Читать книгу Kill dein Kaninchen! - Ralf Schmitt - Страница 10

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Angst ist noch so viel mehr

Wir erleben Angst aber nicht nur als Schutzreflex. Vielmehr treffen wir in so vielen verschiedenen Facetten auf das Phänomen, dass wir auf einige später unbedingt noch gesondert eingehen müssen. Offensichtlich hat sich unser Urinstinkt an die heutige Zeit angepasst und sagt sich: »Ich lebe im Zeitalter der Möglichkeiten. Warum soll ich mich also einschränken? Mir steht die Welt offen!« Genau das ist der Grund, weshalb Angst unter anderem in folgenden Formen im Alltag auftaucht:

Angst zeigt sich als Kaninchen-Feeling

Wie bitte? Kaninchen-Feeling! Das ist das Gefühl, dass Sie beschleicht, wenn bei Ihnen die Panik einsetzt. Es kribbelt von den Pfoten bis in die obersten Enden der Löffel – und Sie verharren stocksteif in der Schockstarre. Es ist ein bisschen so, als ob Sie im Lichtkegel vor einem Auto stehen bleiben, das auf sie zurast und nicht zu bremsen gedenkt. Besser wäre natürlich, schnell in den sicheren Schatten zu hüpfen. Das ist klar. Aber ist Ihnen das schon mal passiert, dass Sie so ein Fellknäuel auf der Straße vor sich im Scheinwerferfokus hatten?

In Hamburg gibt es viele Kaninchen, die sich auch im Stadtgebiet bewegen. Wenn sie nachts auf die Straße hoppeln, sind sie fast sicher dem Tod geweiht. Wir gehören beide zu der Spezies Autofahrer, die bremst, wenn ein Tier auf die Straße läuft. Also haben wir schon einige Zeit hinter Kaninchen im Schneckentempo verbracht und sie selbst mit Hupen und Fluchen nicht in den Schatten bekommen. Wenn sie überhaupt hüpfen, dann meist immer weiter im Hellen! Oft bleiben sie aber einfach wie angewurzelt stehen – deshalb Kaninchen-Feeling!

Angst macht Kopfkino

Getriggert von einem Ereignis oder einer Nachricht, spinnen wir in unserem Kopf einen ganz eigenen Plot darüber zusammen, was jetzt alles passieren kann. Es ist erstaunlich, wie kreativ wir dabei sind:


Zugegeben, wir übertreiben hier ziemlich.

Wer Angst vor Gewittern hat, dem reicht oft schon ein fernes Donnergrollen, um sämtliche elektrischen Geräte vom Strom zu trennen, alle Jalousien zuzuziehen und sich unter der Bettdecke zu verschanzen, wie ein Hund, der panische Angst vor Silvesterböllern hat. Man stelle sich nur vor, der Blitz schlägt tatsächlich in unserem Haus ein. Er fährt durch alle Stromleitungen und zerstört sofort unsere Computerfestplatte, unseren Fernseher und den Kühlschrank noch mit. Weil wir dummerweise gerade am Kommunikationskonzept für einen neuen Kunden gearbeitet haben, sind alle Daten »verschmort«, wir können die Präsentation am nächsten Tag nicht halten, verlieren deshalb unseren Job, können die Miete für die Wohnung nicht mehr bezahlen, enden nach einiger Zeit auf der Straße und landen schließlich mit einer Lungenentzündung im Bahnhofshospiz. Da es leider auch den Kühlschrank und das TV-Gerät erwischt hat, ist innerhalb von zwei Tagen alles Essen verdorben und wir bekommen nicht einmal mehr den Wetterbericht mit, der uns sagt, dass das Gewitter in fünf Kilometern Entfernung an uns vorbeigezogen ist.

Zugegeben, wir übertreiben hier ziemlich. Aber nach diesem Schema funktioniert unser negatives Kopfkino – ganz ohne Happy End.

Angst lässt uns zu Theorieentwicklern werden


Angst lässt uns die Praxis erst gar nicht erleben.

Wir neigen häufig dazu, schon bevor wir einen Schritt gegangen sind, vor lauter Angst, dass es der falsche ist, genau zu überlegen, was alles eintreten könnte, würden wir diesen Schritt denn tatsächlich gehen. So wird aus einer Befürchtung schnell einmal eine handfeste Theorie, die uns die Praxis erst gar nicht erleben lässt. Ein Beispiel:

Wenn ich nach New York reise, fühle ich mich etwas mulmig, weil ich immer wieder an 9/11 denken muss. Falls die Sicherheitsmaßnahmen nicht ausreichen, könnte es passieren, dass wieder ein Selbstmordattentäter ins Flugzeug steigt. Die sollen ja immer wieder auf neue Ideen kommen. Ich bleibe also lieber zu Hause. Das Abenteuer New York werde ich nicht erleben, solange ich schlimme Theorien über das, was alles sein könnte, entwickle. Doch so kann ich die Praxis nicht erfahren. Schade drum!

