Читать книгу Evelyn - Ralf Lothar Knop - Страница 4

Dessau

Оглавление

Schließlich, liebe Mama, wurdest du 1937 in dem kleinen Zimmer oberhalb des Wirtshauses des Karl Berger in Dessau im Auenweg geboren, ganz alleine, denn Oma Erika wollte weder eine Hebamme noch einen Arzt dabei haben. Insgeheim hatte sie wohl auch gehofft, dass das Kind die Geburt nicht überleben würde, Gottesurteil hatte sie es später genannt. Sie sollte noch des öfteren erleben, dass ihre Wünsche und der Wille Gottes weit auseinanderlagen, denn, so hatte ihre Mutter immer wieder gesagt, in diesem Leben bekommst du nicht, was du willst, sondern was du brauchst.

Obwohl du, liebe Mama, ein unerwünschtes Kind warst, konnte Oma Erika natürlich nicht umhin, dich taufen zu lassen, im Beisein von Karl Berger und dem Mesner Walter Kirchner wurdest du auf den Namen Charlotte Waltraud Schultheiß getauft. Doch deine Mutter, meine Oma Erika, war nicht bereit, sich um dich zu kümmern, jedenfalls zunächst einmal nicht, zumal sie schließlich arbeiten musste und gar keine Zeit hatte, für dich zu sorgen. Wieder einmal war es Karl Berger, der eine Familie kannte, die bereit war, dich in Pflege zu nehmen. An den Namen dieser Familie kannst du dich nicht erinnern, aber du weißt, dass du dich in deinen ersten Lebensjahren sehr wohl gefühlt hast.

Oma Erika war sehr froh, dass sie dich los war und sie teilte auch ihren Eltern nichts von ihrem Kind mit, denn sie wusste nur zu genau, dass sie sich nicht über ihr Enkelkind gefreut hätten, sondern sie wahrscheinlich als Hure beschimpft und sie aus dem Haus geworfen hätten. Sie hörte ihren Vater schon schreien: „Ich habe schon immer gewusst, dass du nur Schande über uns bringst und jetzt hat es sich auch bestätigt, wir wollen mit dir und diesem Balg der Sünde endgültig nichts mehr zu tun haben!“ Genau das war es, was Erika in ihrer jetzigen Situation nun wirklich nicht gebrauchen konnte.

In den nächsten Jahren arbeitete sie entweder unten im Gasthaus oder sie saß alleine oben in ihrem kleinen Zimmer, außer zu Karl und den Gästen hatte sie keinerlei weitere soziale Kontakte.

Wegen des Krieges, der inzwischen ausgebrochen war, hatte die Zahl der Gäste enorm abgenommen, es saßen nur noch ein paar sehr alte Männer und einige wenige Soldaten, die verwundet worden waren oder einen kurzen Heimaturlaub bekommen hatten, in der Gaststube. Meistens waren es auch Gäste, die nur ein einziges Mal in dem Wirtshaus erschienen, um eine Kleinigkeit zu essen oder etwas zu trinken, die Alten hatten nicht genug Geld und die Soldaten mussten bald wieder in den Krieg ziehen, um sich töten oder erneut verwunden zu lassen.

Eines Abends, es war mitten in der Woche und die Gaststube noch vollkommen menschenleer, öffnete sich die Tür und ein Gefreiter, wohl doch schon über vierzig Jahre alt, kam herein und setzte sich an einen Tisch in der hintersten Ecke der Gaststube. Er bestellte ein Bier und ein paar Bratkartoffeln. Erika merkte gleich, dass er nicht, wie die meisten Soldaten, nur in sein Bier starrte, sondern sie ständig beobachte, selbst beim Essen ließ er sie kaum aus den Augen.

Als er seine Bratkartoffeln aufgegessen hatte und Erika den Teller abräumte, bestellte er noch ein zweites Bier und als sie ihm dieses Bier brachte, bat er sie, an seinem Tisch Platz zu nehmen. Da immer noch keine weiteren Gäste in der Wirtstube waren, setzte sie sich zu ihm.

