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Ralf Lothar Knop

Evelyn

Roman

Band II

Foto Titelseite; Ralf Lothar Knop

9047 / / 0001

Picasso:

Großer Frauenkopf mit geschmücktem Hut

Für Christoph

Eine Frau, die selber nicht zu leben weiß, kann auch ihre Tochter nicht leben lassen.

(Drewermann)

Si vis pacem para bellum

Ich habe große Schuld auf mich geladen, denn ich habe den Krieg vorbereitet, weil ich den Frieden wollte. Heute weiß ich, dass diese Einstellung, die seit Platon und Cicero in den Köpfen der Menschen herumschwirrt, völlig falsch ist. Ich erreiche im Leben immer genau das, wogegen ich kämpfe; wenn ich also gegen den Krieg kämpfe, erreiche ich immer wieder nur Krieg. Die besten Beispiele sind Vietnam und Afghanistan.

Solange ich gegen meine Angst kämpfe, erlebe ich immer wieder nur meine Angst, bis ich schließlich selbst nur noch Angst bin. Wenn ich meine Fäuste zum Kampf balle, dann verschließe ich mich und bin unfähig, etwas zu empfangen. Ich kann nur etwas annehmen, wenn ich meine Hände öffne. Mit anderen Worten, nicht das Handeln, nicht das Tun ist wichtig, sondern das Nicht-Tun; Frieden kann ich nur erreichen, wenn ich alle Kampfhandlungen, alle Handlungen einstelle.

Die Menschen halten Mauern für das wichtigste im Leben, weil sie uns vor dem Wetter schützen, aber sie schützen uns eben auch vor den Menschen, sie verhindern den Frieden. Die Menschen bemalen in ihren Häusern die Wände mit den schönsten Farben und sie schmücken sie mit wunderbaren Bildern, aber dabei vergessen sie, dass nicht die Mauern das wichtigste sind, sondern die Löcher in den Mauern, die Zwischenräume, also das Nichts. Erst in den Hohlräumen kann der Mensch sich entfalten und durch die Löcher kann er mit der Welt in Kontakt treten. Die Fenster sind unsere Augen zur Welt, durch sie sehen wir die Menschen und die Menschen können in unsere Seelen schauen.

Wenn man einen Menschen in einen Raum einsperrt, in dem es nur Wände und keine Löcher gibt, so verliert er sehr schnell jegliches Zeitgefühl, er weiß bald nicht mehr, ob Tag oder Nacht ist, er verliert seinen natürlichen Lebensrhythmus, mit dem die Natur uns beschenkt und je länger er in diesem Raum eingesperrt ist, desto mehr verliert er auch die Fähigkeit, durch die Sprache mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Er wird vereinsamen und schließlich sterben.

Das können wir nur verhindern, wenn wir einen Durchbruch schaffen, wenn wir Wände einreißen. Nur wenn wir bereit sind, unsere Betonköpfe zu sprengen und uns der Gefahr aussetzen, durch andere Menschen verletzt zu werden, kann das in unser Herz Einzug halten, was wir Liebe nennen. Die Liebe baut keine Mauern, die Liebe führt keinen Krieg, die Liebe kennt keine Dunkelheit. Nur lieblose Menschen führen Krieg.

Ich habe fast ein ganzes Leben gebraucht, um all das zu erkennen und es war ein sehr schmerzhafter Prozess, in dessen Verlauf ich viele Verletzungen ertragen musste, aber auch mit Sicherheit viele Verletzungen verursacht habe. Erst eine bedingungslose Kapitulation führte mich zum Frieden und zur Liebe.

Liebe Mama, lieber Papa, ich habe nun einige Wochen geruht, um mich von den seelischen Schmerzen zu erholen, die durch die Erzählung des ersten Abschnitts meines Lebens verursacht wurden, es wurde dadurch alles wieder aufgewühlt, von dem ich glaubte, es längst vergessen zu haben, die Gefühle haben mich überrannt, so als wären sie erst jetzt entbrannt.

Ich bin nun wieder bei Kräften und verspüre jetzt das Bedürfnis, meine Geschichte weiter zu erzählen und mein Leben mit euch zu teilen, damit ich endgültig frei werde für die Liebe und wieder einen Platz auf eurem Schoß finde. Ich bitte euch nochmals, lest meine Geschichte bis zum Ende, wenn ihr dann immer noch der Meinung seid, dass ich es nicht wert bin, eure Tochter zu sein, dann bin ich bereit, ein grundloses Leben zu führen, aber ich versichere euch, wie auch immer eure Entscheidung sein wird, ich werde euch immer lieben.

