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Kapitel 1 - Die Rückkehr

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Lautlos glitt das königsblaue Doppel-IFO aus dem Nebel hinaus auf den schmalen Meeresstreifen. Die Sonne stand schon hoch, es musste etwa Mittag sein. Die Sonnenstrahlen liessen die goldenen Flügel des zigarrenförmigen Flugobjekts aufblitzen. In der Pilotenkanzel wurde es plötzlich deutlich wärmer und Ferry hob den Arm über die Augen, weil er geblendet wurde. Es störte Ferry nicht, dass er geblendet wurde, ganz im Gegenteil.

Endlich waren sie aus dem verfluchten, dicken Nebel, der Un-Zone von P1, heraus. Die Erde der Menschen und diese Parallelwelt, P1, waren praktisch identisch. Nur wo auf der Erde, P0 im Fachjargon des Corps, Meer war, da gab es nur diese dicke Suppe von watteartigem Nebel in P1. Man konnte zwar durchfliegen, doch es war praktisch unmöglich, zu navigieren. Raum und Zeit funktionierten hier anders. Und die Geräte des Individuellen Flugobjekts, kurz IFO, stellten sich einfach ab.

Noch etwas war nicht deckungsgleich in P1: Es gab hier ein Atlantis. Dort, wo es früher vielleicht auch auf der Erde gewesen war, bevor es im Meer versunken war, wollte man den Geschichten darüber glauben. Atlantis-P1 lag mitten im Atlantischen Ozean, etwas südlich der Azoren. Laura hatte es entdeckt. Von dort waren sie losgeflogen. Geflüchtet, genauer gesagt, denn dort lag das Hauptquartier oder die Hauptstadt der Grauen. Die Grauen, quasi die Mitbewohner dieser Parallelwelt, hatten sie kampflos ziehen lassen. Doch das war eine andere Geschichte.

Drei gefühlte Tage waren sie in dem Nebel unterwegs gewesen, dreimal war es dunkel und wieder hell geworden. Sie hatten lange über ihr Abenteuer in Atlantis gesprochen. Zwischendurch hatten sie geschlafen, wobei einer von beiden immer Wache hielt. Eine zermürbende Angelegenheit. Es gab nichts zu sehen, nichts zu hören, nicht einmal die Instrumente konnte man kontrollieren, da sie sich alle abgeschaltet hatten.

Bevor sie losgeflogen waren, hatten sie ihre Feldflaschen mit dem herrlichen Mineralwasser aus dem Vulkansee gefüllt. Weil sie nicht wussten, wie lange ihr Flug dauern würde, hatten sie das Wasser streng rationiert: alle vier Stunden gönnten sie sich einen kleinen Schluck. So ein Schluck betrug zirka drei bis vier Zentiliter und ihre Wasserflaschen fassten einen Liter. Damit würden sie bei dieser Rationierung Wasser haben für etwas mehr als vier Tage, hatten sie sich ausgerechnet. Sie konnten nur hoffen, dass es reichen würde. Übers Meer war es eine beachtliche Strecke vom Mittelatlantischen Rücken bis an die Westküste Afrikas. Die Navigationsgeräte hatten, bevor sie in Tiefschlaf gefallen waren, eine Strecke von rund 970 Seemeilen, also etwa 1800 km berechnet. Ihr Ziel war die Hafenstadt Essaouira in West-Marokko. Die längste bisher dokumentierte Flugstrecke durch den Nebel hatte Commander Melnik geschafft, doch die lag mit 560 km bei etwa einem Drittel der Distanz, die sie zurücklegen mussten. Lauras Flug von den Azoren nach Atlantis war eigentlich schon ein neuer Rekord gewesen mit rund 650 km Luftlinie. Sie hatte beim Hinflug den Eindruck gehabt, etwa einen Tag unterwegs gewesen zu sein.

Bei den Zeitintervallen, in denen sie das Wasser zu sich nehmen durften, mussten sie sich auf Lauras Armbanduhr verlassen. Es war nicht ganz klar, ob diese auch vom Nebel beeinträchtig wurde, nachdem alle sonstigen Geräte ihren Dienst verweigerten. Doch ihre Ebel Wave mit dem sanft glitzernden Perlmutt-Zifferblatt tickte fröhlich weiter, sie schien resistent. Ferrys Uhr hätten sie nicht brauchen können, denn diese hatte schon lange keine Batterie mehr. Er brauchte sie nur noch als Funkempfänger, und dazu brauchte sie keine Batterie. Der Quarz der Uhr reichte dafür vollauf.

