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Pfaffenrod

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In der Nähe von Fulda wurden sie zunächst auf einem Bauernhof einquartiert, wo sie als Flüchtlinge allerdings nicht besonders freundlich empfangen wurden. Erst als Erika sich bereit erklärte, bei der Arbeit und im Haushalt mitzuhelfen, wurden die Aggressionen etwas weniger und man ließ sie weitgehend in Ruhe, vor allem auch, weil man Charlotte ins Herz geschlossen hatte.

Nach dem Krieg besserte sich ihre Lage, als sie durch Zufall eine kleine Wohnung in Pfaffenrod bekamen und Alfons eine Stelle als Pförtner in einem Krankenhaus in Fulda fand. Da er nur Frühschicht machte, konnte Erika am Abend wieder in einer Gaststätte arbeiten, sodass sie sich in der Betreuung von Charlotte abwechseln konnten. Wegen der unterschiedlichen Arbeitszeiten sahen sich Erika und Alfons immer seltener, sodass es kaum noch Streitereien zwischen ihnen gab. Umso heftiger wurden aber jetzt die Auseinandersetzungen zwischen Charlotte und ihrer Mutter. Je älter Charlotte wurde, desto besser war sie in der Lage, sich gegen ihre Mutter zur Wehr zu setzen, jedenfalls ließ sie sich immer weniger von ihrer Mutter gefallen.

Charlotte war froh, wenn sie morgens das Haus verließ, um in die Schule zu gehen, denn da sie bei den Lehrern und Mitschülern außerordentlich beliebt war, machte ihr das Lernen auch sehr viel Spaß. Da ihre Noten durchweg gut und sehr gut waren, bestand sie auch mit Leichtigkeit die Aufnahmeprüfung an einem Gymnasium in Fulda. Nun war sie noch länger von ihrer Mutter fort, da sie ja mit dem Bus und dem Zug nach Fulda fahren musste und deswegen auch erst spät am Nachmittag nach Hause kam. Wenn sie in Fulda einen späteren Zug nahm, konnte sie es sogar schaffen, erst nach Hause zu kommen, wenn ihre Mutter schon zur Arbeit gegangen war. Aber am Sonntag wurden die Auseinandersetzungen dann umso heftiger.

„Was glaubst du eigentlich, wer du bist, dass ich dir den Arsch hinterhertragen soll? Nur weil du gute Noten hast, glaubst du wohl, du seist was Besseres. Ich will dir mal was sagen, Fräulein, dein Vater, den du so sehr liebst, ist überhaupt nicht dein Vater. Dein wirklicher Vater ist nämlich ein Verbrecher, der mich vergewaltigt hat, aber als Arzt konnte er sich eben alles erlauben und er hat alles abgestritten und niemand hat mir geglaubt. Wenn du glaubst, was Besseres zu sein, dann kannst du ja zu ihm gehen und dann werden wir ja sehen, ob er auch alles für dich tut, so wie ich.“

Charlotte war so schockiert, dass sie keine Widerworte geben konnte. Alfons, nicht ihr Vater, ihr Vater, den sie wirklich über alles liebte. Es schmerzte sie nicht so sehr die Tatsache, dass ihre Mutter sie so lange darüber im Unklaren gelassen hatte, als vielmehr der Verlust, den diese Tatsache ja für sie bedeutete. Sie hasste ihre Mutter und nun wurde ihr auch noch der Vater genommen. Sie hatte keinerlei Zweifel darüber, dass Alfons ihr diese Tatsache verschwiegen hatte, weil er sie so sehr liebte und weil er sie wirklich als seine eigene Tochter betrachtete, aber trotzdem musste sie doch auch ihren leiblichen Vater kennenlernen.

Sie hatte gehört, dass man beim Roten Kreuz nach Personen suchen lassen konnte, sie wusste, dass es dabei eigentlich um im Krieg vermisste Soldaten ging, aber sie wollte es wenigstens versuchen und tatsächlich versprach man ihr, nach ihrem Vater zu suchen, was nicht so schwierig war, da er ja nicht wirklich vermisst wurde. Auch stellte man keinerlei Fragen, weil Charlotte noch minderjährig war und natürlich konnte man nicht überprüfen, ob es sich bei Dr. Bernd Rössler wirklich um ihren Vater handelte. So erhielt Charlotte schon nach vierzehn Tagen einen Brief, in dem ihr die jetzige Adresse ihres leiblichen Vaters mitgeteilt wurde.

