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Marita

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Es galt also, einiges nachzuholen. Die höllischen Qualen, die er ausgestanden hatte, dieses Hin- und Hergerissen sein zwischen seiner sexuellen Begierde und seinem Verlangen nach einem gottgefälligen Leben hatten endlich ein Ende. Nichts, aber auch gar nichts gab es mehr, das ihn hätte davon abhalten können, endlich seine sexuellen Gelüste auszuleben. Gleichzeitig wurde Rubin beherrscht von der Wut auf die Menschen, die ihm Jahre seines Lebens gestohlen hatten. Er merkte nicht, dass er erneut zerrissen wurde, diesmal zwischen seiner Begierde und seiner Wut. Zwar glaubte er, diese Wut sehr schnell abreagieren zu können, indem er sein Theologiestudium an den Nagel hängte, aber er merkte nicht, dass diese Wut ihn noch Jahre begleiten sollte und dass es nun seine Wut war, die ihn davon abhielt, sich dem Leben ganz zuzuwenden.

Nichts war für Rubin nun wichtiger als endlich eine Sexualpartnerin zu finden, mit der er all das nachholen konnte, was er so lange entbehren musste und endlich einmal den Druck nicht durch eine sekundenschnelle Explosion zu entleiden. Er war nun endlich frei und wollte das Leben mit all seinen Möglichkeiten genießen, natürlich vor allem mit seinen sexuellen Möglichkeiten.

Rubin hatte Salingers Roman

The Catcher in the Rye

gelesen und er liebte diesen sechzehnjährigen Holden Caulfield, mit dem er sich so sehr identifizieren konnte; auch Holden war eine verlorene Seele, die sich so sehr nach Liebe sehnte. Holden ließ sich eine Nutte aufs Zimmer bringen, wollte dann aber doch keinen Sex mit ihr haben, er möchte auf einer Frau spielen können wie auf einer Violine und er sagt:

I’d like to be really good at those things.

Aber es ist ein anderer Satz von Holden Caulfield, den Rubin nie wieder vergessen hat. Es ist wohl eher ein Satz des Autors als der eines Sechzehnjährigen, aber das spielte keine Rolle:

The mark of the immature man is that he wants to die nobly for a cause, while the mark of the mature man is that he wants to live humbly for one.

Und mehr noch spendete Rubin eine andere Aussage Trost, eine Aussage, die ihm die Hoffnung gab, es könnte auch für seine Probleme eine Lösung geben:

You’re not the first person who was ever confused and frightened and even sickened by human behavior. Many, many men have been just as troubled morally and spiritually as you are right now.

Auch hier merkte Rubin nicht, dass er schon wieder dabei war, einen Druck, einen Erfolgsdruck aufzubauen, der schließlich zur Katastrophe führen sollte, jedenfalls empfand er es als eine Katastrophe, die sein Leben endgültig zerstören sollte.

Auf einer Fete, inzwischen hatte sich der Begriff Party in den Begriff Fete verwandelt, lernte er eine Kommilitonin kennen, mit der er nach kürzester Zeit intim wurde und die er anschließend nach Hause begleitete. Hier kam es nun zu der besagten Katastrophe. Sie rissen sich gegenseitig die Kleider vom Leib und fielen übereinander her, doch bevor er überhaupt dazu kam, seinen Schwanz in ihre Muschi einzuführen, endlich in das gelobte Land vorzudringen, war für ihn auch schon wieder alles vorbei. Es war ihm nicht einmal ansatzweise gelungen, auch nur einen Millimeter in das Land seiner Träume einzufahren; ohne die geringste Berührung war er explodiert. Doch auch dieses Mal war es keine Befriedigung, war es keine Erlösung, war es nicht das gelobte Land der Liebe.