„Bitte entschuldige, dass ich dich die ganze Zeit so angeschaut habe, aber wenn man monatelang nur unter Männern verbringt, kommt einem jede Frau wie ein Engel vor und du bist wirklich besonders schön.“

„Jetzt übertreiben Sie aber. Was machen Sie denn hier in Dessau, anscheinend sind Sie ja gar nicht verwundet?“

„Das stimmt. Ich habe eine Woche Heimaturlaub und meine Eltern wohnen hier in Dessau. Eigentlich bin ich ja schon viel zu alt, um bei den Eltern zu wohnen, doch da ich nicht verheiratet bin, habe ich immer noch keine eigene Wohnung und wie steht es mit dir, hast du einen Mann oder einen Freund?“

Erika ignorierte diese letzte Frage, da es ihr peinlich war, über solche Dinge zu sprechen, sie wollte weder über ihre Familie reden, noch über das, was ihr in den letzten Jahren widerfahren war. Stattdessen unterhielten sich der Gefreite Alfons Gerber und Erika über Alfons Familie, die offensichtlich auch nicht vom Glück verfolgt worden war. Alfons war zwar wesentlich älter als Erika, trotzdem spürte sie eine Wärme von ihm ausgehen, die durchaus keinen väterlichen Charakter hatte. Beiden war es deutlich anzumerken, dass sie gefühlsmäßig vollkommen ausgehungert waren, sodass Erika ihre Hand nicht wegzog, als Alfons anfing, sie zu streicheln.

Gegen zehn Uhr kam Karl Berger zu der Überzeugung, dass es an diesem Tag wohl keine weiteren Gäste mehr geben würde, deshalb beschloss er, das Wirtshaus zu schließen. Nachdem Alfons bezahlt hatte, beugte sich Erika über den Tisch und flüsterte ihm zu, er solle draußen vor der Tür des Hauses warten. An diesem Abend gab es nicht sehr viel aufzuräumen, lediglich die Stühle mussten auf die Tische gestellt werden, damit am nächsten Morgen die Wirtsstube geputzt werden konnte, sodass Erika mit ihrer Arbeit sehr schnell fertig war. Sie schaltete das Licht aus, wünschte Karl eine gute Nacht und ging dann ins Treppenhaus, wo sie betont laut einige Stufen der Treppe hochging. Dann ging sie ganz leise wieder runter, öffnete die Haustür, legte den rechten Zeigefinger auf den Mund und zog Alfons, der vereinbarungsgemäß neben der Haustür gewartet hatte, am Ärmel ins Haus hinein. Er zog seine Schuhe aus und sie gingen gemeinsam die Treppe hinauf in Erikas kleines Zimmer.

Beide standen sich eine Weile schweigend gegenüber, bis Alfons sie schließlich küsste; es war ein wilder und fast schmerzhafter Kuss, der erkennen ließ, dass er vollkommen ausgehungert war. Beide zogen sich aus und warfen sich aufs Bett; hier bestätigte sich, wie ausgehungert Alfons war, denn kaum lag er auf Erika, ergoss er sich auch schon zwischen ihren Schenkeln, ohne dass es ihm gelungen war, in sie einzudringen. Er legte sich neben Erika, flüsterte ganz leise „Tut mir leid!“, und schlief sofort ein.

Erika lag noch lange wach und starrte an die Decke, wieder einmal hatte sie einen Mann über sich ergehen lassen, ohne dass sie wirklich dabei etwas empfunden hätte. Doch diese Mal war sie wenigstens nicht alleine, es lag jemand neben ihr, dessen Wärme sie spürte und so kam sie schließlich zu der Überzeugung, dass das der Preis war, den Frauen zahlen mussten, um geliebt zu werden oder wenigstens um nicht alleine sein zu müssen.

Erika schlief sehr unruhig und wurde auch schon sehr früh wach, denn sie wollte auf gar keinen Fall, dass Karl etwas von ihrem nächtlichen Besuch mitbekam. Deshalb weckte sie Alfons und bat ihn, das Haus ganz leise zu verlassen. In dieser Woche kam Alfons jeden Abend in das Wirtshaus und verbrachte jede Nacht in Erikas Zimmer. Nach der dritten Nacht sagte Karl zu Erika: „Du brauchst deinen neuen Freund nicht jeden Morgen so früh aus dem Haus schicken. Die Wände in diesem Haus sind so dünn, dass nichts lange verborgen bleibt.“ Erika errötete, denn sie hatte wirklich geglaubt, dass Karl von ihren Besuchen nichts mitbekommen hätte. Aber sie war erleichtert, dass ihr Karl keine Vorwürfe machte und darüber, dass sie nun nicht mehr so vorsichtig sein mussten.