Ihr erinnert euch, dass ich den Vater von Markus vor die Tür gesetzt habe, weil das Leben mit ihm für mich und meine Kinder unerträglich geworden war, weil er gesagt hatte, dass ein Leben unter einer Brücke schöner sei als ein Leben mit uns.

Dann pack deine Sachen und hau ab!

Das waren die letzten Worte, die ich zu ihm gesagt habe und als er unsere Wohnung verlassen hatte, war erst einmal der große Druck raus aus dem Kessel.

Aber wieder einmal bestand mein Leben nur noch aus Arbeit, morgens habe ich Markus in die Kita gebracht, nach dem Dienst habe ich ihn wieder abgeholt und dann sind wir gemeinsam einkaufen gegangen. Wenn wir nach Hause kamen, erlebte ich jeden Tag Dresden 45, denn meine drei Töchter hatten in der Küche ein solches Chaos verursacht, das ich erst einmal beseitigen musste, bevor ich überhaupt etwas kochen konnte, meine Mädels haben sich in keiner Weise an der Hausarbeit beteiligt, sie gingen nur noch ihre eigenen Wege. Aber mit Markus hatte ich viel Spaß, wir haben viele schöne Momente gemeinsam erlebt. In der Kita fühlte er sich allerdings nicht wohl, sodass ich ihn häufig abholen musste, weil er über Bauchschmerzen klagte. Zu Hause waren die Bauchschmerzen dann wie weggeblasen und er hat fröhlich gespielt.

Obwohl stets viele Menschen um mich herum waren, fühlte ich mich trotzdem einsam und alleine und als Markus zwei Jahre alt war, spürte ich das Verlangen, endlich wieder einen Mann an meiner Seite zu haben, der mich akzeptiert, der mich unterstützt und vor allem, der mich liebt. Aber wie sollte ich zwischen Arbeit, Einkaufen und Haushalt einen Mann kennenlernen? Abgesehen davon, dass in Lüdenscheid die Möglichkeiten, einen Mann beim Tanzen zu treffen, sehr begrenzt, um nicht zu sagen unmöglich sind, war ich inzwischen doch auch schon über vierzig Jahre alt und wollte deshalb nicht alleine ausgehen, deshalb habe ich angefangen, die Bekanntschaftsanzeigen in der Zeitung zu lesen.

Suche liebe, gutmütige feste Freundin.

Suche nette Frau für alles, was Spaß macht.

Romantischer Mann sucht Frau für erotische Treffen und Freizeitgestaltung.

Suche Frau, die spontan für alle Schandtaten bereit ist und nicht zum Lachen in den Keller geht.

Wochenlang las ich diese nichtssagenden Anzeigen, selbst diejenigen, die etwas mehr Informationen enthielten, konnten mich nicht begeistern.

Schlank, sportlich, aufgeschlossen, mag Reisen, Natur, Tanzen und Kochen, suche unabhängige, bindungswillige Frau.

Naturverbundener Mann sucht treue Frau, die gepflegt ist.

Sehnst du dich nach einer starken Schulter, Geborgenheit und Zärtlichkeit?

All diese Anzeigen lösten bei mir nicht den Wunsch aus, diese Männer kennenzulernen. Bis ich eines Tages eine ganz andere Anzeige las.

Es gab Frauen in meinem Leben, die waren so schön wie Belladonnalilien und genauso giftig. Nun suche ich nur noch Orchideen, denn die Königin der Blumen steht für Sehnsucht, Leidenschaft und Liebe. Glaube, Liebe, Hoffnung, die Liebe aber ist die Größte unter ihnen.

Ich habe diese Anzeige unzählige Male gelesen und je öfter ich sie las, desto wärmer wurde mir ums Herz. Zum ersten Mal war ich fest entschlossen, auf eine Anzeige zu antworten, doch zunächst legte ich die Zeitung an die Seite, denn ich wollte einige Nächte darüber schlafen und am Sonntag in aller Ruhe antworten.