Rubin verbrachte zwar die ganze Nacht mit seiner Kommilitonin, doch er kann sich weder an ihren Namen erinnern, noch an das, was sonst noch in der Nacht geschah oder worüber sie redeten oder ob sie überhaupt redeten. Seine Erinnerung setzte erst wieder ein, als er am nächsten Morgen den langen beschwerlichen Weg durch die ihm endlos erscheinende Georg-Voigt-Straße zurück nach Weidenhausen antrat, zu Fuß, barfuß, denn er hatte bei dem übereilten Aufbruch von der Fete seine Schuhe nicht gefunden. In der Nacht war es ihm auch vollkommen egal gewesen, denn er hatte nur noch eines im Sinn.

Doch nun war sein Kopf leer, er bemerkte nicht einmal den Schmerz an seinen Füßen, der allmählich immer stärker wurde. Mit seinen erst neunzehn Jahren hatte Rubin das Gefühl, dass sein Leben bereits beendet war; man hatte ihm die wichtigsten Jahre seiner Jugend gestohlen mit dem Ergebnis, dass er nun vollkommen liebesunfähig war. Impotenz war das einzige Wort, das er noch denken konnte, nein, nicht denken, dieses Wort dröhnte pausenlos in seinem Schädel und er hatte das Gefühl, dass es ihn innerlich zerreißt.

Als Rubin sein Zimmer in der Weidenhäuser Straße erreicht hatte, legte er sich auf sein Bett und starrte an die Decke. Die Welt war leer, sein Leben war leer. Er lag vollkommen regungslos auf seinem Bett, es gab nichts mehr zu tun. Zum ersten Mal in seinem Leben tauchten ganz konkrete Selbstmordgedanken in ihm auf. Er war nicht länger bereit, diese Qualen zu ertragen.

Gegen Mittag hörte er im Hof seines Hauses eine Stimme, die seinen Namen rief, er ging ans Fenster und sah die Kommilitonin, mit der er die Nacht verbracht hatte. Sie winkte ihm zu und kam dann nach oben in den zweiten Stock. Sie hatte eine Schale Erdbeeren mitgebracht, deren Stiele sie nun entfernte und die sie gleichmäßig auf zwei kleine Schüsseln verteilte und mit etwas Zucker bestreute. Sie reichte ihm eine der beiden Schüsseln und er aß die Erdbeeren, wortlos, stumm, starr vor Entsetzen, irgendetwas hinderte ihn daran auch nur ein einziges Wort herauszukriegen.

Seine Kommilitonin redete ununterbrochen, sie schien gar nicht zu merken, dass er nichts sagte. Sie war sehr fröhlich und bevor sie ging, verabredete sie sich mit Rubin für den bevorstehenden Abend. Was wollte sie von ihm? Wie konnte sie nach so einer herben Enttäuschung, nach der nächtlichen Katastrohe, so fröhlich sein? Mehr noch, es schien, als wollte sie mit ihm eine wie auch immer geartete Beziehung eingehen, eine Beziehung mit einem Versager. All das war für Rubin vollkommen unverständlich, war es Mitleid?

Am Abend desselben Tages holte Marita ihn an seinem Zimmer in Weidenhausen ab. Dieser Name ist vollkommen frei erfunden, denn wie gesagt konnte Rubin sich nicht an ihren Namen erinnern; doch um ihr Ehre zu erweisen, sollte sie nun endlich einen Namen erhalten. Tatsächlich weiß er noch, dass Marita eine Studentin der Psychologie war, sie war sehr groß, fast so groß wie Rubin, und sehr kräftig gebaut; sie hatte lange Beine mit starken Oberschenkeln und sie war, wie sich später herausstellte, auch noch Jungfrau.

