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Amerika

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Es war einer dieser typischen Charterflüge für Studenten, bei denen nach der erfolgreichen Landung laut applaudiert wurde. Rubin war wie immer durch nichts auf diese dreimonatige Reise vorbereitet; schon mit 15 Jahren war er ohne jegliche Vorbereitung ganz alleine per Anhalter durch England, Wales, Schottland und Irland gereist. Genau wie damals hatte er lediglich die Hin- und Rückflüge gebucht. Irgendwo würde er schon übernachten können und wenn das Geld ausging, würde er schon einen Job finden, mit dem er etwas Geld verdienen konnte. So war es ein Glücksfall, dass sein Sitznachbar im Flugzeug ein Buch besaß mit dem Titel „New York City on five Dollars a Day.“ Aus diesem Buch schrieb Rubin sich einige Adressen von Hotels in New York City auf, in denen er übernachten könnte.

Und doch gab es einen entscheidenden Unterschied zu seiner Reise durch Großbritannien und Irland; neben den Flugtickets hatte er drei Adressen in der Tasche, die er sozusagen abarbeiten wollte. Da war zunächst einmal die Adresse einer Brieffreundin in Ohio, die er in der Untertertia der Schule von seinem Englischlehrer erhalten hatte; auf diese Weise sollten die Englischkenntnisse verbessert und die Landeskunde gefördert werden. Nach anfänglichen regelmäßigen und häufigen Briefwechseln hatte sich der Kontakt im Laufe der Jahre auf etwa ein- bis zweimal pro Jahr reduziert, doch er war nie vollkommen abgebrochen, obwohl es sich im Grunde inhaltlich um völlig belanglose Briefe handelte. Später sollte sich Ruby, so hieß diese Brieffreundin, immer wieder über Rubin lustig machen, indem sie aus einem seiner Briefe den Satz zitierte: „There is a deer in our garden“; Rubin konnte sich an den Inhalt ihrer Briefe überhaupt nicht erinnern. Es gab also ein „später“ zu dieser Adresse und dieses „später“ sollte das Leben Rubins erneut grundlegend verändern.

Die zweite Adresse, die Rubin in seiner Tasche hatte, war von dem Besitzer einer Kunstgalerie in Kansas City Missouri namens George. Rubin hatte ihn in Marburg kennen gelernt, als George sich auf einer Europareise befand, um Künstler zu kontaktieren, deren Werke er in seiner Galerie ausstellen und verkaufen wollte. Da George kein Deutsch sprach, war er auf der Suche nach einem Dolmetscher, der ihm bei seinen Verhandlungen mit den Künstlern behilflich sein sollte. Rubin begleitete George nach Gießen in die Wohnung eines Künstlers und dolmetschte dort die Verhandlungen, die tatsächlich zu einem Vertragsabschluss führten.

Kansas City ist übrigens eine zweigeteilte Stadt, die zum Teil in Missouri und zum Teil in Kansas liegt, wobei der Teil der Stadt, der in Missouri liegt bevölkerungsmäßig etwa dreimal so groß ist wie der andere Teil der Stadt. Natürlich gibt es keine Mauer, die diese beiden Stadtteile voneinander trennt, es ist vielmehr etwas anderes was sie trennt und zwar die Zeiten der Sperrstunde für die Kneipen. Teilweise bildet der Missouri River die Grenze zwischen den beiden Staaten, doch es gibt auch Stellen, an denen die Grenze mitten auf einer Straße verläuft, sodass es vorkommt, dass eine Kneipe auf der einen Seite der Straße um 24 Uhr schließen muss, während die Kneipe auf der anderen Seite der Straße bis ein Uhr nachts geöffnet bleiben darf, das führt regelmäßig zu einem starken Grenzverkehr um Mitternacht.