Angst ist ein Klischeebediener

Wünschen wir uns nicht alle hin und wieder, dass alles genau so bleibt, wie es ist? Dann können wir uns an Regeln und Klischees entlanghangeln, die uns vertraut sind. Klar, dann bewegt sich nichts. Dafür bekommen wir aber viel Bestätigung. Sätze wie »Das habe ich doch gleich gesagt, dass da nichts Gutes bei rumkommen kann!« festigen dieses Leitbild. Menschen, die sich so ausdrücken, lassen sich auf keinen Fall dazu bewegen, in der Zusammenarbeit mit der jungen und noch etwas unerfahrenen Kollegin etwas Positives zu sehen. Besser, wenn man alles weiterhin so macht wie bisher. Dann ist das Risiko überschaubar. Was man nicht selbst erledigt, wird ja auch nie so gut gemacht, wie man es haben möchte. Und die jungen Leute von heute, die können ja auch gar keine Verantwortung übernehmen. Wenn das Experiment dann tatsächlich missglückt und der jungen Kollegin ein Fehler unterläuft, wurde das Klischee bedient. Was aber eigentlich dahintersteckt, ist in der Regel nicht das vorausschauende Wissen, dass etwas schiefgehen wird. Vielmehr ist es die Angst davor, Verantwortung abzugeben. Denn dann könnte es passieren, dass man nicht mehr wichtig genug ist oder sogar entbehrlich. Plötzlich muss Anerkennung geteilt werden. Oder noch schlimmer: Andere stellen fest, dass man selbst den Job gar nicht so gut gemacht hat. Ein Horror!

Angst ist ein Komfortzonenstörer und Gewohnheitsdieb


Die Angst beginnt gleich nach der Komfortzone!

Es gibt diesen wunderbaren Puffer, den wir um uns herum aufgebaut haben: unsere Komfortzone. Solange wir uns innerhalb dieses Bereichs bewegen, kann uns nichts so schnell aus der Ruhe bringen. Wir bleiben ganz cool – bis wir einen Tritt bekommen, der uns nach draußen katapultiert. Dieser Tritt kann bereits die Meldung sein, dass ein Vegetariertag in Kantinen eingeführt werden soll. Was war das doch für ein lauter Aufschrei, als uns die Grünen einen Tag in der Woche zum Fleischverzicht »zwingen« wollten! Plötzlich fühlte man sich bevormundet. Zu Recht? Klar! Aber das geschieht täglich an vielen Stellen. Es fällt uns nur nicht auf, weil wir uns daran gewöhnt haben. Eine neue Bevormundung wollte man aber nicht dulden.

Jetzt werden Sie wahrscheinlich sagen: »Aber mal was anderes zu essen, das ist doch einfach. Das ist doch kein Schritt aus der Komfortzone!« Doch! Für viele ist es das:

In unserem Bekannten- und Freundeskreis weiß zum Beispiel jeder, wie schlecht Massentierhaltung für die Umwelt und ganz besonders für die Tiere ist. Trotzdem fällt es vielen unendlich schwer, auf Fleisch zu verzichten. Wovor haben wir Angst? Das »neue« und ungewohnte Essen könnte ja nicht schmecken. Die Ernährung könnte nicht ausgewogen sein. Man könnte verschiedene Vitamine, die es vor allem im Fleisch gibt, nicht mehr in ausreichenden Mengen zu sich nehmen. Und, und, und. Also bleiben wir lieber beim Altbekannten und Gewohnten. Da weiß man, was man hat. Alles, was außerhalb der Komfortzone liegt, macht erst einmal Angst.

Angst ist ein Gleichgesinntenblasenerhalter


Die Meinung der Andersdenkenden schockt uns.

Die Blase der Gleichgesinnten nennen wir ein Phänomen, das auf Social-Media-Kanälen und Webseiten inzwischen üblich ist. Anhand dessen, was wir in Suchmaschinen eintippen oder wie wir Social-Media-Plattformen nutzen, wird ein Algorithmus erstellt. Der zeigt uns dann nur noch das, was wir scheinbar sehen möchten. Unser Klickverhalten führt also zu einem Filter. Beispielsweise bekommen wir bei Facebook hauptsächlich das zu sehen, was unsere »Freunde« teilen. Konkret heißt das: Wir werden häufig von diskussionswürdigen Medienberichten oder Meldungen, die wir angeblich nicht sehen wollen, abgeschirmt.