Marita und Rubin gingen in eine der vielen Studentenkneipen in der Oberstadt und allmählich lockerte sich der Würgegriff, der, so schien es Rubin, ihm die Kehle zuschnürte, ihm fast die Luft zum Atmen nahm und ihn daran hinderte auch nur ein einziges Wort herauszukriegen. So kam nach und nach nun doch eine Unterhaltung zustande, wie sie zwischen zwei Menschen üblich ist, die sich gerade kennen gelernt haben. Wie alt bist du, wo kommst du her, was machen deine Eltern beruflich, welche Pläne hast du, was möchtest du einmal werden. Alles Dinge, an die sich Rubin ebenfalls nicht mehr erinnern kann.

Es ist für Rubin auch heute noch ein absolutes Rätsel, warum er anschließend mit Marita auf sein Zimmer ging, denn genau wie er es erwartet hatte, wiederholte sich die Katastrophe, die Demütigung der vergangenen Nacht. Doch dieses Mal blieben sie nicht die ganze Nacht wach, jedenfalls Marita schlief nach ihren sexuellen Spielereien sofort ein. Nach kurzer Zeit schlief sie so tief und fest, dass Rubin es nicht mehr neben ihr aushielt. Er zog sich an und ging mitten in der Nacht von Weidenhausen über die Oberstadt hinauf zum Landgrafenschloss. Er war ganz froh, dass zu dieser nächtlichen Stunde weit und breit kein Mensch zu sehen war. Er hätte die Nähe von anderen Menschen jetzt nicht ertragen können.

Als Rubin schließlich in sein Zimmer zurückkehrte, schlief Marita immer noch und er setzte sich auf einen Stuhl und betrachtete sie. Sie war eine schöne Frau, sie atmete ruhig und gleichmäßig. Wieder kamen diese Gedanken in ihm auf: Was will diese schöne Frau von einem solchen Versager? Wie kann es sein, dass sie nach einer solchen herben Enttäuschung eine ernsthafte Beziehung mit ihm eingehen will.

In den nächsten Tagen wiederholte sich dieses Schauspiel viele Male und Rubins Suizidgedanken wurden immer intensiver, sodass er eines Nachts, nachdem die letzte Kneipe um drei Uhr geschlossen hatte und die Einsamkeit in seinem Zimmer unerträglich wurde, endgültig beschloss, sich an der Holzbrücke aufzuhängen. Wie gesagt, sein letzter Blick auf diese Welt sollte geprägt sein von der Schönheit der Marburger Oberstadt und des Landgrafenschlosses.

Er nahm den Gürtel seines Morgenmantels und zog los. Auf dem Weg durch die engen Gassen von Weidenhausen hinüber zum Trojedamm lag ein Fahrrad mitten auf der Straße und er dachte sich: Warum soll ich die letzten Meter in meinem Leben zu Fuß gehen, ich kann genauso gut mit dem Fahrrad zu der Holzbrücke fahren. Nach wenigen Metern auf dem Fahrrad empfand Rubin plötzlich eine solche Freude, dass er an der Holzbrücke, an der er sich aufhängen wollte, vorbeifuhr, hinüber zur B 3, dann setzte er seine Fahrt Richtung Gießen fort. In seinem vollkommen betrunkenen Zustand war Rubin jedoch nach wenigen Kilometern so erschöpft, dass er umkehrte; erneut in seinem Zimmer angekommen legt er sich auf sein Bett und fiel sofort in einen tiefen Schlaf.

Nach diesem Erlebnis fasste Rubin seinen ganzen Mut zusammen und schrieb alles auf, was in den letzten Tagen geschehen war. Mit diesem Zettel ging er zum Studentenarzt; wortlos überreichte er ihm den Zettel. Es war noch ein sehr junger Arzt; nachdem er den Zettel gelesen hatte, schaute er auf und sagte: „Da muss eine Frau her.“

Der Studentenarzt bat Rubin, am nächsten Tag wieder zu kommen, da dies seine letzte Sprechstunde in Marburg war und er am nächsten Tag eine Stelle an der Justus-Liebig-Universität in Gießen antreten würde. Tatsächlich ging Rubin am nächsten Tag wieder in die Sprechstunde; diesmal traf er auf einen älteren Arzt, der ihm, nachdem er Rubins Zettel gelesen hatte, Trausabun verschieb, ein Medikament zur Behandlung depressiver Gehemmtheit und Angst. „Ich verschreibe Ihnen gleich mal dreihundert Stück, dann müssen Sie nicht so oft in meine Sprechstunde kommen“, sagte der Arzt zum Abschied.