Ich weiß nicht, ob ich eine Orchidee, eine Königin der Blumen bin, aber ich bin mir ganz sicher, dass ich nicht so giftig bin wie die Belladonnalilie. Jedenfalls bin ich erfüllt von der Sehnsucht nach Liebe, nach Zärtlichkeit und nach Geborgenheit, die Leidenschaft gehört eher zu meiner Vergangenheit, denn ich habe erfahren müssen, dass die Leidenschaft sehr viel Leiden schafft. Aber mein Glauben hat mir immer wieder aufgeholfen, sodass ich die Hoffnung nie verloren habe.

Ich habe deine Anzeige mindestens ein Dutzend Mal gelesen und sie hat mich tief in meinem Herzen bewegt, deshalb würde ich mich sehr darüber freuen, wenn wir zunächst einmal eine Brieffreundschaft beginnen könnten.

Ich heiße Evelyn, bin 43 Jahre alt und eine alleinerziehende Mutter von drei fast erwachsenen Töchtern, die alle aufs Gymnasium gehen und einem zweijährigen Sohn und wir wohnen alle gemeinsam in Lüdenscheid. Da ich ganztags beschäftigt bin, kommt unser Familienleben leider oft zu kurz und vor allem spüre ich immer deutlicher, dass meinen Kindern ein Vater und mir ein Mann an meiner Seite fehlt, mit dem ich die wenigen freien Stunden genießen und auch die Alltagssorgen teilen kann.

Ich würde mich sehr über eine Antwort von dir freuen.

Evelyn

Ich habe meinen Brief mit dem Vermerk der Chiffre der Kontaktanzeige an die Tageszeitung geschickt und war sehr erfreut, als ich schon nach kaum einer Woche eine Antwort erhielt und, obwohl ich auf die Antwort sehr gespannt war, habe ich den Brief zunächst einmal an die Seite gelegt, habe die Wohnung aufgeräumt und anschließend Essen gekocht. Erst als die Mädels sich wieder in ihre eigene Wohnung zurückgezogen hatten und Markus eingeschlafen war, habe ich eine Kerze angezündet, mir ein Glas Wein eingeschüttet und dann den Brief geöffnet.

Liebe Evelyn,

ich habe mich über deinen Brief sehr gefreut. Selbstverständlich bin ich damit einverstanden, dass wir uns zunächst einmal durch brieflichen Kontakt kennenlernen.

Ich heiße Robert Fischer, bin 39 Jahre alt, geschieden von einer Belladonnalilie und wohne in Dortmund; ich bin selbstständiger IT-Administrator und berate Firmen bei der Einrichtung und Pflege ihrer digitalen Netzwerke, was sich für dich sicherlich nicht spannend anhört, aber mir macht mein Beruf sehr viel Spaß.

Wie du dir sicherlich schon denken kannst, interessiere ich mich sehr für Botanik und für Poesie, mein Lieblingsgedicht ist von Johann Wolfgang von Goethe und trägt den Titel ‚Gefunden‘. Vielleicht kennst du es ja, aber ich möchte es trotzdem hier einmal zitieren:

Ich ging im Walde so für mich hin,

und nichts zu suchen, das war mein Sinn.

Im Schatten sah ich ein Blümlein steh‘n,

wie Sterne leuchtend, wie Äuglein schön.

Ich wollt es brechen, da sagt es fein:

Soll ich zum Welken gebrochen sein?

Mit allen Wurzeln hob ich es aus,

zum Garten trug ich‘s am hübschen Haus.

Und pflanzt es wieder am stillen Ort;

Nun zweigt es immer und blüht so fort.

Ist das nicht ein wunderschönes Gedicht? Ich möchte für dich noch meine Gedanken hinzufügen, es fängt schon in der ersten Strophe an: Solange ich etwas suche, kann ich immer nur das finden, was ich suche; erst wenn ich mit dem Suchen aufhöre, kann ich auch etwas Neues finden.

In der dritten Strophe werden die Konsequenzen dargestellt, die es hat, wenn ich versuche, ein Lebewesen zu brechen; früher glaubte man, dass es der Sinn der Erziehung sei, den Eigenwillen der Kinder zu brechen, doch das führt immer nur dazu, dass alles Lebendige welkt und getötet wird.

In den nächsten beiden Strophen erfahren wir, dass Menschen nur leben können, wenn sie ihre Wurzeln nicht verlieren.

