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Der Pudding-Junkie
ОглавлениеBisher hatte ich eine glückliche und unbekümmerte Kindheit genossen und was richtig Schlimmes hatte ich auch noch nicht erlebt. Für mich war die Welt nicht nur am Morgen in Ordnung, sondern den lieben langen Tag. Und so schlitterte ich zutraulich, wie ein kleiner Hundewelpe, leichtgläubig und ohne jegliche Vorahnung ungebremst in meine berufliche Misere!
Ich hätte auf meine Mutter hören sollen. Dieses eine Mal nur! Konnte ich denn ahnen, dass der Koch zu dieser Zeit als der zweitschwerste Beruf durchging, direkt hinter dem Bergmann?
Keiner hatte mich vorher über die Arbeitszeiten informiert. Oder vielleicht doch und ich hatte einfach nicht zugehört? Die Bezeichnung Teildienst war mir vorher nicht bekannt. Das bedeutete, dass der gesamte Tag futsch war. Morgens ab 10:00 Uhr ging es los bis mittags um 14:00 Uhr. Und abends erneut antreten von 18:00 Uhr bis 22:00 Uhr. Das zunächst fünfeinhalb Tage lang. Montags war Ruhetag. Dienstags ab 16:30 Uhr begann dann wieder unser Dienst.
Der Begriff Jugendarbeitsschutzgesetz hatte in den Räumlichkeiten des Gasthofs Heinrich noch nicht die Runde gemacht. Meine Eltern schien das Thema auch kalt zu lassen. Woher sollte ich sonst bitteschön etwas in der Richtung erfahren, wenn nicht von den Erwachsenen? Aber die hielten sich alle schön bedeckt und ich dachte natürlich, das hätte alles seine Richtigkeit. Meine Güte, ich war gerade mal fünfzehn, noch tiefgrün hinter den Ohren und hätte das erste Jahr in meiner Ausbildung nur bis 20.00 Uhr arbeiten dürfen. Außerdem hätte mir in der ersten Zeit auch ab und zu mal ein freies Wochenende zugestanden. Aber nichts dergleichen geschah.
Und was war mit Pausen? Die lernte ich während meiner Lehrzeit auch nicht persönlich kennen. Nur aus der Entfernung winkten sie mir mal kurz zu. Die Herrschaften von der Frühstückspause, Kaffeepause, Mittagspause, Essenspause, Zigarettenpause, Pinkelpause hatten während der Arbeitszeiten absolute Funkstille und waren wie ein rotes Tuch für Fürstin von und zu Heinrich.
Herr Grothe und ich arbeiteten an einem Stück durch. Ich habe es seit dem Tage, als ich das erste Mal in meiner nigelnagelneuen Kochgarnitur steckte, nicht anders kennengelernt. Und dachte natürlich, das wäre auch alles völlig normal! Wenn man dann aber tatsächlich mal so draufgängerisch war, um nur mal für einige wenige Sekunden innehielt, um seinen arg geplagten Füßen ein wenig Ruhe zu gönnen, und die Königin Mutter genau in diesem Augenblick die Küche betrat, wurde man sofort von ihr mit einem äußerst gefährlich schrägen Blick bestraft. Jahrhunderte zuvor wären wir mit Sicherheit direkt an die Wand für, in ihren Augen, unverzeihliches Vergehen gestellt worden. Rübe ab, der nächste Koch bitte!
Nach und nach lernte ich die drei Wüstensöhne des Herrn und Frau Sultan ein wenig besser kennen. Das waren, wie konnte es anders sein, richtige Paschas.
Den Ältesten, Werner junior, kannte ich schon vom Sehen aus der Parallelklasse an der Hauptschule. Während ich aus der Neunten abgegangen war, machte er noch das zehnte Schuljahr voll. Sonderlich viel Kontakt hatten wir sowieso nie gehabt. Optisch kam er seinen Vater sehr nahe, aber ansonsten war er ganz wie die Mutter Kaiserin, hochnäsig und sich als was Besseres fühlen.