Und schließlich hatte Rubin noch die Adresse seiner Cousine Bärbel, genannt Babsi, die in Los Angeles lebte. Das war seine einzige Routenplanung: New York City, Washington DC, Cleveland Ohio, Kansas City Missouri, Los Angeles und zurück. Die Länge seines jeweiligen Aufenthaltes sollte sich nach seinen finanziellen Möglichkeiten richten.

Nach der Landung auf dem John F. Kennedy Airport in New York City bekam Rubin seinen ersten nachhaltigen Eindruck von Amerika, als eine Frau in dem Bus auf der Fahrt vom Flugzeug zum Terminal immer wieder lauthals durch den Bus rief: „Jesus loves you! Jesus loves you all!“ So war er froh, als er endlich durch die Grenzkontrollen war, seinen Rucksack auf dem Förderband gefunden hatte und sich nun auf der Fahrt mit einem Bus nach Manhattan befand, in einem Bus, in dem Gott sei Dank niemand herumschrie.

Nach einer knappen Stunde Fahrt erreichten Sie den Busterminal in der 97th Street im nördlichen Central Park. Rubin ging zu der Information im Busbahnhof, legte der Dame seinen Zettel mit den Adressen der New Yorker Hotels aus dem Buch „New York City on five dollars a day“ auf den Tisch und fragte:

Could you tell me please where I can find one of these hotels?

Kurz und prägnant antwortete sie:

NO!

Einen Augenblick lang zögerte Rubin verständnislos, weil er mit allem gerechnet hatte, aber nicht mit einer solchen Abfertigung. Als er sich endlich wieder gefasst hatte, fragte er nach:

Why not?

Because you will find your head next to your bed tomorrow morning if you stay at one of those hotels.

Oh!

Die Dame empfahl Rubin schließlich ein Hotel in der West 72nd Street ganz in der Nähe vom Broadway. Dieses Hotel hatte den Vorteil, dass Rubin während der vier Tage, die er in New York City verbrachte, seinen Kopf auf den Schultern behielt und dass es ganz in der Nähe vom Central Park lag; der Nachteil bestand allerdings darin, dass die Kosten für das Zimmer bei weitem das überstiegen, was Rubin sich vorgestellt hatte und er sich wirklich leisten konnte. Um Kosten zu sparen, benutzte Rubin keinerlei öffentliche Verkehrsmittel, was wiederum den Nachteil hatte, dass sich sein Aufenthalt wegen der großen Entfernungen innerhalb der Stadt auf den Broadway und den Central Park beschränkte. Bis zum heutigen Tag bedauert Rubin, dass er deswegen die Freiheitsstatue nicht gesehen hat, geschweige denn nach Liberty Island mit einer Fähre übergesetzt oder gar in der Aussichtsplattform der Krone der Statue of Liberty gestanden hätte.

Die brütende Hitze in der Stadt war allerdings am besten zu ertragen auf den Parkbänken im Central Park oder in seinem Hotelzimmer, das mit Air Conditioning eine angenehme Temperatur hatte. Nach Einbruch der Dunkelheit ließ sich die Temperatur draußen etwas besser ertragen, sodass Rubin am liebsten in dieser Zeit über den Broadway schlenderte; das schien auch anderen Menschen so zu gehen, denn es waren riesige Menschenmassen, die sich durch diese Straße schoben.

Am zweiten Tag seines Aufenthaltes in New York City lernte Rubin im Hotel einen deutschen Tourismus Manager kennen, der ihn auf sein Zimmer zu einem Whiskey einlud, wobei das Wort „Zimmer“ in diesem Fall nicht angebracht war. Es handelte sich vielmehr um eine Suite mit einem riesigen Wohnzimmer und einem getrennten Schlafzimmer. Der Manager, an dessen Namen Rubin sich natürlich nicht erinnern kann, schenkte sich und Rubin einen Whiskey ein und hielt dann einen langen Vortrag über seine Tätigkeit als Tourismus Manager; er war sehr stolz auf diese Tätigkeit, bei der er, wie er meinte, ständig in den besten Hotels der ganzen Welt im Urlaub war und nicht nur die Kosten für die Hotels und die Mietwagen wurden von seiner Firma übernommen, sondern er erhielt auch noch Spesen in einer Höhe, die ihm ein komfortables Leben ermöglichten. Es war ihm deutlich anzumerken, dass er sich für einen der Auserwählten dieser Welt hielt.

