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Alma

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Nachdem die letzte Kneipe nachts um drei Uhr geschlossen hatte, ging Rubin total betrunken nach Hause. Die Stille in seinem kleinen Zimmer in der Weidenhäuser Straße war für ihn so unerträglich, dass er beschloss, seinem Leben ein Ende zu setzen.

Von einer alten Holzbrücke über die Lahn zwischen Weidenhäuser Brücke und dem Universitätsstadion hatte man einen wunderbaren Blick auf das Landgrafenschloss und die Oberstadt. Dieser Blick sollte das letzte Bild sein, das Rubin von dieser Welt in sich aufnahm, an dieser Brücke wollte er sich aufhängen, endgültig diese grausame Welt verlassen, damit die unerträglichen Qualen endlich ein Ende hatten. Ruhe finden, das war seine einzige Sehnsucht.

Rubin, versau dir nicht dein Leben!

hatte seine Mutter zu ihm gesagt, als er mit seiner ersten Freundin auf sein Zimmer ging. Sie konnte es natürlich nicht ahnen, dass dies der Tag in seinem Leben werden sollte, an dem seine Qualen ihren Anfang nahmen, allerdings auf eine völlig andere Art und Weise als seine Mutter es wahrscheinlich gemeint hatte.

Er hatte Alma, so hieß seine erste Freundin, auf einer Silvesterparty kennen gelernt. Sie hatten die halbe Nacht eng umschlungen miteinander getanzt, dabei hatte Alma, die wesentlich kleiner war als Rubin, ihren Kopf an seine Brust geschmiegt und mit ihren Beinen seinen rechten Oberschenkel eng umschlungen und im Wiegeschritt der Musik und des Tanzes ihre Muschi an seinem Oberschenkel gerieben. Gelegentlich hob sie ihren Kopf und schaute Rubin mit schmachtenden Augen an. Die meisten anderen Jungen hätten sich in dieser Situation wahrscheinlich sehr wohl gefühlt und sich auf das gefreut, was diese Situation eindeutig vorausahnen ließ. Doch Rubin war das, was er da in seiner Hose spürte, außerordentlich unangenehm. Von Anfang an war er hin und hergerissen zwischen dem Verlangen nach Liebe, verbunden mit zärtlichen Blicken und Streicheleinheiten, und der Gier der sexuellen Lust.

Es geht darum, den Menschen die Herrlichkeit des Lebens zurückzugeben. Aber wie ist das möglich in einer Welt, in der der Mensch in einen engen Rahmen gepresst wird. Wie ist das möglich, wenn die Unterscheidung bei der Schwere der Sünden wichtiger ist als die Frage nach einem gelungenen Leben.

Die Menschen sind eingeengt durch einen Rahmen, der so sehr beschränkt und begrenzt, dass ein selbstbestimmtes glückliches und zufriedenes Leben kaum noch möglich zu sein scheint. Doch es gibt eine einzige Möglichkeit: der Mensch muss aus dem Rahmen fallen.

Rubin hatte sehr wohl verstanden, was der Pastor gemeint hatte, als er von Selbstbeschmutzung und schwerer Sünde sprach.

Bevor ich zu meiner Frau gehe, segne ich sie

hatte der Pastor im Unterricht erklärt. Sexualität war für Rubin auf diese Weise zu einer heiligen Angelegenheit geworden, die es selbstverständlich nur in der Ehe geben durfte; ja selbst in der Ehe diente sie ausschließlich dazu, Kinder zu zeugen und durfte niemals mit sexueller Gier verbunden sein. Rubin war sogar davon überzeugt, dass die Zeugung von Kindern im Schlaf passieren würde. Wenn zwei Menschen sich innig lieben und nachts eng umschlungen schlafen, dann wird der Penis des Mannes, im Schlaf wohlgemerkt, in die Vagina der Frau eindringen und sie befruchten, sodass die Schwangerschaft für beide Eheleute eine Überraschung und ein Geschenk ist.

