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Wörlitz

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Ralf Lothar Knop

Evelyn

Roman

Band I




















Foto Titelseite: Ralf Lothar Knop

Quelle: G. Jörg, Quell-Verlag Stuttgart






Für meinen geliebten Opa Joseph Knop








Es ist schrecklich für Kinder, wenn sie feststellen, dass ihre Eltern Menschen sind.


Ich bin Evelyn von Mallinckrodt und ich habe schwere Schuld auf mich geladen. Meine Mama und mein Papa haben mich deswegen verstoßen und sie haben mir die Liebe genommen, die ich so nötig gebraucht hätte. Für sie schreibe ich diesen Bericht, nicht in der Hoffnung, dass sie mir verzeihen, aber vielleicht können sie dann besser verstehen, was ich getan habe. Ich erwarte auch nicht, dass sie mir ihre Liebe noch einmal schenken, mein seligster Wunsch besteht ausschließlich in der Erfüllung einer einzigen Bitte, ich möchte, dass sie mich wieder als ihre Tochter anerkennen, damit ich nicht länger ohne Wurzeln durch dieses Leben taumeln muss. Obwohl ich vollkommen aus dem Rahmen gefallen bin, brauche auch ich einen Boden, auf dem ich wachsen kann oder wenigstens das Gefühl, dass ich in dieser Welt nicht vollkommen überflüssig bin, weil ich den Menschen immer nur Unglück gebracht habe.

„From the moment I could talk, I was ordered to listen”, dieses Gefühl begleitet mich schon ein Leben lang, doch ich möchte nicht länger schweigen. Inzwischen bin ich über fünfzig Jahre alt, aber ich fühle mich wie ein kleines Kind und das soll auch so sein, denn ich bin jetzt die kleine Evelyn, die zu ihrer Mama und ihrem Papa kommt, weil sie endlich auf den Schoß genommen werde möchte.

Liebe Mama, lieber Papa, bevor ich in diese Welt kam, haben sich in eurer Familie oder darf ich sagen in unserer Familie, in meiner Familie, viele Dinge ereignet, die ich von euch erfahren habe und die ich zunächst noch einmal in euer Gedächtnis rufen möchte. Bitte versteht mich nicht falsch, ich habe nicht das Recht, über diese Menschen zu urteilen oder gar sie zu verurteilen, ich möchte nur zeigen, dass ich vielleicht durchaus in diese Familie gehöre und nicht vollkommen aus dem Rahmen gefallen bin.

Ich bitte euch, hört mir zu, bis zum Ende. Ich habe so lange geschwiegen, habe meine Schuld ganz alleine getragen, doch nun habe ich große Angst, dass ich unter dieser Last zusammenbreche. Mehr als die Hälfte meines Lebens ist vorüber, ohne dass ich jemals das Gefühl gehabt hätte, dass ich diejenige bin, die darüber bestimmt, was in meinem Leben geschieht. Ganz im Gegenteil, ich habe mich immer treiben lassen, treiben lassen von anderen Menschen, andere Menschen haben mein Leben bestimmt. Ich will nun endlich versuchen, zumindest teilweise ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Ich will weder meine eigene Vergangenheit, noch die meiner Familie vergessen, denn durch sie bin ich zu dem Menschen geworden, der ich heute bin, aber ich will lernen, diese Vergangenheit zu akzeptieren als Teil meines Lebens. Anfangen möchte ich bei dem, was du, Mama, mir über deine eigene Vergangenheit erzählt hast.

Deine Mutter, Oma Erika, wohnte mit ihren Eltern in Wörlitz in der Nähe des Wörlitzer Bahnhofs, bis sie nach ihrer Schulzeit mit vierzehn Jahren auf einem Gutshof ganz in der Nähe von Wörlitz ihren Dienst als Magd und Haushaltshilfe antrat. Dort hatte sie ein winzig kleines Zimmer im Dachgeschoss des Herrenhauses, neben Unterkunft und Verpflegung bekam sie nur ein sehr geringes Taschengeld. Trotzdem fühlte sie sich dort sehr wohl, weil sie froh war, endlich ein Leben unabhängig von ihren Eltern führen zu können, auch wenn sie natürlich weiterhin in totaler Abhängigkeit lebte, lediglich die Herrschaften waren andere. Der Gutsherr und sein Sohn waren mit ihrer Arbeit sehr zufrieden, sodass sich ihre Arbeit immer mehr auf die Hilfe im Haushalt beschränkte.

