zuerst haut dich der Anblick von antikem Eis am Stiel aus den Pantinen, und jetzt kriegst du eine Maulsperre wegen dieses blonden Mäuschens.
»Der Rost-Horst?«
»Horst. Der Tankwart. Rost-Horst. Wo ist er?«
»Der Horst ist im …«, sagte Herbie mit rauer Stimme. »… im … im …«
Im Krankenhaus.
»… im Krankenhaus.«
»Ach du Schande, hoffentlich nichts Schlimmes.« Es klang fast beiläufig. Sie schien nur wenig Anteil zu nehmen, sondern widmete sich ihrem Portemonnaie und zog eine Kreditkarte hervor. Im nächsten Moment lachte sie auf. »Ach Quatsch, ihr habt ja kein Karten-Terminal!« Dann zog sie einen Hunderter heraus. »Sorry, ich hab’s nicht kleiner.«
Herbie betrachtete ihre zierliche Figur. Sie trug eine enge Jeans und ein türkisfarbenes T-Shirt mit einer Aufschrift, die so verschnörkelt war, dass er sie nicht entziffern konnte. Irgendwas Englisches, das mit You are … anfing. Sie strich sich eine Strähne hinters Ohr. Ihre spitze Nase war einfach bezaubernd. You are a … Man konnte es nicht lesen, ohne ihr auf die Brust zu starren.
You are a Volldödel. Steh da nicht so rum! Sag was!
Sie wedelte mit dem Geldschein. »Na, was ist?«
In diesem Moment kam der Praktikant hereingedackelt. »Mblmbltagfraukaltwasser.« Er schlurfte hinter die Kasse und tippte darauf herum.
Die Frau strahlte Herbie wieder an, und über ihren Mundwinkeln bildeten sich zwei niedliche, runde Bäckchen. »Sorry, ich habe gedacht, Sie gehören hier dazu.«
You are völlig weggetreten!
»Mblmblachtundsechzigsiebzig.« Cedric-Maurice nahm den Hunderter mit einem sorgenvollen Blick entgegen und begann damit, verschiedene Münzen geräuschvoll zwischen den Fächern der Kassenschublade hin und her zu sortieren. Unentschlossen nahm er mehrere unterschiedliche Scheine heraus, ließ sie von einer Hand in die andere und wieder zurück wandern und murmelte während der ganzen Prozedur unverständliches Zeug vor sich hin.
Die junge Frau wandte sich zu Herbie um und schenkte ihm erneut ein Lächeln. Sie deutete mit dem Kopf in Richtung Cedric-Maurice und verdrehte die Augen.
»Tanken Sie hier öfter?«, versuchte sich Herbie zaghaft im Smalltalk.
Julius seufzte gepeinigt auf. Aber natürlich. Das ist die Kult-Tanke, und die Leute kommen aus Frankfurt, Peking und Sao Paolo, um hier zu tanken, egal, wie hoch der Spritpreis ist.
»Meine Familie wohnt hier«, sagte sie. »Weiter die Straße runter, zum Kaltwasserhof muss ich. Ich komme aus Frankfurt zu Besuch. Bin auf Abruf und muss unter Umständen schon morgen oder übermorgen um fünf Uhr früh wieder los. Aber egal. Für ein paar Tage zuhause nehme ich das in Kauf. Da dachte ich, ich tanke schon mal vorsichtshalber, dann hab ich’s hinter mir.«
Der Praktikant probierte offenbar verschiedene Rechenarten durch. Julius schaute ihm dabei über die Schulter und schüttelte den Kopf.
»Ja, und ich muss hier ein Auto aus der Waschanlage befreien«, sagte Herbie. »Festgeklemmt.«
Sie zog fragend die Augenbrauen in die Höhe. »Wie macht man das?«
»Es sind die Sittiche.«
Ihr Gesichtsausdruck wurde immer überraschter.
»Wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht so richtig weiter. Das Auto gehört meiner Tante, und ich kann nicht gerade sagen, dass ich handwerklich besonders begabt bin.«
Schau mal, der Knabe scheint beim Satz des Pythagoras angelangt zu sein.