Schließlich gewährte er Rubin die Möglichkeit, etwas darüber zu erzählen, was er in Amerika vorhatte. Allerdings handelte es sich dabei nur um sehr wenige Sätze, da der TM Rubin nach jedem Satz unterbrach und ihn kritisierte. Rubins Pläne waren seiner Meinung nach auf gar keinen Fall für ein Land wie die USA geeignet, insbesondere die Absicht, das Land per Anhalter zu überqueren, hielt er für gefährlich und außerdem war er der Meinung, dass die Amerikaner das überhaupt nicht mögen, sodass er wahrscheinlich gar nicht mitgenommen würde. Außerdem sollte Rubin unbedingt seinen Schnauzbart abrasieren, weil die Amerikaner so etwas noch weniger mögen. Mit einem Wort, der TM war ein deutsches Arschloch.

Noch nie hatte Rubin sich von Arschlöchern beeinflussen lassen, sodass er an seinen Plänen festhielt und an seinem vierten Tag in Amerika seine eigentliche Reise begann, per Anhalter. Tatsächlich nahm er zunächst einmal einen Bus, um aus New York City heraus zu kommen, denn innerhalb von Manhattan hätte der Versuch, von jemandem Richtung Washington DC mitgenommen zu werden, nun wirklich keinen Sinn gemacht.

Bevor er nach Ohio fuhr, wollte Rubin unbedingt das Weiße Haus in Washington DC sehen, in dem, wie es heißt, der mächtigste Mann der Welt regiert; zur Zeit von Rubins erstem Aufenthalt in den USA war das Richard Nixon, der 37. Präsident der Vereinigten Staaten. Nixon hatte bereits kurz nach seinem Amtsantritt im Februar 1969 die Berliner Mauer besucht, wo er mit dem damaligen Außenminister der Bundesrepublik Deutschland Willy Brandt und dem früheren Nazi und damaligen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger zusammentraf.

Rubin hatte in seiner Naivität geglaubt, dass nach 1945 in Deutschland eine Entnazifizierung durchgeführt worden wäre, die dafür gesorgt hätte, dass alle nationalsozialistischen Verbrecher entweder im Gefängnis saßen oder ins Ausland geflohen wären. Umso entsetzter war er, als er erfuhr, dass die Bundesrepublik Deutschland von einem ehemaligen Nazi regiert wurde, dass also das höchste Regierungsamt schon wieder in den Händen der Nationalsozialisten war. Der von den 68er-Studenten propagierte Marsch durch die Institutionen zur Veränderung der Gesellschaft war den Nazis also schon längst wieder gelungen. Rubin ist Beate Klarsfeld noch heute dafür dankbar, dass sie wenigstens ein Zeichen gegen diese erneute rechte Ausrichtung der deutschen Politik gesetzt hat, indem sie Kurt Georg Kiesinger am siebten November 1968 geohrfeigt hat. Der Kriegstreiber Nixon und der ehemalige Nazi Kiesinger passten also hervorragend zusammen.