Nach acht Jahren, Oma Erika war inzwischen 22 Jahre alt, wurde der erste Enkel des Gutsherren geboren. Klaus war ein süßes kleines Baby, wie wahrscheinlich die meisten Babys, und Oma Erika hat ihn vom ersten Tag an in ihr Herz geschlossen, sie entwickelte regelrechte Muttergefühle und da auch Klaus sich bei ihr wohl zu fühlen schien, wurde ihr zusätzlich zur Hausarbeit auch noch die Fürsorge des kleinen Klaus übertragen. In den nächsten Jahren konnte man immer stärker den Eindruck gewinnen, dass Erika die eigentliche Mutter war, deshalb stellte der Gutsherr eine weitere Magd ein, damit Erika sich ausschließlich um seinen Enkel Klaus kümmern konnte.

Als Klaus fünf Jahre alt war, bekam er plötzlich hohes Fieber und lauter rote Flecken im Gesicht und am ganzen Körper. Sofort wurde der Hausarzt, Dr. Bernd Rössler, gerufen, der sehr schnell Masern diagnostizierte, er verordnete absolute Bettruhe und die Verdunklung des Zimmers, in dem Klaus schlief. Außerdem sollte Erika dafür sorgen, dass Klaus sehr viel Flüssigkeit zu sich nahm. Dr. Rössler verabschiedete sich von Erika mit dem Hinweis, dass er in drei Tagen wieder vorbeischauen würde. Obwohl Klaus in den nächsten Tagen die meiste Zeit schlief, blieb Erika von morgens bis abends an seinem Bett sitzen, da sie sich sehr große Sorgen machte.

Am dritten Tag war Erika schließlich so erschöpft, dass sie sich am späten Nachmittag, als Klaus tief und fest schlief, auf ihr Zimmer zurückzog, um sich ein wenig auszuruhen. Sie legte sich auf ihr Bett und schlief sofort ein, wurde jedoch nach kurzer Zeit durch ein Klopfen an ihrer Tür wieder geweckt. Sofort sprang sie auf und öffnete die Tür.

„Dr. Rössler, um Gottes Willen, ist etwas passiert, ist mit Klaus alles in Ordnung?“

„Keine Sorge, mit Klaus ist alles in Ordnung, er befindet sich sogar auf dem Weg der Besserung, das Fieber ist schon wieder gesunken. Ich denke, in vier bis fünf Tagen wird er wieder vollkommen gesund sein. Ich bin hier, weil Masern eine hoch ansteckende Viruserkrankung ist und da Sie die ganze Zeit bei Klaus im Zimmer waren, muss ich Sie natürlich untersuchen, damit ich sicher gehen kann, dass Sie sich nicht angesteckt haben und die Krankheit weiter verbreiten. Ich muss Sie bitten, sich vollständig auszuziehen, damit ich Sie gründlich auf irgendwelche Anzeichen für die Krankheit untersuchen kann.“

Erika stand wie angewurzelt vor Dr. Rössler und wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Einerseits war sie zwar in großer Sorge um ihre eigene Gesundheit und die der Familie des Gutsherren, andererseits hatte sie sich noch nie vor einem Mann vollkommen entblößt, sodass ihr Schamgefühl sie daran hinderte, der Aufforderung des Arztes nachzukommen. Schließlich beruhigte sie sich mit dem Gedanken, dass Dr. Rössler mindestens zwanzig Jahre älter war als sie und sicherlich kein Interesse an einer einfachen Magd hätte.