Der jungen Frau schien es jetzt lange genug gedauert zu haben. Sie ging mit resoluten Schritten zu dem Praktikanten hinter die Theke und machte sich mit geübten Handgriffen an der Kasse zu schaffen. »Ich darf das«, sagte sie beiläufig. »Meinem Vater gehört die Tankstelle. Herbert Kaltwasser.«
»Ach so, ich dachte dieser Rost-Horst …«
»Ist der Pächter. Schon ewig.« Sie entnahm der Schublade Scheine und Münzen, schloss sie wieder, rupfte die Quittung ab und klopfte dem Praktikanten auf die Schulter. »Lernst du noch.« Dann kam sie wieder hinter der Kasse hervor. »Ich bin Fee«, sagte sie und streckte Herbie die Hand entgegen.
Er zögerte einen Moment, sah keinen Ring und drückte sie schließlich. »Fee?«
»So heiße ich.«
»Fee.«
»Bisschen ungewöhnlich, ich weiß.«
»Fee. Schön.«
Sag mal, hörst du dir eigentlich manchmal selber zu?
»Vielleicht kann Ihnen mein Vater irgendwie helfen. Der hat sowieso immer Langeweile. Der ist ja vielleicht sogar froh, wenn er …« Sie unterbrach sich, als draußen Motorenlärm laut wurde. »Ach, sieh mal an, da kommt er ja.«
Ein gewaltiges Ungetüm von einem Trecker rollte auf den Platz. Die Fensterscheiben klirrten in ihren Einfassungen.
»Sie können wieder loslassen«, sagte sie lächelnd.
»Ich bin Herbie.«
Langsam entwand sie ihm ihre Hand. »Fein, Herbie. Das da ist mein Vater. Er kann Ihnen unter Umständen helfen, Ihren Wagen zu befreien.«
Julius war an die Glasfront getreten, hatte die Lippen gespitzt und die Hände auf dem Rücken zusammengelegt. Donnerknispel, hast du schon mal so ein Ungetüm gesehen? Dagegen ist ein deutscher Jagdpanzer ja ein Bollerwägelchen.
Der Trecker war wirklich gigantisch. Die sparsame Karosserie war grellgrün lackiert, der restliche Aufbau bestand aus überdimensioniert aussehenden, kraftstrotzenden Funktionsteilen. Die mattschwarze, wie angriffslustig nach unten geneigte Motorhaube sah aus wie der Helm eines Science-Fiction-Kämpfers, mit senkrecht verlaufenden Rillen, die an gefletschte Zähne denken ließen, und mit Scheinwerfern, die an Augenschlitze erinnerten. Die riesigen Räder hatten glänzende, feuerrote Felgen und ein Reifenprofil, in dessen Vertiefungen mühelos der muskulöse Arm eines kräftigen Mannes Platz fand. Zuvorderst ragte eine metallene Kupplung hervor wie eine Hand mit lockend gekrümmtem Zeigefinger.
»Du meine Güte«, hauchte Herbie. »Das Monstrum saugt ja alle Zapfsäulen leer.«
An seiner Seite lachte Fee leise auf. »Papas Lieblingsspielzeug. Ein Fendt 1050 Vario. Hat er sich vorletztes Jahr zum Siebzigsten geschenkt. 517 PS, 14 Tonnen Leergewicht.«
Aber ihr Vater schien nicht zum Tanken angehalten zu haben.
Als sich die Tür des Führerhauses öffnete, schwang sich ein nicht besonders groß gewachsener, rundlicher Mann mit überraschender Behändigkeit heraus, sprang vom Trittrost in die Tiefe und eilte auf die Eingangstür zu. Seine Kleidung war dreckig und zerschlissen, die geflickte Cordhose und das karierte Hemd waren übersät von Farb- und Ölflecken.
Diesem Mann gehörte also diese Nostalgie-Tankstelle mitten im Nirgendwo. Warum besaß man so etwas?