Natürlich hatte Rubin die Gebrauchsanweisung gelesen, in der es unter anderem hieß, dass dieses Medikament nicht nur die Qualen depressiver Gehemmtheit und Angst mildert, sondern auch die Wirkung von Alkohol erheblich verstärkt, doch das interessierte ihn nicht. Nach einem Fest im Studentendorf machte Rubin sich zu Fuß auf den Weg nach Hause. Als er eine Fußgängerbrücke über die Lahn überquerte, riss Rubin einige Bretter von einer Absturzsicherung ab und warf sie in die Lahn, anschließend ging er die Uferstraße entlang und da er inzwischen vollkommen erschöpft war, machte er sich auf die Suche nach einem unverschlossenen Auto und als sich eine Autotür öffnen ließ, legte er sich in das Auto und schlief sofort ein.

Nach einiger Zeit riss ein Polizeibeamter die Autotür auf und zerrte Rubin aus dem Wagen; ein Anwohner der Uferstraße hatte beobachtet, wie Rubin die Bretter in die Lahn geworfen hatte und dann in das Auto gestiegen war. Die Polizisten schubsten ihn in den Polizeiwagen und brachten ihn zur Polizeiwache, wo sie seine Personalien aufnahmen. Sie kontrollierten seinen Führerschein, und als sie seinen Fahrzeugschein sehen wollten, sagte Rubin, dass ihm der Wagen doch gar nicht gehöre, woraufhin zwei Beamte wieder zu dem Fahrzeug fuhren, um es auf Beschädigungen zu überprüfen und um dem Halter eine Verwarnung zu erteilen, weil er sein Auto nicht abgeschlossen hatte. Anschließend ließen sie Rubin wieder gehen. Als Rubin draußen auf der Straße in seine Brieftasche schaute, vermisste er ein Passbild, sodass er wieder in die Wache zurück ging.

Ihr verdammten Schweine habt mir ein Passbild geklaut.

Wir haben Ihnen gar nichts geklaut. Gehen Sie endlich nach Hause und schlafen Sie Ihren Rausch aus.

Ihr verfluchten Pieselottenhengste, ihr Gängster, ihr Schweinepriester!

Rubin merkte, dass er hier eine Grenze überschritten hatte und trat sofort die Flucht an, aber in seinem Zustand kam er keine hundert Meter weit bis ihn die Polizisten wieder eingefangen hatten. Sie waren jetzt so wütend, dass sie ihm mit ihren Gummiknüppeln auf den Kopf schlugen und ihn zurück in die Wache zerrten, sie ließen einen Arzt kommen, der Rubin eine Blutprobe entnahm und dann sperrten sie ihn in eine Ausnüchterungszelle. Am nächsten Morgen stellte Rubin fest, dass er eine riesige Platzwunde am Kopf hatte und seine Haare total mit Blut verklebt waren. Die Polizisten holten Rubin wieder aus der Zelle und teilten ihm mit, dass er eine Anzeige wegen Sachbeschädigung, Beleidigung, Verleumdung, Körperverletzung und Widerstand bekommen werde.