Noch heute verbinden sich mit der Amtszeit Nixons so bekannte Namen wie Bob Haldeman, Henry Kissinger, John Ehrlichman, Spiro Agnew und Gerald Ford. Die 68er-Studenten verbanden mit dem Namen Nixon vor allem den Vietnamkrieg und seine immer schlimmer werdenden Grausamkeiten, sie machten sich lustig über ihn mit Slogans wie „Auch Nixon tut wixen!“, wohingegen heute mit dem Namen Nixon vor allem die Watergate Affäre, Einbruch in ein Wahlbüro der Demokraten, verbunden ist, was schließlich zum Rücktritt von Nixon führte. Während seines ersten Aufenthaltes in den USA erfuhr Rubin in persönlichen Gesprächen, dass Nixon eines seiner vielen Häuser verkaufen sollte, um seine Steuerschulden zu bezahlen. Um zu verhindern, dass Nixon dieses Haus verkaufen musste, haben die Amerikaner Geld für ihn gespendet. Rubins Mitleid hielt sich in Grenzen.

Entgegen den Warnungen des TM wurde Rubin von vielen freundlichen Amerikanern mitgenommen, sodass er die knapp 400 Kilometer nach Washington DC bereits am frühen Nachmittag geschafft hatte, sodass er sich auf die Suche nach einer Übernachtungsmöglichkeit begeben konnte, die dieses Mal nun unbedingt preiswerter sein sollte als in New York City. Es stellte sich sehr schnell heraus, dass auch Washington DC für die Geldbörse eines Studenten wenig geeignet war. Das preiswerteste Zimmer, etwa zwanzig Prozent günstiger, befand sich in einem Haus des YMCA in der Rhode Island Avenue ganz in der Nähe vom White House. Rubins Traum, einmal vor dem White House zu stehen, hat sich also tatsächlich erfüllt, allerdings musste er feststellen, dass die Realisierung eines Traumes ganz schön ernüchternd sein konnte. Jedenfalls war es für ihn kein besonderer Augenblick in seinem Leben, als er vor dem White House stand, ein Haus eben, mit einem hohen Zaun drum herum. Rubin hatte in keiner Weise das Gefühl, sich am Mittelpunkt der Welt zu befinden.

In der folgenden Nacht hätte Rubin gerne die zwanzig Prozent mehr bezahlt für eine Klimaanlage, denn in Washington DC, das ja schließlich viel weiter im Süden liegt, war es noch viel heißer als in New York City, sodass in Rubins Zimmer, das eben kein Air Conditioning besaß, die ganze Nacht über eine solche brütende Hitze herrschte, dass Rubin kaum geschlafen hat und er am nächsten Morgen froh war, endlich wieder auf der Straße zu sein. Auf keinen Fall wollte Rubin noch einen weiteren Tag in Washington DC verbringen, da er befürchtete, sein Geld könnte doch allzu schnell aufgebraucht sein. So hat er keine der weiteren Sehenswürdigkeiten betrachten können, nicht einmal das United States Capitol. Doch nach seiner Erfahrung mit dem White House machte ihn das nicht allzu traurig.

Also auf nach Ohio, auf zu seiner ersten Kontaktadresse, auf zu seiner Briefreundin Ruby; Rubin hatte zwei Adressen, eine in Vermilion Ohio, wo wahrscheinlich ihre Eltern lebten, und eine von einem Krankenhaus in Lorain Ohio, wo Ruby wohl gerade eine Ausbildung zur Krankenschwester machte. Da es mitten in der Woche war, wollte er es zunächst hier versuchen.

Diese Mal musste Rubin nicht einmal einen Bus nehmen, der ihn aus der Stadt heraus befördern sollte; bereits nach wenigen Minuten saß er in einem Auto mit einem freundlichen Amerikaner, der mit ihm noch einmal am White House vorbei fuhr; offensichtlich verband er ganz andere Gefühle mit diesem Gebäude als Rubin, was sich eindeutig an den mit einer von Stolz geschwellten Brust geäußerten Worte erkennen ließ: „Hier wohnt unser Präsident Nixon!“ Egal, Rubin war froh, endlich diese für ihn ungewohnt riesigen Städte hinter sich zu lassen.