Der Mittlere, Thomas, war noch am normalsten von den Dreien geraten. Er hatte zwar auch eine ganz schön freche Klappe, aber er war in seiner Art nie so anmaßend oder selbstgefällig wie die anderen beiden. Eigentlich, bis auf mehrere Abstriche, ein prima Junge, mit dem ich mich unter anderen Gegebenheiten sogar hätte anfreunden können.
Frank, der Jüngste, war der ungekrönte Liebling der Königin Mutter. Er durfte alles, er bekam alles! Mutti ließ ihm alles, wirklich gottverdammt alles durchgehen! So ein richtig unverschämtes, hoffnungslos verzogenes und verwöhntes Muttersöhnchen. Der bereitete uns in der Küche nur Ärger und zusätzlichen Stress. Und wehe dem, Herr Grothe vergriff sich mal ein ganz klein wenig im Ton oder richtete gar ein winziges Wort des Widerstands an diesen rotzfrechen Bengel. Dann wurde sofort losgeheult, zur Mami gelaufen und gepetzt. Ein ganz niederträchtiges Kind war das! Furchtbar! Dieses Geschreie, dieses Geheule in der Küche! Es war nicht zu ertragen! Und das fast jeden Tag!
Wenn Frank aus der Schule kam, so gegen zwölf, halbeins, stürmte er zunächst die Küche. Wir waren gerade mittendrin im Mittagsgeschäft. Nun ja, eigentlich ja nur Herr Grothe, ich half so gut ich konnte mit leichten Handreichungen. Natürlich hatte da ein Achtjähriger nichts zu suchen. Aber trotzdem, die königliche Pute Roswitha, die am Mittag meist den Thekendienst übernahm, sah sich nicht in der Pflicht, ihre Brut aus der Küche zu verbannen. So lief er meist schreiend um uns rum und suchte wie im Wahn nach dem Nachtisch.
Wenn es Pudding gab – und der stand in der Woche mindestens drei bis vier Mal auf der Karte – brannten bei dem kleinen undankbaren Geschöpf alle erdenklichen Sicherungen durch. Er nahm seine ganze Kraft zusammen, um mit seinen kleinen Patschehändchen die große Kühlschranktür zu öffnen. Das schaffte er auch meist tatsächlich. Dann versuchte er, die Schale mit dem Pudding aus dem Regal zu bugsieren. Bei Herrn Grothe schrillten dann natürlich direkt sämtliche Alarmglocken, denn er wusste ja schon, was kommt. Alle Anstrengungen, den durchgedrehten Knirps zu beruhigen halfen nicht. Der ließ einfach nicht los. Und schrie dabei wie am Spieß. Das war ein Bild! Ein völlig entnervter Koch und ein kleiner Brüllaffe mit hochrotem Kopf zerrten gemeinsam an der Schüssel. Das war dann meist das Zeichen, dass die Schiebetür aufgerissen wurde und Madame höchstpersönlich in die Küche rauschte. Fehlte nur noch der ausgerollte rote Teppich! Das ausgepumpte, schrill jammernde Etwas ließ augenblicklich los, lief völlig erschöpft vom hart umkämpften Wettstreit und tränenüberströmt zur Königin des Hauses. Sie schaute daraufhin sehr streng ihren Koch an, als ob er für diesen ganzen Budenzauber höchstpersönlich verantwortlich wäre, und es allein seine Schuld wäre, dass die Knalltüte sich nun an ihrem Rockzipfel die Augen ausheulte. Dann nahm sie ihr plärrendes Früchtchen unterm Arm und verschwand mit ihm nach vorne. Wir konnten kurz aufatmen. Bis zum nächsten Tag halt! Dann begann das Drama wieder von vorne.
Aber das war beileibe noch nicht alles! Denn wenn Mutti mal nicht da war, ging so richtig die Kuh fliegen! Da gab es dann überhaupt kein Halten mehr! Alle Hemmungen wurden über Bord geworfen! Mehrmals wurde ich fassungslos Zeuge, wie der kleine gewissenlose Pudding-Junkie sich die Schale aus dem Kühlschrank griff und mit einem Esslöffel darin rummatschte. So schnell konnten wir manchmal gar nicht gucken. Oft genug kamen wir viel zu spät, um ihm sein Kampfgerät aus der Hand zu reißen, da war er schon drei bis vier Mal damit abgetaucht. Er war dann meistens überall vollgekleckert mit Pudding, der bis oben hin zu seinen glühend roten Wangen reichte und von seiner speckigen kleinen Lederhose abtropfte, die er im Sommer fast jeden Tag trug.