„Nun machen Sie schon, Sie sind hier beim Arzt und ich habe nicht ewig Zeit.“

Dr. Rössler hatte seine letzten Worte mit ziemlichem Nachdruck gesprochen, sodass Erika vollkommen eingeschüchtert war und sich beeilte, ihre Kleidung abzulegen. Als sie nackt vor dem Arzt stand, schloss sie ihre Augen, weil sie meinte, die Scham dann besser ertragen zu können. Dr. Rössler nahm ein Stethoskop aus sein Arzttasche und hörte ihre Brust ab, dann drehte er sie um und horchte auch ihren Rückenraum mit dem Stethoskope ab. Schließlich legte er das Stethoskop zur Seite, griff Erika von hinten unter ihre Arme und umfasste ihre Brüste mit beiden Händen. Während er ihre Brüste massierte, sagte er, dass sich die Krankheit bei Frauen manchmal als erstes in den Brüsten entwickle.

Der Arzt schob Erika vor sich her und legte sie aufs Bett, er selbst kniete sich aufs Bett, öffnete seine Hose, ließ sie auf die Knie runter, dann drückte er mit einem Knie Erikas Beine auseinander, legte sich auf sie und drückte seinen harten Penis mit einem kräftigen Stoß tief in Erika hinein. Während Dr. Rössler sich auf Erika abarbeitete, öffnete sie ihre Augen und starrte an die Decke, sie wagte es nicht, sich zu bewegen. Außer einem kurzen unterdrückten Schrei, als er in sie hineingestochen war, blieb sie vor Entsetzen völlig stumm.

Mit einem leisen Stöhnen ließ der Arzt sich auf Erika nieder und drückte sie mit seinem ganzen Gewicht aufs Bett nieder, eine Weile blieb er reglos auf ihr liegen, dann stand er auf, zog seine Hose hoch und verschwand, ohne ein einziges Wort zu sagen. Erika lag noch lange auf ihrem Bett, ohne dass sie fähig gewesen wäre, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Wie im Traum stand sie schließlich auf, ging zum Tisch, auf dem eine Waschschüssel mit Wasser stand, nahm einen Waschlappen und wischte sich den Schleim und das Blut von ihren Oberschenkeln, sie hüpfte einige Minuten im Zimmer herum, in der Hoffnung, auf diese Weise allen Samen aus ihrer Vagina entfernen zu können. Sie zog sich an und legte sich wieder auf ihr Bett, an diesem Abend konnte sie sich nicht mehr um Klaus kümmern und als jemand an ihre Tür klopfte, sagte sie, dass sie krank sei.

Natürlich war Erikas Methode zur Verhinderung einer Schwangerschaft wenig effektiv, zwar gab sie die Hoffnung noch nicht auf, als ihre Periode das erste Mal ausblieb, doch als sie dann auch im nächsten Monat ausblieb, musste sie erkennen, dass sie schwanger war. Im Haus wunderten sich alle darüber, dass Erika nicht mehr, wie gewohnt und wie es der Würde des Hauses angemessen war, die Treppe mit gemäßigten Schritten herunterkam, sondern plötzlich die Treppe heruntersprang, indem sie immer drei bis vier Stufen auf einmal nahm, doch auch diese Methode führte bei ihr nicht zu einem Abort, sodass sie sich schließlich mit der Tatsache abfand, dass sie wohl ein Kind gebären würde.

Als sich diese Erkenntnis bei ihr endgültig durchgesetzt hatte, ließ sie sich in der Praxis von Dr. Rössler einen Termin geben. Da dem Arzt der Name Erika Schultheiß vollkommen unbekannt war, machte er sich auch keinerlei Gedanken, als er am Morgen den Namen einer neuen Patientin auf seinem Terminkalender entdeckte. Erst als er seine Sprechstundenhilfe fragte, ob sie wisse, wer diese Frau sei und als Antwort erhielt, dass es das Kindermädchen vom Wörlitzer Gutshof sei, erschrak er ein wenig, weil dadurch unangenehme Erinnerungen bei ihm ausgelöst wurden, Zwar ahnte er nicht wirklich, was da auf ihn zukommen würde, doch ganz geheuer war ihm die Sache nicht und er nahm sich vor, Erika so schnell wie möglich wieder loszuwerden.

