Читать книгу Dublin. Eine Stadt in Biographien - Ralf Sotscheck - Страница 8
ОглавлениеJONATHAN SWIFT
1667–1745
Er studierte Theologie und sehnte sich nach England. Dann aber kam der Wandel: Aus dem Geistlichen wurde ein bissiger Satiriker, der sich vehement für das unterdrückte Irland einsetzte.
Jedes Kind kennt »Gullivers Reisen«. Doch kaum ein Werk der Weltliteratur ist so verhunzt worden wie dieses Buch von Jonathan Swift; es ist immer wieder seiner scharfen Satire beraubt und zum Kinderbuch verstümmelt worden. Dabei ist das Buch antikolonialistisch, es prangert die englische Politik, die Parteien und die Regierung, das Parlament und das Königshaus an. Es kritisiert das Bildungssystem, die Justiz und die Staatskirche. Und Swift beschreibt zwei Marsmonde, die erst 150 Jahre später entdeckt wurden. Der größte Krater auf dem Mond Deimos wurde nach ihm benannt.
Jonathan Swift geht im »Gulliver« auch auf das Verhältnis zwischen England und Irland ein, wenn er über Balnibari und die fliegende Insel Laputa schreibt. Beide sind aufeinander angewiesen, doch der gemeinsame König sitzt auf Laputa und hat kaum Interesse an Balnibari. Aber wenn dort eine Rebellion droht oder die Abgaben nicht gezahlt werden, fliegt Laputa über das meuternde Balnibari und entzieht ihm Sonne und Regen, sodass Hungersnöte und Seuchen ausbrechen. Manche von Swifts Anspielungen sind so heikel, dass sie vom Verlag zensiert wurden. Eine vollständige Ausgabe erschien erst 150 Jahre nach dem Tod des Verfassers.
Swift war England gegenüber nicht immer so kritisch. Zwar wurde er am 30. November 1667 in Dublin geboren, doch seine Eltern waren erst wenige Jahre zuvor aus England übergesiedelt. Sein Vater starb sieben Monate vor seiner Geburt, die ersten fünf Lebensjahre verbrachte Swift mit einem Kindermädchen in England. Nach seiner Rückkehr nach Dublin wurde er von Verwandten aufgezogen.
1682 begann er ein Theologiestudium am Trinity College 32 ( ▶ H 6), das Protestanten vorbehalten war. Als 1689 in Irland Unruhen ausbrachen, ging Swift nach England und nahm eine Stellung als Sekretär von William Temple an, einem pensionierten Diplomaten und entfernten Verwandten seiner Mutter. Temple ermöglichte ihm ein Studium zum Master of Arts an der Universität Oxford. Swift blieb – mit einer kurzen Unterbrechung – zehn Jahre bei Temple auf dessen Landsitz. Als sein Förderer 1699 starb, war Swift arbeitslos, bis er einen Job in der Church of Ireland angeboten bekam. Besonders glücklich war er darüber nicht. Wann immer es seine Zeit erlaubte, reiste er nach London zu seinen Freunden. Im »Holyhead Journal« schrieb er von dem »Land, das ich hasse«, und damit meinte er Irland. Er mochte die Katholiken nicht, und von der keltischen Kulturtradition verstand er damals noch wenig. »Holt mich heraus aus diesem Land der Sklaven«, schrieb er, und das war kaum satirisch gemeint.
1710 bot ihm die englische Tory-Regierung eine Stellung als Chef-Propagandist an, die Swift freudig annahm und derentwegen er nach London übersiedelte. Als Dank erhoffte er sich einen Posten als Dekan oder gar Bischof, denn es war damals durchaus üblich, dass die Regierung solche Ämter an treue Gefolgsleute vergab. Doch er wurde enttäuscht. Man ernannte ihn zum Dekan der St Patrick’s Cathedral 28 ( ▶ E 6/7) in Dublin, was er als minderwertige Stellung empfand, und als Königin Anne 1714 starb und die Tory-Regierung stürzte, siedelte Swift verbittert nach Dublin über. Seine Freundin Esther Johnson, Temples uneheliche Tochter, folgte ihm. In seinen Tagebüchern nennt Swift sie »Stella«. Neben dieser Beziehung hatte Swift eine elfjährige, heimliche Affäre mit Esther Vanhomrigh, von Swift »Vanessa« genannt. Sie wusste nichts von Stella, und als sie die Wahrheit erfuhr, brach sie zusammen und starb bald darauf.