Wer seine Nachrichten hauptsächlich über Social-Media-Kanäle bezieht, bekommt diese vorgefiltert und vorgefärbt. Was hat das mit Angst zu tun? Die Meinung der Andersdenkenden jagt uns immer wieder einen Schauer über den Rücken oder schockt uns sogar. Sie wahrzunehmen, lässt sich aber leicht umgehen. Dazu müssen wir uns in Sachen Information einfach nur innerhalb unserer »Blase« bewegen. Wir kommunizieren überwiegend mit Gleichgesinnten und lesen hauptsächlich deren Meinung. So bekommen wir vor allem Informationen, die mit unseren eigenen Ansichten korrespondieren.

Angst macht uns zu Ausredenerfindern


Zu dick, zu alt …!

Ausreden haben häufig mit Ängsten zu tun. Wir trauen uns nicht, auf eine Veranstaltung zu gehen, weil wir »in dem Kleid zu dick aussehen« oder »zu alt« sind. Tatsächlich handelt es sich dabei aber meist um Glaubenssätze, die wir uns selbst eingeredet haben oder die uns von unserem Umfeld oder den Medien eingeflüstert wurden.

Woher diese Glaubenssätze kommen, spielt eine eher untergeordnete Rolle. Viel wichtiger ist: Wenn wir sie loswerden wollen, müssen wir aktiv etwas dagegen unternehmen! Doch das kostet Zeit und Energie. Also beten wir unsere Glaubenssätze ständig runter, um uns vor Herausforderungen zu drücken. So werden sie immer mehr zu einem Ausdruck unserer Angst vor Veränderung.

Angst ist ein Unwissenheitsvertuscher


Was wir nicht kennen, macht uns Angst.

Oftmals fürchten wir uns vor Dingen, die wir nicht kennen oder die uns gar nicht passiert sind. Zieht zum Beispiel ein Ehepaar aus Afghanistan ins Nachbarhaus, machen sich einige Sorgen darüber, wie das wohl werden wird, weil sie die fremde Kultur nicht kennen. Anstatt abzuwarten, was passiert, werden im Gespräch mit anderen Aussagen gemacht wie: »Man weiß ja, dass DIE sich nicht anpassen!« Oder: »Hoffentlich sind das keine Terroristen!«

Einige erinnern sich vielleicht noch an die Aussage von AfD-Vize Alexander Gauland: »Die Leute finden Boateng als Fußballspieler gut. Aber sie wollen einen Boateng nicht als Nachbarn haben.« Wir wollen Gaulands Worte an dieser Stelle nicht werten. Aber wir wollen aufzeigen, dass es in diesem Land leider Menschen gibt, die aus Unwissenheit voller Angst auf neue Situationen regieren, anstatt abzuwarten, was passiert, oder allen neuen Nachbarn sogar offen gegenüberzutreten. Wir wagen zu behaupten, dass Angst und Skepsis gegenüber anderen – unabhängig von der Hautfarbe, Konfession oder Kultur – oft dazu missbraucht werden, Unkenntnis zu vertuschen.

Angst wird als Steuerungselement eingesetzt


Je stärker die Angst, desto leichter sind wir steuerbar.

Verschwörungstheorien scheinen das neue It-Thema unserer scheinbar so unsicheren Zeit zu sein. Je absurder eine Geschichte klingt, desto wahrer muss sie sein. Hinter jeder Rede, die ein Politiker hält, hinter jeder oft zu flapsig dahergebrachten Aussage wird eine Konspiration vermutet.

Zugegeben, wer sich mit gewissen Themen genauer beschäftigt, der kann es schon mit der Angst zu tun bekommen. Doch je mehr Angst wir haben, desto leichter sind wir steuerbar. Ein gutes Beispiel ist der Wahlkampf in den USA, der Donald Trump zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten hat werden lassen:

Was hat Donald Trump im Wahlkampf für Sprüche abgelassen, bei denen sich viele erschrocken und geschockt an den Kopf fassten? Warum wurde er trotzdem gewählt? Weil er mit allgegenwärtigen Ängsten der Amerikaner gespielt hat: zu viele Einwanderer, zu wenige Jobs, zu geringer Einfluss auf das, was die Politiker tun. Trump hat vielen Verdrossenen das Gefühl gegeben, dass er der Korruption in der Regierung – laut einer Studie der Chapman University die größte Angst der Amerikaner – ein Ende macht. Seine Strategie scheint aufgegangen zu sein. Immerhin ist er aktuell einer der mächtigsten Männer der Welt.

KURZ GEFASST: ANGST IST NOCH SO VIEL MEHR

Es gibt zahlreiche Facetten, in denen sich Angst in unserem Alltag zeigt. Alle haben eins gemeinsam: Sie verleiten uns zu irrationalen Entscheidungen oder Handlungen und vernebeln unseren Blick.

Kill dein Kaninchen!

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