Als Erika das Behandlungszimmer betrat, beugte sich Dr. Rössler lange Zeit über seinen Schreibtisch und tat so, als würde er eine Krankenakte intensiv studieren, er hoffte, Erika durch die lange Wartezeit einschüchtern zu können. Schließlich schaute er auf, vermied jedoch einen direkten Blickkontakt mit Erika.

„Mein Kind, was kann ich für dich tun?“

„Herr Dr., ich bin schwanger.“

„Wenn du dir da schon ganz sicher bist, werde ich dich am besten an einen Frauenarzt in einem anderen Ort überweisen. Schließlich bist du nicht verheiratet und wenn der Gutsherr davon erfährt, wirst du deine Stelle wahrscheinlich verlieren. Kennst du denn den Vater deines Kindes und ist er wenigstens bereit, dich zu heiraten?“

„Herr Dr., Sie sind der Vater meines Kindes.“

„Mein Kind, du solltest wirklich vorsichtig sein mit solchen Verleumdungen, ich habe hier schließlich einen guten Ruf zu verlieren. Wenn du glaubst, mit solchen falschen Behauptungen von mir Geld erpressen zu können, dann werde ich dir zeigen, was mit solchen Huren wie du bei uns passieren kann.“

Erika fing an zu schluchzen, die Tränen rollten über ihre hochroten Wangen und mit kaum noch verständlicher Stimme sprach sie ganz leise:

„Ich habe noch nie mit einem Mann geschlafen bis Sie mich vergewaltigt haben und danach auch nicht.“

„Das ist aber nun ein sehr hässliches Wort und es stimmt ja auch gar nicht, denn ich hätte doch niemals mit dir verkehrt, wenn ich nicht ganz deutlich gespürt hätte, dass du es auch willst. Wenn du das in der Öffentlichkeit behauptest, werde ich dich ins Gefängnis stecken lassen.“

Dr. Rössler erinnerte sich, dass er, als er sich an dem Abend nach der Vergewaltigung entkleidete, Blut an seinem Penis entdeckt hatte; er wusste also sehr genau, dass er es war, der Erika entjungfert hatte, deswegen versuchte er nun einzulenken, denn er wollte diese peinliche Angelegenheit so schnell wie möglich aus der Welt schaffen.

„Nun pass mal auf, mein Kind, wer auch immer der Vater deines Kindes ist, ich bin ja bereit, dir in deiner Notlage zu helfen. Sobald das Kind geboren ist, werde ich dir jeden Monat einen gewissen Betrag geben, vorausgesetzt, du erzählst niemandem von deiner Geschichte und vor allem meine Frau darf natürlich niemals etwas davon erfahren.“

Erika hatte nicht gewusst, dass Dr. Rössler verheiratet war und in ihrer Naivität hatte sie tatsächlich geglaubt, dass der Arzt sich zu seiner Vaterschaft bekennen würde, insgeheim hatte sie sogar gehofft, dass er bereit sei, sie zu heiraten. Die letzten Worte des Arztes trafen sie deshalb wie ein gewaltiger Donnerschlag und sie rannte weinend aus der Praxis.

In der darauffolgenden Woche, sie spielte gerade mit dem kleinen Klaus, der inzwischen wieder vollkommen genesen war, wurde sie zum Gutsherrn gerufen.

„Meine liebe Erika, du weißt, dass wir in den zurückliegenden Jahren immer mit dir zufrieden waren, du hast gute Arbeit geleistet, warst stets fleißig und hast dich sehr fürsorglich um unseren kleinen Klaus gekümmert. Deswegen haben wir dich auch für ein frommes und moralisches Mädchen gehalten. Aber was wir jetzt von dir hören müssen, hat uns doch sehr erschüttert.“

Erika stand wie angewurzelt vor dem Gutsherrn, die Tränen liefen wieder über ihre Wange und sie war nicht in der Lage, auch nur ein einziges Wort zu sprechen.