Fee öffnete ihm die Tür und fiel ihm um den Hals. »Dicker, dreckiger Papa«, rief sie munter und drückte ihm einen Kuss auf die rot durchäderte Wange.
Das Gesicht war braun gebrannt, das Kinn stoppelig und die Augenbrauen und der Haarkranz, der seine Halbglatze umwucherte, so zerzaust wie ein Vogelnest. »Liebchen, du bist schon da?«, fragte er überrascht.
»Ja, ich wollte dem Verkehr aus dem Weg gehen. Schlimm?«
Er lachte. »Von wegen. Toll ist das. Toll!« Er packte sie um die Hüfte und küsste sie auf die Wange.
»Der Horst!«, rief er laut. »Wo ist der Horst?«
»Im Krankenhaus«, sagten Fee, Herbie und Julius gleichzeitig.
»Mblmblrankenhaus«, kam es verzögert von Cedric-Maurice.
»Was Ernstes?«, fragte jetzt auch Fees Vater, genauso beiläufig wie seine Tochter wenige Momente zuvor. Keiner schien echtes Mitgefühl mit dem Tankstellen-Pächter zu haben. Er wartete keine Antwort ab. »Kommt mal her, kommt mal her! Das müsst ihr euch ansehen!« Er steuerte die Theke an und legte ein rundliches Bündel auf die abgeschabte Resopalplatte, das er bis jetzt unter den Arm geklemmt hatte. Es war ein lehmverschmierter Lappen, dessen Zipfel er jetzt langsam auseinanderfaltete.
Julius sah, wie Fee ihr T-Shirt abklopfte und auf Flecken untersuchte, und rümpfte die Nase. Alles, was mit diesem Mann in Berührung kommt, scheint unweigerlich eine Dreckkruste zu kriegen.
»Guck mal hier, mein Kind. Ich freue mich so, dass du die Erste bist, die das zu sehen kriegt.« Er fasste das Tuch mit großer Vorsicht an. Seine dicken, schrundigen Finger mit den dreckigen Nägeln hielten die Zipfel, als gelte es, ein zerbrechliches Kunstwerk oder eine Kostbarkeit aus Porzellan zu enthüllen. »Weißt du, dein Vater spinnt überhaupt nicht, mein Kind. Dein Vater spinnt ganz und gar nicht. Der hat jahrelang immer den richtigen Riecher gehabt. Die Römer waren hier.«
Fee seufzte auf. »Och Papa, es sagt doch keiner, dass die Römer nicht in der Eifel waren, aber …« Sie legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Hier!«, sagte er mit einem Mal sehr laut. »Hier, genau bei uns waren sie!« Weitere mögliche Einwände wischte er mit einer ruppigen Handbewegung beiseite. Dann schlug er den Stoff vollends zurück. Der Gegenstand, der jetzt zutage trat, war gelblich, rund und erdverkrustet.
König Midas, nur mit Dreck statt Gold. Alles, was er anfasst, wird zu Lehm.
»Die Römer waren hier«, sagte der Mann jetzt ganz leise, fast flüsternd. »Ich habe es immer gewusst. Sie haben hier auf unserem Land gelebt, sie haben hier geliebt, wurden hier geboren, haben hier gearbeitet …« Er hob den runden Gegenstand fast zärtlich aus dem Stoffbündel. »Und sie sind hier gestorben und sind hier begraben worden.«
Fee stieß einen leisen Schreckenslaut aus, der Praktikant ließ sein Handy fallen, und auch Herbie starrte verblüfft auf das Ding, das Fees Vater jetzt mit großer Geste, wie ein alter, aus der Form geratener Hamlet in der ausgestreckten Hand präsentierte.
Das Kerlchen sieht aber nicht gesund aus. Andererseits, wenn ich zweitausend Jahre in der Eifelerde liegen würde, hätte ich vermutlich einen ähnlich freudlosen Gesichtsausdruck. Julius rieb sich nachdenklich seine Nase.
Das, was der Bauer da ehrfurchtsvoll in seinen Händen hielt, war ein menschlicher Schädel.