Natürlich reichte ihr weniges Taschengeld nicht aus, um eine Fahrt nach West-Berlin, wo ihr leiblicher Vater jetzt lebte, zu bezahlen, auch musste sie ja wenigstens ein oder zwei Nächte in Berlin übernachten. Aber Charlotte wurde von einem so starken Willen getrieben, ihren leiblichen Vater kennenzulernen, dass sie in der nächsten Zeit jede Tätigkeit annahm, mit der sie etwas Geld verdienen konnte. Tatsächliche schaffte sie es bis zu den nächsten Sommerferien genug Geld zu haben, um für ein paar Tage nach Berlin zu fahren.

Als sie vor dem Haus stand, dessen Adresse ihr das Rote Kreuz gegeben hatte, las sie auf einem Schild: Dr. Bernd Rössler, Allgemeinmediziner. Charlotte fing an zu schwitzen und zitterte am ganzen Körper, nach ein paar Minuten fiel ihr auf, dass sie in diesem Zustand sehr gut eine schwere Erkältung vortäuschen konnte, also fasste sie sich ein Herz und ging in die Praxis hinein. Nachdem man ihre Personalien aufgenommen hatte, nahm sie im Wartezimmer Platz und wartete.

Dr. Bernd Rössler konnte sich dieses Mal sehr wohl an den Namen erinnern und deshalb nahm er von Anfang an eine abweisende Haltung ein, zumal Charlotte in seinem Sprechzimmer keine Erkältung mehr vortäuschte, sondern sofort auf den wahren Grund für ihren Besuch zu sprechen kam.

„Mein Name ist Charlotte Schultheiß und ich habe vor einigen Monaten erfahren, dass Sie mein Vater sind.“

„Offensichtlich ist die Tochter genauso impertinent wie die Mutter. Ich habe damals deiner Mutter gesagt, dass ich sie verklagen würde, falls sie jemals behauptet, dass ich dein Vater sei. Nun, das ist lange her und unter vier Augen kann ich dir ja heute sagen, dass ich tatsächlich dein Vater bin. Aber für dich gilt das Gleiche wie für deine Mutter, falls du das jemals in der Öffentlichkeit behauptest, werde ich auch dich verklagen. Nun hast du mich kennengelernt, hier hast du Geld für deine Rückreise und nun verschwinde und lass dich hier nie wieder blicken.“

Charlotte lief weinend aus der Praxis und fuhr noch am selben Tag nach Fulda zurück. Im Zug entschied sie, dass dieser Mensch nicht ihr Vater sei, damit war für sie diese Angelegenheit beendet und Alfons war wieder ihr geliebter Vater. Allerdings war ihre Beziehung zu ihrer Mutter für sie immer noch unerträglich, was sich sofort nach ihrer Rückkehr erneut bestätigte.

„Und, kennst du jetzt deinen Vater? Hat er sich gefreut, seine Tochter endlich kennenzulernen? Wahrscheinlich hat er dich gleich als seine Erbin in sein Testament aufgenommen.“

„Nein, du hattest Recht, er hat sich nicht gefreut, mich zu sehen, ganz im Gegenteil, er hat mich mit ein paar Mark abgespeist und mich dann aus seiner Praxis rausgeschmissen. Er will mich nie wiedersehen. Bist du jetzt zufrieden, dass sich deine Meinung erneut bestätigt hat?“

„Ich brauchte keine Bestätigung für meine Meinung, ich wusste, dass er ein Schwein ist. Aber ich bin froh, dass es dir auch nicht besser gegangen ist als mir. Vielleicht weißt du ja jetzt endlich, dass ich die einzige bin, auf die du dich verlassen kannst.“

„Ja, das stimmt, auf deine Gemeinheiten kann ich mich wirklich verlassen.“

„Du undankbares Rotzblag, wer hat denn für dich all die Jahre gesorgt, wer hat denn das Geld herbeigeschafft und sich anschließend noch zu Hause abgeschuftet, während du und dein Stiefvater euch nur vergnügt und auf der faulen Haut gelegen habt. Der Krüppel hat doch nicht für dich gesorgt, die paar Mark, die er jetzt verdient hätten dich doch auch nicht am Kacken gehalten. Geh mir bloß aus den Augen!“