„Wenn es nur darum ging, dass du ein Kind der Sünde unter deinem Herzen trägst, hätten wir vielleicht ja noch bis zu einem gewissen Grad Verständnis gezeigt, wir sind schließlich keine Unmenschen. Du hättest bis zur Geburt des Kindes bei einem befreundeten Ehepaar arbeiten und anschließend auf unseren Hof zurückkehren können.

Aber nun müssen wir erfahren, dass du den seit vielen Jahren in unserer Gemeinde wohnenden ehrenwerten Dr. Rössler beschuldigst, dich … der Vater deines Kindes zu sein. Eine solche Ungeheuerlichkeit können wir natürlich auf gar keinen Fall dulden. Herr Dr. Rössler ist nicht nur ein tadelloser Arzt, sondern ich bin auch persönlich mit ihm befreundet und deswegen weiß ich nur allzu gut, dass dieser Mann zu solch einer Schandtat, wie du sie ihm unterstellst, niemals fähig wäre. Anstatt deine Sünde zu bereuen, Gott um Vergebung zu bitten, und dich demütig in dein Schicksal zu ergeben, fügst du dieser Sünde noch eine weitere, viel größere Sünde hinzu, indem du gegen das Gebot der Nächstenliebe verstößt und Herrn Dr. Rössler auf schändliche Weise verleumdest, um daraus deinen egoistischen Vorteil zu ziehen.

Du wirst sicherlich verstehen, dass wir dir unter diesen Umständen fristlos kündigen müssen, zumal wir es nicht dulden können, dass unser Klaus weiterhin in Kontakt mit einer solch impertinenten Person steht. Aber, wie gesagt, sind wir im Gegensatz zu dir keine Unmenschen, deswegen habe ich dir ein halbwegs gutes Zeugnis geschrieben und du bekommst Geld für einen weiteren Monat, vorausgesetzt, du verlässt noch heute unseren Hof und lässt dich hier nie wieder blicken.

Solltest du dich weigern, werden wir die Polizei verständigen und dich verhaften lassen. Du kannst gehen und deine Sachen packen.“

Erika konnte kaum noch atmen, sie war nicht nur unfähig zu denken, sie nahm auch nichts mehr um sie herum wahr, weder den Gutsherren, noch den Raum, in dem sie sich befand. Sie starrte ins Leere und wie von fremder Hand gesteuert verließ sie den Raum, ging auf ihr kleines Zimmer, packte ihre wenigen Sachen und verließ das Haus und den Hof.

Natürlich konnte sie nicht zu ihren Eltern gehen, denn sie war sich sicher, dass ihre Eltern keinerlei Verständnis für ihre Situation haben würden. Ganz im Gegenteil, obwohl Erika inzwischen schon 27 Jahre alt war, hätte ihr Vater ihr wahrscheinlich eine Tracht Prügel verpasst und sie dann wieder aus dem Haus gejagt.

Vollkommen planlos irrte Erika herum, bis sie plötzlich am Ufer des Wörlitzer Sees stand. Stundenlang starrte sie auf den See, ohne irgendeinen Entschluss fassen zu können. Die Leere in ihrem Kopf wich allmählich den ersten Gedanken.

Sie erinnerte sich, dass sie direkt neben Dr. Rössler gestanden hatte, als er den kleinen Klaus untersuchte, in ihrer Sorge um das Kind wollte sie Klaus auch keinen Moment aus den Augen lassen. War sie dem Arzt vielleicht zu nahe gekommen, hatte sie ihn vielleicht in ihrer Unachtsamkeit sogar berührt, womöglich sogar mit ihren Brüsten seinen Arm gestreift? War das, was danach geschah, vielleicht doch ihre eigene Schuld? Ihre Mutter hatte sie doch immer gewarnt vor den Männern, die Männer können nicht anders, sie brauchen das wie das tägliche Brot; für uns Frauen ist es keine wirkliche Freude, deswegen müssen wir dafür sorgen, dass die Männer es erst bekommen, wenn sie auch bereit sind, für unser tägliches Brot zu sorgen.