Zwar gelang es Alfons in den folgenden Nächten in Erika einzudringen, doch war er jedes Mal nach ein bis zwei Minuten fertig und jedes Mal entschuldigte er sich. Erika war es nun egal, denn sie war jetzt so froh darüber, dass sie endlich nicht mehr ganz alleine war, deshalb fürchtete sie auch das Ende der Woche, denn sie wusste, dass ihr Glück dann schon wieder vorbei sein würde und vor allem fürchtete sie den Abschied, weil sie nicht wusste, ob es für sie ein Wiedersehen geben würde, nicht nur wegen des Krieges, an den dachte sie in diesen Tagen überhaupt nicht, sondern vor allem, weil sie keinerlei Ahnung hatte, ob Alfons nur seine Befriedigung suchte oder ob aus dieser kurzen Woche eine echte Beziehung entstehen könnte. Deswegen war sie froh, als Alfons am letzten Abend dieses Problem ansprach.

„Ich muss morgen wieder zurück zu meiner Einheit. Wirst du auf mich warten? Wirst du noch hier sein, wenn alles vorbei ist? Ich weiß, ich bin viel älter als du und wir kennen uns erst seit einer Woche…. Willst du mich heiraten, wenn ich zurückkommen?“

Damit hatte Erika natürlich auf gar keinen Fall gerechnet, sie war darauf eingestellt, Alfons nie wiederzusehen, vielleicht ein unverbindliches „Wir sehen uns, wenn ich wieder da bin.“, aber auf keinen Fall hatte sie mit einem Heiratsantrag gerechnet. Mit hochrotem Kopf schaute sie Alfons eine Weile an, dann nahm sie ihn in den Arm und flüsterte ihm ein leises „Ja!“ ins Ohr. Anschließend ließ sie Alfons über sich ergehen, während sie mit ihren Gedanken sich ihr zukünftiges Eheleben vorstellte.

Als Erika am nächsten Morgen aufwachte, war Alfons schon fort, sie legte sich noch eine Weile an die Stelle, an der Alfons geschlafen hatte, atmete seinen Geruch tief ein und träumte von ihrem zukünftigen Leben. Die Arbeit im Wirtshaus fiel ihr nun noch leichter, weil sie sich ständig mit der Frage beschäftigte, ob es in ihrem Leben doch noch so etwas wie Glück geben sollte, wodurch sie gar nicht mehr merkte, wie schnell die Zeit verging, oft konnte sie es gar nicht glauben, dass schon wieder Feierabend war.

Ein halbes Jahr war vergangen, als die Tür der Gaststube sich öffnete und Alfons plötzlich wieder im Raum stand. Erika war gerade in der Küche und als sie herauskam, blieb sie zunächst angewurzelt stehen und starrte ihn an; er war so abgemagert, dass sie ihn kaum erkannte. Nachdem sie sich gefasst hatte, ging sie langsam auf ihn zu, blieb einen Moment stehen, dann nahm sie ihn in den Arm. Erst jetzt merkte sie, dass an der Stelle, wo sein rechter Arm gewesen war, nichts weiter war als Leere. Tränen rollten über ihre Wangen, Freudentränen über das Wiedersehen und Schmerzenstränen über den Verlust.

Erika sagte ihm, er solle auf ihr Zimmer gehen und dort auf sie warten, bis sie Feierabend hätte. Als sie dann zusammen im Bett lagen, war Erika froh darüber, Alfons wenigsten für kurze Zeit wieder in sich zu spüren, aber sie war doch sehr enttäuscht darüber, dass die Zärtlichkeiten nun halbiert waren. War das schon das Ende ihres Glücks oder sollte sie diesen halben Mann wirklich heiraten. Genau das war auch die Frage, die er ihr am nächsten Morgen stellte: „Willst du mich immer noch heiraten?“ Natürlich fiel ihm auf, dass sie dieses Mal sehr lange zögerte, aber schließlich sagte sie doch „Ja!“. Ihr war klar, dass sie nicht wirklich eine große Wahl hätte, einen Mann zu finden, der bereit war, eine Frau über dreißig mit einem Kind zu heiraten.

Deswegen war es jetzt auch an der Zeit, ihm endlich zu beichten, dass sie eine Tochter hatte. Sie hatte das Gefühl, dass sie nun einen Arm gegen eine Tochter aufrechnen könnte. Alfons wollte eine Familie, doch so schnell hatte er nicht damit gerechnet, ihm war jedoch auch klar, dass er nicht in der Position war, große Forderungen zu stellen. Mit einem Arm und dann auch noch den linken, würde er sicher keine Stelle finden, bei der er sehr viel verdienen würde. Als er aus der Wehrmacht entlassen wurde, hatte er ein wenig Geld bekommen, von dem sie sicherlich ein paar Monate leben konnten.