Die Kathedrale von St Patrick’s ist eine von zwei protestantischen Kathedralen Dublins. Die andere, etwas kleinere Christ Church Cathedral 6 ( ▶ E 5) liegt nur einen Steinwurf entfernt. Die ungewöhnliche Konstellation zweier benachbarter Kathedralen erklärt sich damit, dass früher die Stadtmauer zwischen beiden Gebäuden verlief. Christ Church ist der Sitz des Dubliner Erzbischofs, St Patrick’s ist die Nationalkathedrale Irlands.
Ein Kirchengebäude existierte an der Stelle bereits im 5. Jahrhundert. Der heilige Patrick soll hier um 450 bekehrte Gläubige getauft haben. Die heutige Kathedrale wurde zwischen 1191 und 1254 erbaut, musste nach einem Brand 1864 aber renoviert werden. Was nach der Restauration, die von Benjamin Guinness finanziert wurde, von der Kirche übrig blieb, ist unbekannt, weil es keine Aufzeichnungen gibt. Der besterhaltene mittelalterliche Teil ist der Chor. Die Chorschule wurde 1432 gegründet, viele Mitglieder sangen bei der Uraufführung von Händels »Messias« 1742 in der Musick Hall in der Fishamble Street. Die Orgel der Kathedrale gehört zu den größten in Irland, sie besteht aus über 4000 Pfeifen. Teile davon stammen aus dem Jahr 1695. Rund 200 Jahre später wurde die Orgel unter Verwendung vieler Originalteile neu gebaut.
Am Westende des Kirchenschiffs gibt es eine Tür mit einem Loch, das Lord Kildare 1492 hineingeschnitten haben soll, um seinem Widersacher Lord Ormonde, der sich in der Kirche verschanzt hatte, die Hand zum Frieden anzubieten. Daher soll der englische Ausdruck »chancing your arm« stammen – ein Risiko eingehen.
In der St Patrick’s Cathedral fanden die Beerdigungsfeiern für zwei irische Präsidenten statt: Douglas Hyde und Erskine Childers. Bei Hydes Begräbnis blieben 1949 fast alle Parlamentarier im Foyer der Kirche, weil es Katholiken damals verboten war, andere als katholische Kirchen zu betreten. Childers hingegen bekam 1974 ein Staatsbegräbnis, und weil er im Amt gestorben war, reisten viele ausländische Staatsoberhäupter oder ihre Repräsentanten an.
SWIFT WIRD DEKAN VON ST PATRICK’S
Jonathan Swift trat seine Stelle als Dekan von St Patrick’s zunächst recht widerwillig an, doch im Laufe der Zeit erfuhr er durch sein Amt immer mehr von den zum Teil erbärmlichen Lebensumständen der Bevölkerung. Dadurch – und vielleicht auch aus Rache an der britischen Regierung in London – veränderte sich Swifts Haltung; er setzte sich immer stärker für die unterdrückten Iren und gegen die Einmischung Englands ein. Berühmt sind die »Briefe des Tuchhändlers M. B. in Dublin«, in denen er das neue englische Kupfergeld in Irland schmähte.
Seine beißenden Satiren gipfelten in dem Vorschlag, irische Kinder zu mästen und sie im Alter von einem Jahr der englischen Aristokratie als Speise vorzusetzen, um so der Armut in Irland Herr zu werden. Er lässt seinen Protagonisten abwägen, ob man die Kinder besser als Braten, Kochfleisch, Ragout oder als Frikassee serviert. Die Häute, so schlug Swift vor, sollten zu Handschuhen oder Stiefeln verarbeitet werden, um die Wohlfahrtsinstitutionen zu entlasten. Da seine Satiren unter Pseudonymen (Isaac Bickerstaff, A Dissenter, A Person of Quality und viele andere) erschienen und das Nationalbewusstsein in Irland stärkten, lobte die englische Regierung für die Enttarnung des anonymen Verfassers 300 Pfund aus.