Du sagst, dass du in der Vergangenheit viel Leid erfahren hast, deshalb vermute ich, dass man entweder versucht hat, dich zu brechen oder dir deine Wurzeln zu nehmen. Ich bin überzeugt, dass eine Partnerschaft nur funktionieren kann, wenn man den anderen so akzeptiert, wie er ist und niemals versucht, ihn zu ändern oder gar zu brechen, denn jeder Mensch kann nur sich selbst ändern. Ebenso muss ich mich selbst so akzeptieren wie ich bin, denn nur, wer sich selbst liebt, kann auch den Anderen lieben.

Ich bin gespannt auf deine Antwort.

Liebe Grüße

Robert

Noch nie hatte mir ein Mann einen solchen Brief geschrieben, der mich so sehr berührte und mir so aus dem Herzen sprach. Als ich den Brief mehrmals gelesen hatte, habe ich ihm sofort geantwortet, weniger, um Robert noch mehr aus meinem Leben zu erzählen, als vielmehr aus der Sehnsucht nach weiteren Briefen von ihm. In den nächsten drei Wochen bekam ich jeden zweiten Tag einen Brief von Robert und ich habe alle sofort beantwortet und jeder Brief von ihm war schöner als der vorherige.

Nach diesen ersten drei Wochen hatte ich ein solch vertrautes Gefühl, als würden wir uns schon ewig kennen und ich dachte, dass es nun höchste Zeit sei, uns endlich persönlich kennenzulernen. Deshalb habe ich Robert vorgeschlagen, uns an einem Sonntagnachmittag auf dem Parkplatz an der Autobahnauffahrt Lüdenscheid Nord zu treffen, von wo aus wir gemeinsam zum Wildgehege Mesekendahl fahren könnten.

Es war ein sonniger und warmer Sonntag und ich war so aufgeregt, dass ich lange vor der vereinbarten Zeit auf dem Parkplatz stand. Als Robert ankam, ebenfalls vor der vereinbarten Zeit, habe ich ihn sofort erkannt, obwohl ich ihn nie zuvor gesehen hatte und wir auch keine Fotos ausgetauscht hatten. Ich setzte mich zu ihm ins Auto und wir fuhren zum Wildgehege Mesekendahl.

Da bist du ja, schön, dass du da bist.

Hallo, meine schöne Orchidee; ich freue mich, dich endlich persönlich kennenzulernen.

Unsere erste Begegnung fühlte sich für mich sehr gut an, alles war so selbstverständlich und natürlich, als würden wir uns schon eine Ewigkeit kennen und es dauerte auch nicht lange, bis wir uns auf unserem Spaziergang durch den Park gegenseitig an den Händen hielten.

Wo warst du die ganze Zeit?

Am darauffolgenden Sonntag trafen wir uns im Rombergpark in Dortmund und dieses Mal umarmte mich Robert zur Begrüßung und gab mir einen Kuss auf die Wange und nachdem wir eine Weile durch den Park spaziert waren, setzten wir uns auf eine Bank und Robert legte seinen Arm um meine Schulter.

Ich fühlte mich so warm und geborgen in seinem Arm, dass ich meinen Kopf an seine Schulter legte und in meine Träume versank; ich weiß nicht mehr, wie lange wir so auf dieser Bank gesessen haben, bis ich durch unseren ersten Kuss aus meinen Träumen erwachte, einen so zärtlichen Kuss, wie ich ihn noch nie erlebt hatte.

In den nächsten Wochen erkundeten wir gemeinsam das Sauerland: das Felsenmeer in Hemer, die Sieben Jungfrauen zwischen Hemer und Balve, den Hexenteich bei Menden und die Genkeltalsperre zwischen Gummersbach und Meinerzhagen, Jeder Tag war schöner als der vorherige, ich hatte das Gefühl, endlich angekommen zu sein und ich musste immer wieder an ein Lied von Milva denken:

Wer wird als Frau denn schon geboren,

man wird zur Frau doch erst gemacht.

Ich mag dich, weil du klug und zärtlich bist

und doch das ist es nicht allein.

Du zeigst mir immer, dass es möglich ist,

ganz Frau und trotzdem frei zu sein.

Es war der Anfang einer wunderbaren Liebesgeschichte.