Auf diese Weise war die Pubertät für Rubin zu einer großen Belastung, ja sogar zu einer grausamen Zeit geworden. Immer wieder musste er gegen die ungewollten sexuellen Phantasien, die über ihn hereinbrachen, ankämpfen, ohne dass es ihm gelang, sie zu unterdrücken. Die Erektion, die er dabei verspürte, ließ seinen Penis so hart werden, dass er glaubte, er könnte jeden Moment platzen. Schlimmer noch waren die Kopfschmerzen, die durch die krampfhaften Bemühungen entstanden, diese sündhaften Phantasien zu unterdrücken. Gegen seinen Willen steigerte sich seine sexuelle Erregung, bis er es nicht mehr aushielt und seine Hose aufriss. Es dauerte dann nur wenige Sekunden, bis dieser unerträgliche Druck nachließ. Doch es war keine Befriedigung, sondern das Gefühl der Schande, der Scham und der Schuld, was Rubin in diesem Moment empfand. Wieder einmal hatte er versagt und er warf sich auf die Erde und flehte um Vergebung.

Das alles geschah in demselben Zimmer, in dem er nun mit Alma auf seinem Sofa saß. Die Küsse waren lang, heiß und innig und Rubin spürte eine angenehme Wärme in seinem Körper aufsteigen, bis Alma seine linke Hand nahm und sie sich auf ihre rechte Brust legte. Da war sie wieder, diese Zerrissenheit zwischen einem Gefühl der wohligen Wärme, das auf ihn den Eindruck machte, als würde er auf einer Wolke schweben und vom Rausch der Liebe davongetragen, und diesen rasenden Kopfschmerzen, die für ihn die Hölle auf Erden bedeuteten.

Almas knielanges Kleid war nach oben gerutscht, sodass ihre Oberschenkel bis zu den Strumpfbandhaltern sichtbar wurden; sie beugte sich nach vorne und der Reißverschluss an der Rückseite ihres Kleides starrte Rubin an und schrie:

Öffne mich!

Rubin lehnte sich zurück und hatte nur noch einen einzigen Gedanken:

Oh Herr, lass diesen Kelch an mir vorübergehen!

Alma drehte ihren Kopf immer wieder zu Rubin hin und auch ihre Augen sagten:

Nun mach endlich!

Vollkommen sprachlos und mit hoch rotem Kopf war Rubin geradezu erstarrt; die Minuten, die nun vergingen, kamen ihm wie Stunden vor, in denen er durch die Hölle ging. Er spürte dieses Verlangen nach Liebe und Geborgenheit, diese Sehnsucht sich in Almas Armen zu verlieren. Bevor er Alma kannte, hatte er oft gesungen:

Du hast im Himmel viel Englein bei dir, schick doch einen davon auch zu mir!

Dieses Englein saß nun neben ihm und verlangte etwas, was so gar nicht himmlisch war.

Wenn der Mensch erkennt, dass Gott ihn in all seiner Armut als einmaligen und einzigartigen Menschen geschaffen hat und dass er deswegen für ihn wertvoll ist, dann darf er sich selbst auch als wertvoll annehmen und seine Mitmenschen lieben wie sich selbst. Dann muss er nicht länger auf das Himmelreich warten, sondern es besteht für ihn das Himmelreich auf Erden.

Rubin war in einem Zustand der Erstarrung, geprägt von Angst, Panik und Verzweiflung; sein Gehirn schien sich zusammen zu ziehen, zu schrumpfen, alle Erinnerungen an die Dinge, die unmittelbar danach geschahen, wurden ausgelöscht. Tage später hat er die Beziehung zu Alma beendet, was er schon am darauf folgenden Tag bereute; er schrieb ihr einen langen Brief, in dem er sie um Verzeihung bat und in dem er seiner Bitte Ausdruck verlieh, ihre Beziehung fortzusetzen. Er erhielt keine Antwort, deshalb passte er sie am Tor der Firma ab, bei der sie ihre Ausbildung zur Kauffrau absolvierte; er flehte sie an, zu ihm zurück zu kehren, doch sie ließ sich nicht erweichen. Kurz darauf stellte Rubin fest, dass Alma längst einen anderen Freund hatte.

Rubin war 16 Jahre alt als er dieses für ihn so einschneidende Erlebnis hatte; danach wandte er sich endgültig von dieser Welt ab, die es so gar nicht gut mit ihm zu meinen schien. Er stellte einen Aufnahmeantrag bei einer Missionsschule in Wuppertal; den Rest seines Lebens wollte er als Missionar in Afrika verbringen; dieser Antrag wurde jedoch abgelehnt, da er noch nicht volljährig war. Es wurde ihm geraten, erst einmal das Abitur zu machen und anschließend Theologie zu studieren. Wegen der sogenannten Kurzschuljahre in den Jahren 1966 und 1967, Verlegung der Versetzung von den Osterferien auf die Sommerferien, wodurch zwei Schuljahre von je acht Monaten entstanden, machte Rubin bereits mit achtzehn Jahren sein Abitur und anschließend ging er nach Marburg zum Theologiestudium.