Einige Kommilitonen vom SDS hatten von diesem Vorfall erfahren und nahmen mit Rubin Kontakt auf. Sie fuhren mit ihm nach Kassel, wo es einen guten Anwalt geben sollte, der erfolgreich politische Prozesse führte. Rubin hatte zwar eingewandt, dass es sich hier doch nicht um einen politischen Prozess handle, doch die Kommilitonen vom SDS waren der Meinung, dass Polizeigewalt immer eine politische Angelegenheit sei. Also fuhr Rubin mit nach Kassel, da sie allerdings keinen Termin bei diesem Anwalt hatten, war er zu der Zeit auch gar nicht in seiner Kanzlei, sodass sie unverrichteter Dinge wieder nach Marburg zurück fuhren. Sie empfahlen ihm noch eine Anwältin in Marburg und ließen dann nie wieder etwas von sich hören.

Obwohl sie sich nicht mehr täglich sahen, hatte Marita offensichtlich immer noch nicht die Hoffnung aufgegeben, die Beziehung zu Rubin aufrecht zu erhalten. Sie besuchte ihn immer wieder, sie verbrachten gemeinsame Abende in verschiedenen Marburger Studentenkneipen und ja, auch die katastrophalen Nächte wiederholten sich immer wieder, sodass Rubin froh war, als endlich die Semesterferien begannen und er zu seinen Eltern fuhr. Sein Vater hatte ihm einen Ferienjob besorgt. Seine Eltern konnten ihn finanziell nicht unterstützen und alleine vom Bafög konnte Rubin nicht leben. Deshalb arbeitete er die nächsten drei Monate auf einem Büro in einer großen Firma.

Das Medikament, das er nun regelmäßig einnahm, hatte inzwischen bewirkt, dass seine Selbstmordgedanken verschwunden waren, er war jetzt vollkommen lethargisch, saß stumpfsinnig an seinem Schreibtisch und hatte das Gefühl, dass die Welt still stand. Ständig dachte er an Marita; er wollte ihr einen Brief schreiben und ihr alles erklären, doch er konnte sich einfach nicht überwinden. Die Geschichte seines Versagens war ihm so peinlich, er schämte sich so sehr, dass er weder darüber reden konnte, noch konnte er es überhaupt in Worte fassen, indem er es aufschrieb. Mit wem hätte er auch darüber reden sollen.

Wenn man gegen seine Angst kämpft, wird diese Angst immer weiter verstärkt, bis man schließlich nur noch Angst vor der Angst hat, der ganze Mensch wird zur Angst. Erst wenn der Mensch diese Angst akzeptiert, kann er erkennen, dass seine Angst letztlich darauf zurück zu führen ist, dass er das Gefühl hat, nicht zu genügen, nicht akzeptiert zu werden und letztlich nicht geliebt zu werden.

So vergingen diese drei Monate, ohne dass irgendetwas geschehen war, was zu einer wirklichen Veränderung in Rubins Befinden beigetragen hätte. Schließlich fuhr er mit dem Zug zurück nach Marburg und ohne seine Koffer auszupacken, ging er sofort zu Maritas Zimmer in der Georg-Voigt-Straße. Sie war tatsächlich zu Hause und da sie noch einiges für ihr Studium zu erledigen hatte, verabredeten sie sich für denselben Abend.

Sie saßen sich wieder in einer dieser Studentenkneipen gegenüber, doch die Situation hatte sich vollkommen verändert. Natürlich konnte Rubin immer noch nicht über seine Probleme reden, aber auch Marita war an diesem Abend kaum zu einem Gespräch in der Lage.

Menschen sind stolz auf ihre Begabungen und auf ihre Fähigkeiten. Aber wenn es um ihre Begrenzungen und Schwächen geht, dann sind sie kaum in der Lage, diese vor sich selbst ehrlich einzugestehen, geschweige denn vor anderen Menschen. Es reicht nicht aus, dass der Mensch sich nicht länger in seiner Selbstwahrnehmung verleugnet, sondern er darf dankbar sein für alles, was in seiner Seele leben möchte, auch wenn es klein, unausgebildet und unreif ist; er darf darauf vertrauen, dass Gott ihn für das liebt, was er wirklich ist und er darf in allem den Willen Gottes annehmen.