Bis Cleveland Ohio waren es zwischen sechshundert und siebenhundert Kilometern, je nachdem, welche Strecke man befuhr, und da Rubin natürlich von den Autofahrern abhängig war, konnte er wohl kaum wählerisch sein. Aber an diesem Tag ging es nach seinem Gefühl schon recht langsam voran, da alle ihn immer nur wenige Kilometer mitnahmen. Als es am späten Nachmittag schon anfing zu dämmern, hatte er nicht einmal die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht und er wollte schon aufgeben, da er befürchtete, dass kein Autofahrer bereit sei, in der Dunkelheit einen Anhalter mitzunehmen, als doch noch ein etwas korpulenter Mann anhielt und ihn fragte, wo er hin wolle.

Es waren erst wenige Minuten mit den üblichen anfänglichen Fragen vergangen, als dieser sehr freundlich wirkende Mann mittleren Alters mit einem doch recht kräftigen Bauchumfang Rubin fragte:

Have you got a friend?

Yes, of course.

And have you got several friends?

Yes, I do.

I will pay for the hotel!

Erst jetzt verstand Rubin den Sinn all dieser Fragen und er bemühte sich, diesem, wie er es jetzt empfand, doch alten fetten geilen Kerl klarzumachen, dass er keinerlei Interesse daran hätte, ihm als Sexobjekt zur Verfügung zu stehen. So hätte er das auf keinen Fall gemeint und er ergänzte:

It could have been a wonderful night.

Maybe for you

erwiderte Rubin, woraufhin der feiste Kerl anhielt und als Rubin ausstieg, wiederholte er noch einmal

It could have been a wonderful night.

Da stand Rubin nun am Rande einer Auffahrt zu einem Highway; inzwischen war es dunkel geworden und die Chance, noch bis in den nächsten Ort mitgenommen zu werden, schien gegen Null zu sinken. Etwa zweihundert Meter von der Auffahrt entfernt sah Rubin ein kleines Wäldchen und er beschloss, in diesem Wald zu übernachten. Da er einen Schlafsack dabei hatte, es nicht regnete und die Temperatur doch recht angenehm war, schien ihm das in dieser Situation die beste Möglichkeit zu sein. Also machte Rubin sich auf, ging hinüber in den Wald, packte seinen Schlafsack aus und versuchte zu schlafen. Da er verständlicherweise noch nicht zu Abend gegessen hatte, knurrte sein Magen; doch es waren wohl eher die Geräusche um ihn herum, die ihn wach hielten. Entscheidend war nicht das Rauschen, das durch die vorbeifahrenden Autos auf dem Highway verursacht wurde, sondern vielmehr merkwürdige Geräusche, die ganz in seiner Nähe waren.

Handelte es sich um Tiere, die um ihn herumschlichen, waren sie gefährlich, handelte es sich um Schlangen, Rubin hatte gehört, dass es in Amerika giftige Schlangen geben soll oder war es das gefährlichste Raubtier der Welt, ein Mensch, der ihn ausrauben oder gar töten wollte. All diese Gedanken rasten durch Rubins Hirn und hielten ihn lange wach, doch schließlich schlief er dann doch ein und wachte am nächsten Morgen auch wieder auf, immer noch mit dem Kopf auf seinen Schultern.

Es war zwar noch sehr früh am Morgen, da jedoch in einem Wald die Möglichkeiten für die morgendliche Toilette und ein Frühstück sehr begrenzt sind, packte Rubin seine Sachen zusammen und ging zu der Auffahrt des Highways zurück. Am Rande der Fahrbahn stand ein Auto, und als Rubin sich diesem Auto näherte wurde die Beifahrertür geöffnet und eine etwa sechzig Jahre alte adrette Frau forderte ihn auf einzusteigen. Dies kam Rubin zwar merkwürdig vor, doch damals war er noch von einem grundsätzlichen Vertrauen zu den Menschen geprägt, trotz der Erfahrung vom Vorabend.