„Wer hätte dich alte Jungfer denn noch geheiratet, wenn nicht mein Papa gewesen wäre!“

Es wäre gar nicht nötig gewesen, dass ihre Mutter einen Schuh nach ihr warf, Charlotte rannte ohnedies schon aus der Wohnung. Die Tränen liefen über ihre Wangen, als sie durch das Dorf rannte, sie lief bis zum nahegelegenen kleinen Wald, wo sie sich auf eine Bank setzte und auf das Dorf schaute. Hier blieb sie lange sitzen, ohne dass sie in der Lage gewesen wäre, einen klaren Gedanken zu fassen, doch nach und nach wurde ihr immer klarer, dass sie es einfach nicht länger aushalten wollte, von ihrer Mutter ständig so schikaniert zu werden und deshalb gab es nur eine einzige Lösung, sie musste ihre elterliche Wohnung verlassen. Zwar würde dies auch eine Trennung von ihrem Vater bedeuten, doch sie würden sich ja immer noch sehen können.

Ein viel größeres Problem schien ihr die Frage zu sein, wie sie ihr Leben finanzieren sollte. Mit ihren sechzehn Jahren konnte sie natürlich schon Geld verdienen, aber sie wollte die Schule nicht aufgeben und deshalb würde das Geld, das sie in ihrer Freizeit verdienen kann, sicherlich nicht ausreichen, um die Miete für ein eigenes Zimmer zu bezahlen und noch genug zum Leben zu haben. Dann kam ihr der Gedanke, in Fulda zum Jugendamt zu gehen und dort um Hilfe zu bitten.

Noch vor dem Ende der Sommerferien fuhr sie nach Fulda zum Jugendamt, wo man sie zu einer Frau Gisela Weichelt schickte. Frau Weichelt war eine sehr korpulente und sehr freundliche Frau, die sich geduldig Charlottes Geschichte bis zum Ende anhörte.

„Es ist gut, dass sie zu mir gekommen sind, ich kenne viele Mädchen, die in der gleichen Situation sind wie Sie und so manche von denen ist schließlich auf der Straße gelandet. Aber wenn wir die Sache in aller Ruhe und geduldig angehen, wird sich das mit Sicherheit vermeiden lassen. Sie müssen nur noch eine Weile zu Hause durchhalten, denn als erstes muss ich mir ein Bild von Ihrer häuslichen Situation machen und dazu werde ich Ihren Eltern einen Termin mitteilen, an dem ich sie besuchen werde. Es wäre gut, wenn bei diesem Termin auch Sie selbst und Ihr Vater anwesend sein könnten. Bitte versuchen Sie bis dahin möglichst alle Auseinandersetzungen mit Ihrer Mutter zu vermeiden und vor allem gehen Sie wieder regelmäßig zur Schule, wenn die Sommerferien in der nächsten Woche vorbei sind. Wir sehen uns dann in etwa vier Wochen, so lange dauert es leider, bis ich einen Termin für einen Hausbesuch frei habe. Bis dahin alles Gute.“

Charlotte war nach diesem Gespräch erleichtert und absolut zuversichtlich, dass es ihr gelingen würde, endlich ein Leben ohne ihre Mutter und ohne ihre Wut und ihren Hass führen zu können. Um den nächsten Streit zu vermeiden, erzählte sie ihrer Mutter natürlich nichts von ihrem Besuch beim Jugendamt, sie wusste nur allzu gut, dass der Brief vom Jugendamt noch früh genug den nächsten Wutausbruch hervorrufen würde. Dieser Brief kam bereits nach einer Woche, allerdings stand als Grund für den Hausbesuch lediglich „Gespräch über Ihre Tochter“ in diesem Brief, sodass Charlottes Mutter immer noch nicht wusste, worum es wirklich gehen würde. Vielmehr gingen ihre Vermutungen in die völlig falsche Richtung.

„Was hast du denn jetzt schon wieder angestellt? Mit dir kommt man einfach nicht zur Ruhe. Aber ich sage dir, wenn das Jugendamt dich in ein Heim stecken will, werde ich nichts dagegen unternehmen. Ganz im Gegenteil, dann bin ich dich endlich los und dann werde ich deinen Krüppel von Stiefvater auch noch aus dem Haus schmeißen, damit ich endlich mal ein vernünftiges Leben führen kann.“

Frau Weichelt hatte den Termin für den Hausbesuch so gelegt, dass Alfons von seiner Frühschicht bereits zu Hause war und Erika noch nicht zur Arbeit gegangen war, auch Charlotte war schon von der Schule nach Hause gekommen. Frau Weichelt begrüßte jeden Einzelnen mit Handschlag und machte denselben freundlichen Eindruck wie im Amt. Erika hatte kein Interesse an einem längeren Gespräch, deswegen bot sie Frau Weichelt weder einen Platz noch etwas zu trinken an.