Die Minuten kamen Rubin wie Stunden vor, es herrschte eine Stimmung wie auf einer Beerdigung, keiner schaute den anderen an, ihre Blicke gingen den ganzen Abend aneinander vorbei. Und es war tatsächlich eine Beerdigung, ihre kurze Beziehung wurde an diesem Abend zu Grabe getragen, sie haben sich nie wieder gesehen.

Erst viel, viel später begriff Rubin, dass Marita nicht eine Beziehung zu einem Versager aufgegeben hatte, sondern eine Beziehung zu einem Mann, dem diese Knospe einer jungen Beziehung so unwichtig zu sein schien, dass er drei Monate lang nichts von sich hören ließ. Diese drei Monate, die Marita alleine in Marburg verbracht hatte und in denen sie nichts, absolut gar nichts von ihrem neuen Freund hörte, waren höchst wahrscheinlich für sie mit einer solchen Enttäuschung verbunden, dass es auch sie bei ihrem Wiedersehen vollkommen sprachlos machte. Auch sie musste sich fragen, was will er denn von mir, wenn er glaubt, nach dreimonatiger Sendepause einfach weitermachen zu können.

Noch einmal unternahm Rubin einen Suizidversuch, er sprang nachts von der Weidenhäuser Brücke aus fünf Metern Höhe in flaches Gewässer, wobei er sich einen Halswirbel brach. Der Arzt in der chirurgischen Abteilung in der Marburger Klinik, der ihn vom Scheitel bis zur Hüfte eingipste, sagte ihm, dass seine Schmerzen ihm das Leben gerettet hätten. Wegen dieser unerträglichen „Halsschmerzen“ hatte Rubin seinen Kopf vollkommen still gehalten. „Hätten Sie den Kopf ruckartig nach hinten gedreht, wären Sie wahrscheinlich tot umgefallen.“

Rubin stellte fest, dass sich seine Todessehnsucht durch die Konfrontation mit dem wirklichen Tod verwandelte. Er hatte das Gefühl, doch noch eine Weile leben zu wollen; dieses Verlangen verstärkte er mit dem Plan, in den nächsten Semesterfeien eine dreimonatige Reise nach Amerika zu unternehmen, er wollte die USA von New York City bis nach Los Angeles durchstreifen. Auch wollte er das Medikament, das er immer noch einnahm, nicht mitnehmen. Er spürte nicht nur, dass dieses Medikament ihn vom Leben abhielt, sondern dass er auch schon längst davon abhängig, danach süchtig geworden war. Die Reise in die USA sollte ihm dazu verhelfen, von diesem Medikament wieder loszukommen und endlich wieder lebensfähig zu werden. Er war auf der Suche nach der heilen Welt, seitdem er das Theologiestudium abgebrochen hatte, suchte er das Himmelreich auf Erden.

In der heutigen Zeit wird der Begriff ‚selig‘ allenfalls noch für einen Zustand gebraucht, in dem Menschen sich im Liebes-, oder Alkohol- und Tablettenrausch befinden. In beiden Situationen ist der Blick für die Realität vollkommen gestört und man spricht von einem bösen Erwachen, wenn die Nüchternheit des Alltags wieder eingekehrt ist. Im ersten Fall führt das dann oft zu Trennungen oder Scheidungen, im zweiten Fall zu großem Bedauern über das eigene Verhalten, also auf keinen Fall zu einem positiven Ergebnis.

Aber genau das war es, was er wollte; er wollte endlich selig werden und er glaubte, dass die Seligkeit in den Armen einer Frau zu finden sei. Rubin erkannte einfach nicht, dass es für ihn keine Erlösung gab, solange er sich selbst für minderwertig hielt, dass ein anderer Mensch ihm niemals das geben kann, was er sich selbst nicht auch geben kann, denn nur wer sich selbst liebt, kann andere Menschen lieben und kann von anderen Menschen geliebt werden.


Rubin

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