Wieder einmal durch Karl Bergers Vermittlung fanden sie eine kleine Wohnung, die sie bezahlen konnten und nachdem sie geheiratet hatten, nahmen sie auch Erikas Tochter Charlotte zu sich. Während Erika nun Gerber mit Nachnamen hieß, behielt Charlotte den Geburtsnamen ihre Mutter. Charlotte war inzwischen vier Jahre alt und sie war ein sehr aufgewecktes kleines Mädchen, um das Alfons sich kümmerte, während Erika weiterhin in dem Wirtshaus arbeiten ging. Alfons und Charlotte verstanden sich sehr gut und freundeten sich schon nach kurzer Zeit regelrecht miteinander an. Sie spielten und tobten, brachten die Wohnung durcheinander, machten sich etwas zu essen und ließen ihre Wohnküche in einem chaotischen Zustand zurück.

Wenn Erika spät in der Nacht nach Hause kam, schliefen Charlotte und Alfons schon, manchmal lagen beide nebeneinander im Bett und Charlotte hatte sich regelrecht bei Alfons eingekuschelt. Dann stand sie fassungslos vor dem Chaos, das die beiden angerichtet hatten und dass sie trotz ihrer Erschöpfung nun noch aufräumen musste, wenn sie den Überblick nicht vollkommen verlieren wollte. Wenn sie sich dann schließlich ins Bett legte, konnte sie oft trotz ihrer Erschöpfung lange nicht einschlafen, weil ihre Wut dazu führte, dass sich ihre Gedanken über ihr Leben regelrecht überschlugen und wenn sie dann zu den beiden hinüberschaute, erfasste sie auch eine gewisse Eifersucht, Die beiden schienen ihr Leben zu genießen, während sie dafür verantwortlich war, dass genug Geld zum Leben da war.

In den ersten Monaten ihres Ehelebens gingen sie an Erikas freien Tagen immer gemeinsam raus, doch bald wurde Erika auch das zu anstrengend und sie wollte sich nur noch ausruhen, sodass die beiden alleine raus gingen. Wenn Charlotte und Alfons dann nach Hause kamen, schrie sie die beiden an: „Bringt mir jetzt die Wohnung bloß nicht wieder durcheinander!“ Überhaupt herrschte inzwischen kein normaler Ton mehr zwischen Erika und den Beiden. Erika brüllte nur noch herum, sodass die Beiden sich immer mehr von ihr zurückzogen. Besonders böse war sie zu Charlotte, die sie jetzt für ihr ganzes Unglück verantwortlich machte; sie ließ Charlotte ihre ganze Wut und ihren Hass spüren, wodurch Charlotte immer verängstigter wurde und sich ihrerseits immer stärker vor ihrer Mutter verschloss.

Eines Tages stand Charlotte weinend vor ihrer Mutter und Erika konnte sofort riechen, was passiert war. Wutentbrannt holte sie den alten Pisseimer hervor, schlug Charlotte damit auf den Kopf und schrie:

„Du verdammtes Schwein! Soll ich dich etwa jetzt auch noch sauber machen? Habe ich nicht schon genug Arbeit mit dir und diesem faulen Kerl? Du bist wirklich alt genug, um rechtzeitig aufs Klo zu gehen. Mach dich gefälligst selber sauber und wag es nicht, mir deine verschissenen Sachen hinzulegen! Die kannst du auch selber waschen! Und wenn das noch einmal passiert, kommst du in ein Heim!“

Alfons kümmerte sich nicht nur darum, Charlotte wieder sauber zu machen, sondern er nahm sie auch in den Arm und tröstete sie: „Mama ist überarbeitet, sie ist bald wieder in Ordnung, sie braucht nur etwas Schlaf.“

Diese Auseinandersetzungen ließen etwas nach, als immer deutlicher wurde, dass der Krieg verloren war und die Russen allmählich die Oberhand gewannen. Da die Propaganda der Nazis ein solches Schreckensbild von den Russen erzeugt hatte, entschied sich die kleine Familie in den Westen zu gehen, wo man hoffte, von den Amerikanern etwas wohlwollender behandelt zu werden.


Evelyn

Подняться наверх