„Ich will gar nicht wissen, was meine Tochter angestellt hat, von mir aus können Sie meine Tochter gleich mitnehmen, dann herrscht hier endlich Ruhe.“

„Könnten wir uns vielleicht erst einmal hinsetzen und zur Ruhe kommen? Es gibt da doch einige Details zu besprechen, die man nicht auf die Schnelle erledigen kann.“

„Wenn es unbedingt sein muss, aber ich muss bald zur Arbeit, damit diese beiden Faulenzer auch was zu essen kriegen.“

„Liebe Frau Gerber, lieber Herr Gerber, Ihre Tochter Charlotte hat nichts angestellt, sondern sie ist zu mir gekommen, weil sie sehr unter ihren häuslichen Verhältnissen leidet und deswegen gerne hier ausziehen und sich ein kleines Zimmer in Fulda nehmen möchte, wo sie dann alleine leben kann.“

„Das ist ja wohl der Gipfel, sie leidet unter den häuslichen Verhältnissen. Ich will Ihnen mal was sagen, seit Jahren schufte ich mich ab und füttere diesen Bastard und diesen Krüppel durch. Ich kann mich nicht erinnern auch nur jemals eine freie Minute gehabt zu haben. Aber was soll’s, soll sie doch gehen, ich lege ihr keinen Stein in den Weg, ganz im Gegenteil, dann wird es hier endlich ruhiger und ich habe eine Person weniger zu versorgen. Wie ich schon sagte, nehmen Sie sie einfach gleich mit.“

„Ganz so einfach ist das nicht, Frau Gerber. Wenn ich zu der Überzeugung komme, dass die häuslichen Verhältnisse für Charlotte unzumutbar sind, dann darf Charlotte nicht nur hier ausziehen, sondern Sie müssen ihr einen Unterhalt zahlen, der an Ihrem Einkommen bemessen wird. Ich will Sie darüber durchaus nicht im Unklaren lassen, dass ich bereits jetzt den Eindruck habe, dass es für Charlottes weitere Entwicklung besser ist, wenn sie hier auszieht. Ich werde Ihnen deshalb in den nächsten Tagen einen Fragebogen zuschicken, auf dem Sie genaue Auskünfte über Ihre Einkommensverhältnisse geben müssen, dazu sind Sie gesetzlich verpflichtet.“

„Ich soll jetzt auch noch weiter für dieses Rotzblag bezahlen, das kommt doch gar nicht in Frage. Jetzt reicht es mir aber, mach dass du aus meiner Wohnung kommst, du fette Kuh!“

Erika sprang auf, ihr Gesicht glänzte vor Zornesröte, sie zog sich einen Pantoffel aus und schlug damit auf Frau Weichelt ein, die in aller Eile nur noch die Wohnung verlassen konnte.

„Und du, Alter, sagst mal wieder kein einziges Wort, du bist doch so ein Waschlappen, kein Wunder, dass man dir einen Arm weggeschossen hat. Und du, Charlotte, geh mir aus den Augen und lass dich hier heute nicht mehr blicken. Am besten haust du gleich ganz ab, aber dass du Geld von mir bekommst, das kannst du vergessen.“

Es dauerte noch eine Weile, aber im darauffolgenden Jahr, Charlotte war inzwischen 17 Jahre alt, war es dann endlich soweit. Das Jugendamt hatte ihr ein kleines möbliertes Zimmer in Fulda besorgt, Spülstein mit kaltem Wasser im Zimmer, Toilette für mehrere Mietparteien auf demselben Flur und eine Dusche, ebenfalls für mehrere Parteien, eine Etage tiefer. Das Jugendamt zahlte die Miete und sie bekam auch Unterhalt vom Jugendamt, wie das Ganze mit ihrer Mutter geregelt wurde, interessierte sie nicht. Es war für sie der Himmel auf Erden.


Evelyn

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