In diesem Fall war das Vertrauen nicht nur berechtigt, sondern es stellte sich heraus, dass es sich hier um einen außerordentlichen Glücksfall handelte. Die Dame hatte gesehen, wie Rubin aus dem Wald kam und sich gedacht, dass er dort wohl übernachtet habe; damit nicht genug, fuhr sie die nächste Raststätte an, da sie richtigerweise vermutete, dass Rubin noch nicht gefrühstückt habe. Während des Frühstücks entwickelte sich eine lebhafte und angenehme Unterhaltung, bei der sich herausstellte, dass die Dame nur zu ihrem Vergnügen „durch die Gegend“ fuhr, sie fuhr sozusagen spazieren, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben. Als Rubin ihr sagte, dass er nach Lorain Ohio wollte, teilte sie ihm mit, dass sie ihn dort hinbringen würde und zwar genau bis vor die Tür des Mercy Health Lorain Hospitals. Rubin konnte sein Glück kaum fassen; nach den vielen Kurztrips des Vortages erhielt er nun ganz offensichtlich eine lange kostenfreie „Taxifahrt“ mit einer charmanten Dame direkt bis an sein Ziel, außerdem konnte er sich mit ihr sehr angeregt unterhalten, ohne dass es zu diesen unangenehmen Pausen kam, in denen man sich angestrengt fragte, was kann ich denn jetzt mal sagen.

Gegen Mittag erreichten sie das Ziel, das Mercy Health Lorain Hospital; ein paar überschwängliche Dankesworte für diesen angenehmen Vormittag, Rubin stieg aus und die Dame fuhr davon. Da stand er nun vor seiner ersten Kontaktadresse, ein wenig aufgeregt war er schon; nach vielen Jahren der Brieffreundschaft sollte er nun dieses Mädchen, diese inzwischen junge Frau, diese Ruby kennen lernen. Er ging zur Rezeption des Krankenhauses, und sagte, dass er gerne die Krankenschwesterschülerin Ruby sprechen möchte. Offensichtlich war sie dort namentlich bekannt, denn die Dame an der Rezeption griff sofort zum Telefon und bevor sie eine Nummer wählte, bat sie Rubin, im gegenüberliegenden Wartezimmer Platz zu nehmen.

Es dauerte nur wenige Minuten und Ruby stand vor ihm, einen Kopf kleiner als er selbst, dunkelbraune Haare, leicht übergewichtig und vor allem, was Rubin sofort auffiel, waren alle ihre Fingernägel bis auf die Haut abgenagt. Sie hatte ein strahlendes Gesicht und begrüßte Rubin überschwänglich. Offensichtlich freute sie sich tatsächlich ihren langjährigen Brieffreund aus Germany endlich persönlich kennen zu lernen. Sie wechselten ein paar Worte, wie war dein Flug, seit wann bist du in Amerika, wie bist du hier her gekommen. Dann teilte sie ihm mit, dass sie im Moment leider keine Zeit habe, dass sie ihre Mutter anrufen würde, damit sie ihn abholen könne und am Wochenende käme sie dann nach Hause und sie könnten sich länger unterhalten.

Ruby verabschiedete sich und Rubin blieb alleine in dem Wartezimmer zurück. Es dauerte etwa eine halbe Stunde und eine gut aussehende Frau mittleren Alters erschien im Wartezimmer.

Hi Rubin, my name is Emily, I’m Ruby’s mother. Let’s go to my car, so we can go to our house in Vermilion.

Auf dem Weg zum Auto, es handelte sich um einen Chrysler aus der dreihunderter Baureihe, stellte Rubin fest, dass Emily mit ihrem rechten Bein hinkte, da es entweder etwas zu kurz geraten oder falsch eingehängt war. Zum ersten Mal fuhr Rubin also in einem dieser überdimensionierten amerikanischen Schlachtschiffe, bei denen der Benzinverbrauch keine Rolle spielte, da das Benzin in der damaligen Zeit in den USA spottbillig war.


Rubin

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