Rubin stammte aus einer Arbeiterfamilie und er war der Erste in seiner Familie, der es schaffte, an einer Universität zu studieren. Sein Großvater, den Rubin über alles geliebt hatte, war der uneheliche Sohn eines westfälischen Adeligen, der durch ständige Sauferei und Verschwendungssucht auffiel, sodass seine Familie ihn sogar entmündigen lassen wollte, was ihnen aber nicht gelang, weil der Freiherr nachweisen konnte, dass er nicht einmal die Zinsen seines Vermögens verprasste.

In Rubins Familie erzählte man sich, dass der Freiherr, wenn er mit dem Zug von seinen Sauftouren heimkehrte, jedes Mal die Notbremse zog, wenn sie sein Schloss erreichten, bis die Reichsbahn schließlich ein Einsehen hatte und dort einen Bahnhof einrichtete.

Rubins Urgroßmutter war eine Magd auf dem Schloss dieses Freiherrn und eines Nachts hat der Freiherr sie geschwängert, als er von einer seiner Sauftouren zurück kam. Später erklärte sich dieser Freiherr durchaus bereit, für Rubins Großvater zu sorgen, aber sein Großvater wollte nichts mit ihm zu tun haben, deshalb unterschrieb er eine Erklärung, dass er auch in Zukunft nie irgendwelche Forderungen gegen diese adelige Familie erheben würde.

Rubin bedauerte das sehr, denn wenn er diese Geschichten gehört hatte, träumte er doch manchmal davon, einen Adelstitel zu haben und ein Schloss zu besitzen, natürlich wusste er, dass das alles nur Spinnereien waren, aber ihm fiel auf, dass zumindest die Zuneigung zum Alkohol sich in seiner Familie fortsetzte. Sein Großvater stand auch noch als er in Rente war jeden Morgen um halb fünf auf und trank als erstes immer einen Korn, was sich über den ganzen Tag verteilt regelmäßig fortsetzte.

Rubins Familie besaß ein Zweifamilienhaus, in dessen Einliegerwohnung im ersten Stock sein Großvater lebte, außerhalb dieser Wohnung befand sich Rubins Zimmer und abends ging Rubin sehr oft zu seinem Großvater rüber und dann saßen beide stundenlang in der Küche. Rubin musste für seinen Großvater und sich selbst ein Glas Bier und einen Schnaps einschütten und dann fing sein Großvater an zu erzählen. Er erzählte zum Beispiel, dass er einmal an einer Parade vor dem Kaiser teilgenommen hatte, dass er mit seinem Pferdefuhrwerk in der nächtlichen Dunkelheit beinahe mal den Pfarrer überfahren hätte, der mitten auf der Straße besoffen nach Hause torkelte oder wie er im Hühnerstall mal von einem wilden Hahn angegriffen wurde.

Stundenlang konnte Rubins Großvater erzählen und Rubin war fasziniert von seinen spannenden Geschichten. Nur manchmal unterbrach sein Großvater seine Erzählungen und sagte:

Junge, du schüttest uns ja gar keinen mehr ein.

Schnell füllte Rubin die Gläser wieder auf und sein Großvater erzählte weiter. Wenn Rubin dann am nächsten Morgen eine Etage tiefer in der Küche seiner Eltern auftauchte, um vor dem Schulunterricht noch zu frühstücken, schaute seine Mutter ihn an und rannte wortlos nach oben. Rubin hörte sie nur schreien: „Was hast du wieder mit dem Jungen gemacht?“

Rubins Vater trank überhaupt keinen Alkohol, aber seine Mutter erzählte Rubin, dass er, als sie sich kennen lernten, sehr viel getrunken haben soll und dass er seit dem Tag ihrer Hochzeit nie wieder etwas getrunken habe. Rubin war sehr stolz auf seinen Urgroßvater und seinen Großvater, er war der Meinung, dass sie ihr Leben in vollen Zügen genossen haben.


Rubin

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