Swift nutzte für seine Studien eifrig Marsh’s Library 17 ( ▶ E 7), Irlands erste öffentliche Bibliothek, die 1701 unter Erzbischof Narcissus Marsh hinter der Kathedrale gebaut wurde. Sie umfasst rund 25 000 Werke aus dem 16. bis 18. Jahrhundert und 300 handschriftliche Manuskripte. Das Interieur der Bibliothek mit den dunklen Eichenholzregalen und den drei Alkoven, in die Leser mit den wertvollen Büchern eingeschlossen wurden, ist seit der Eröffnung unverändert. Unter den Schätzen der Bibliothek befindet sich Swifts Exemplar von Clarendons »History of the Great Rebellion« mit handschriftlichen Anmerkungen des Dekans.
Swift verbrachte seine Zeit aber nicht nur mit Arbeit und Studium, sondern gehörte auch zu den regelmäßigen Besuchern des Brazen Head 5 ( ▶ D 5) in der Bridge Street, nur einen kurzen Spaziergang von der Kathedrale entfernt. Es ist das älteste Wirtshaus Irlands, wenn nicht sogar Europas, wenn die Werbung stimmt. Hier wurden schon vor über 800 Jahren, ab 1198, Getränke ausgeschenkt, lange bevor man dafür eine Lizenz benötigte. Das jetzige Gebäude ist freilich jünger, es stammt aus dem Jahr 1700 und war einmal Halteplatz für Pferdekutschen. Woher der Name der Kneipe stammt, weiß niemand genau. »Brazen« bedeutet etwa »unverschämt«, was sich auf ein rothaariges Mädchen bezieht, das bei der Belagerung von Limerick im 17. Jahrhundert den Kopf zu weit herausgestreckt haben soll, um das Geschehen besser verfolgen zu können. Sie wurde dabei vermutlich von den Soldaten Wilhelms von Oranien geköpft.
BRAZEN HEAD – EIN WINDSCHIEFES GASTHAUS
Das Haus kommt einem windschief vor, wenn man den Innenhof betritt, und das ist es auch, seit ein britisches Kanonenboot während des Osteraufstands 1916 das Gerichtsgebäude auf der anderen Seite der Liffey beschoss und das Brazen Head von der Wucht der Explosion in seinen Grundfesten erschüttert wurde. Über dem Eingang weist ein Schild auf das Brazen Head Hotel hin, aber Gäste beherbergt es schon lange nicht mehr. Prominente Rebellen gingen hier ein und aus, wie Theobald Wolfe Tone, der 1798 einen erfolglosen Aufstand anführte und sich in der Haft das Leben nahm. Auch Robert Emmet hatte im Brazen Head gewohnt, bevor er 1803 eine Rebellion gegen die englische Herrschaft anzettelte und dafür hingerichtet wurde. Sein Schreibtisch steht heute noch immer im Obergeschoss.
Selbst der Henker, der die schlimmsten Schurken ins Jenseits beförderte, verkehrte im Brazen Head. Er hatte sogar sein eigenes Glas, denn die Kneipe war wie ein zweites Wohnzimmer für ihn. Als der Henker starb, und zwar, im Gegensatz zu seinen Opfern, eines natürlichen Todes, da wurde sein Glas weiter benutzt, denn jeder wollte mal aus des »hangman’s glass« trinken.
Jonathan Swift erlitt 1742 einen Schlaganfall und wurde zum Invaliden. Er starb am 19. Oktober 1745 und ist neben seiner »Stella« in der St Patrick’s Cathedral beerdigt. Heinrich Böll schrieb in seinem »Irischen Tagebuch«: »An Swifts Grab habe ich mir das Herz erkältet, so sauber war St. Patrick’s Cathedral, so menschenleer und so voll Marmorfiguren, so tief unter dem kalten Gestein schien der desperate Dean zu liegen, neben ihm Stella: zwei quadratische Messingplatten, blankgeputzt wie von deutscher Hausfrauenhand.«
20 Lower Bridge Street, Dublin 8
▶ LUAS: Four Courts
St Patrick’s Close, Dublin 8
▶ Bus: Kevin Street
ST PATRICK’S CATHEDRAL 28 ▶E 6/7
St Patrick’s Close, Dublin 8
▶ Bus: Patrick Street