Wenn es z. B. zur Erdbeerzeit Quark gab und wir ihn schon draußen fertig stehen hatten, ging der kleine Pflaumenaugust wie selbstverständlich einfach mit seiner Hand in die Schüssel, schleckte sich die Finger einzeln ab und grinste uns dabei frech an. Da kannte der keine Verwandten! Ich glaube, dass ein Schuss aus einem Betäubungsgewehr oder ein Fangnetz, so wie ich das aus Daktari kannte, wenn Dr. Marsh Tracy kranke Tiere untersuchen musste, auch nichts genutzt hätten. Wir bekamen diesen kleinen Schisser nicht gebändigt, was ja auch gar nicht unsere Aufgabe war. Wir waren schließlich hier zum Kochen und nicht zur Kinderbeaufsichtigung! Aber für die Chefin schien das alles seine Ordnung zu haben und so waren wir diesem kleinen Schmutzbuckel auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
Ab und zu gelang es uns zwar, die Schüssel noch rechtzeitig in Sicherheit zu bringen, wie etwa oben auf dem Kühlschrank, wo er ja nicht dran kam. Das war aber auch der einzig sichere Ort vor ihm. Und natürlich war der Palaver dann auch hier riesengroß! Es kam gelegentlich vor, dass er sich einen Stuhl aus dem Nebenraum schnappte, ihn bis zum Kühlschrank hinter sich herzog, dann auf ihn draufkletterte und verzweifelt versuchte, an die Schüssel zu gelangen. Seine ungewaschenen Händchen ruderten dabei unkontrolliert in der Luft rum, und als der kleine Idiot endlich begriffen hatte, dass er da nie und nimmer, auch nicht in den nächsten ein bis zwei Jahren, herankommen würde, wurde eine andere Taktik gewählt. Dann stieg er brav vom Stuhl herunter, schaute Herr Grothe mit großen unschuldigen Kinderkulleraugen an und piepste im freundlichsten Ton, ob er denn nicht ein wenig Pudding oder Quark haben dürfte. Und was machte Herr Grothe? Der war in so einem Augenblick völlig schmerzfrei und holte doch tatsächlich die Schüssel vom Kühlschrank und schöpfte ein, zwei Kellen in eine Dessertschale und gab sie dem plötzlich so lammfromm gewordenen kleinen Zombie. Da bedankte der sich ganz artig und verschwand nach vorne. Ja, das kam auch mal vor, wenn auch nur höchst selten. Und in diesen lichten Momenten begann ich wieder, an das Gute im Menschen zu glauben. Aber diese Erinnerung verblasste ganz schnell wieder, spätestens dann, wenn am nächsten Tag zu High Noon die Schiebetür mit einem lauten Gepolter aufgerissen wurde, der kleine Frank sich wieder in Mr. Hyde verwandelt hatte und sich auf die fieberhafte Puddingsuche begab.
Dabei hätte er einfach nur mal so richtig zusammengefaltet werden müssen, dann wäre endlich Ruhe im Karton gewesen! Das war einfach so unglaublich lächerlich, dass wir in der Küche fast jeden Tag auf unsere Nachspeise aufpassen mussten. Vielleicht hätten wir einen Extrasicherheitsschutz dafür beauftragen sollen. Aber Herr Grothe war ein Mensch, der sich einfach nicht durchsetzen konnte. In der Zeit, als er mein „Küchenmeister“ war, sprach er nicht ein einziges Mal ein Machtwort oder bezog so was wie Stellung. Als ich dort meine Lehre begann, waren die Fronten geklärt und er hatte sich von der gesamten Bagage Heinrich schon längst unterbuttern lassen. Das waren ja die besten Voraussetzungen für eine schöne, unbeschwerte Lehrzeit.