Je länger Erika darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass es wirklich ihre eigene Schuld war und deshalb hätte sie auch niemals Dr. Rössler in diese unangenehme Situation bringen dürfen. Sie hatte dadurch Sünde auf Sünde gehäuft und nun war sie dabei, noch eine weitere Sünde zu begehen, indem sie sich und das Kind tötete. Nein, sie musste ihre Schuld tragen und sie war bereit, Buße zu tun und auch ihr Kind sollte die gerechte Strafe bekommen.

Ich bin der HERR, ich habe Geduld, meine Güte ist grenzenlos. Ich vergebe Schuld und Auflehnung; aber ich lasse nicht alles ungestraft hingehen. Wenn sich jemand gegen mich wendet, dann bestrafe ich dafür noch seine Kinder und Enkel bis in die dritte und vierte Generation.“

Langsam kehrte der Lebenswille zurück, Erika ging zum Wörlitzer Bahnhof und löste eine Fahrkarte nach Dessau. Am Bahnhof in Dessau fragte sie einen Mann, ob er ihr eine günstige Unterkunft in Dessau nennen könnte.

„Entschuldigen Sie, wissen Sie vielleicht, ob es hier in der Nähe eine billige Unterkunft gibt?“

„Hast du schon mal in einem Wirtshaus gearbeitet?“

„Nein, aber ich habe viele Jahre als Magd und als Haushaltshilfe auf einem Gutshof gearbeitet.“

„Das ist auch gut. Ich habe ein Wirtshaus im Auenweg, wenn du willst, kannst du bei mir anfangen, zunächst mal in der Küche, da kennst du dich ja sicher schon aus und später vielleicht auch als Bedienung. Viel kann ich dir natürlich nicht bezahlen, aber du bekommst ein kleines Zimmer und Essen bekommst du natürlich auch. Also, wie ist es?“

Erika konnte ihr Glück nach dieser Katastrophe gar nicht fassen und sie sagte natürlich sofort zu.

Die Arbeit in der Küche war für Erika wie gewohnt sehr leicht, sodass der Gastwirt, Karl Berger, mit ihr sehr zufrieden war. Dass Erikas Bauch sich allmählich wölbte, führte Karl zunächst auf das gute Essen in seinem Wirtshaus zurück, doch nach einigen Monaten ließ sich die Schwangerschaft nicht länger verheimlichen.

„Na, mir scheint, dass ich da jetzt ja noch einen zweiten Balg durchfüttern muss. Das hättest du mir sagen müssen, aber jetzt ist es auch egal, Hauptsache du machst deine Arbeit weiter, damit bin ich ja sehr zufrieden. Vor allem, weil ich festgestellt habe, dass die Gäste noch mehr trinken, wenn du bedienst. Aber damit das klar ist, wenn der Balg geboren wird und solange du nicht arbeiten kannst, bekommst du natürlich auch kein Geld, aber du kannst hier wohnen bleiben und zu essen kriegst du natürlich auch.“

„Vielen Dank, Herr Berger, das ist sehr nett von Ihnen.“

Erika war froh über diese Vereinbarung und vor allem darüber, dass Karl nicht ein einziges Mal danach fragte, wer eigentlich der Vater sei. Die Gäste hörten auf, Erika auf den Hintern zu klopfen, stattdessen streichelte der eine oder andere über ihren Bauch, wenn sie das Essen servierte: „Na, da ist ja noch ein Braten im Ofen!“

Erika hatte sich längst an die derbe Art der Gäste gewöhnt und wenn es ihr wirklich mal zu viel wurde, erinnerte sie sich daran, dass sie für ihre Schuld bestraft wurde und dass dies nun wohl die Buße sei, die ihr auferlegt wurde. Alles in allem war sie mit ihrer Situation sehr zufrieden.

Evelyn

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