Obwohl sie wenig Wasser zu sich nahmen, schaffte es Laura trotzdem, zweimal täglich pinkeln zu müssen. Ferry fragte sich, wo sie das Wasser dazu hernahm. Praktischerweise hatte das IFO auf der Navigationsseite, Lauras Seite, eine einfache Toilettenfunktion: ungefähr so, wie eine Flugzeugtoilette, die sich auf Knopfdruck öffnen liess. Sie war direkt im Pilotensitz eingebaut. Praktisch. Laura hatte offensichtlich an alles gedacht, als sie zu zweit das IFO materialisiert hatten. Ferrys Körper hingegen schien seine Stoffwechselfunktionen weitestgehend eingestellt zu haben. Das konnte auch daran liegen, dass sie nichts mehr zu essen hatten; die letzten Nahrungspillen hatten sie vor dem Abflug genommen. Die letzte feste Nahrung waren die Maulbeeren gewesen, die sie einen Tag zuvor auf der Insel gefunden hatten. Doch das Hungergefühl hatte sich schnell eingestellt. Ass man länger nichts, knurrte auch der Magen nicht mehr.

Stärker als Hunger und Durst zehrten die Stille und die Untätigkeit an ihren Nerven. Ausserdem tat Ferrys Hintern weh, vom vielen Sitzen. Auch wenn der Pilotensitz sehr ergonomisch und perfekt an seinen Körper angepasst war, so hatte er trotzdem schon nach einem Tag das Gefühl, wundgesessen zu sein. Also begann er, in der kleinen Pilotenkanzel Turnübungen zu machen. Er setzte sich kniend auf den Pilotensitz, verkehrt herum, machte Dehnübungen, quetschte sich zwischen die Pilotensitze, um halbwegs aufrecht stehen zu können und versuchte, Kniebeugen zu machen. Laura lachte sich dabei fast kaputt. Ihr knackiger Hintern schien nicht zu schmerzen. Sie hatte ihren Sitz so weit nach hinten gekippt, wie es ging und sich kuschelig in die Passform geschmiegt. Einmal hatte er auch versucht, Turnübungen auf Laura zu machen, doch sie hatte ihn lachend, aber energisch weggescheucht. Sex im IFO wäre ein "First" gewesen, welches ihm gefallen hätte, doch Laura fand, sie seien schliesslich keine Teenager mehr... Nun, er durfte sich nicht beklagen, die letzten Tage hatten einige "Firsts" mit sich gebracht… Wenn Ferry dran war mit der Wache, während Laura schlief, erinnerte er sich gerne daran zurück.

Wenn Laura Wache hielt, zeichnete sie auf einem kleinen Zeichenblock, den sie immer in ihrem Rucksack dabei hatte. Ausserdem hatte sie verschiedene Bleistifte mit unterschiedlichen Härten, Kohlestift und ein paar Farbstifte dabei, ein Geo-Dreieck und einen Anspitzer, alles säuberlich in einem flachen Etui verpackt, mitsamt dem Malblock. Sie skizzierte und zeichnete alles mögliche: ihr altes IFO, dass abgeschossen worden war in Atlantis, die Queen of Atlantis - das Schiff, in welchem sie gerade sassen -, Ferry im Tiefschlaf (mit etwas zu grossen Ohren und krummer Nase), einen Maulbeerbaum, die Hauptstadt der Grauen mit dem riesigen Turm und noch viel mehr, was sie in den vergangenen Tagen gesehen hatten.

Wenn sie beide wach waren, erzählten sie sich gegenseitig, was sie alles erlebt hatten in der Zeit ihrer Trennung. Sie hatten sich viel zu erzählen, schliesslich hatten sie sich drei Jahre lang nicht mehr gesehen.

Doch nach drei ganzen Tagen war Ferry heilfroh, endlich wieder Festland zu sehen.

Plötzlich erwachte das Cockpit aus seinem Dornröschenschlaf: dutzende von Lämpchen leuchteten auf, die Bildschirme flackerten kurz, um dann wieder ihren Betrieb aufzunehmen. Es piepste und surrte von allen Seiten.

Sie waren bereits über den schmalen Streifen Meer geglitten und jetzt über dem Festland, mitten in einem geschützten Hafen einer kleinen Stadt. Ferry zog den Beschleunigungshebel in die Nullposition und brachte die Queen of Atlantis zum Stillstand. Er griff auf Lauras Seite hinüber und berührte sie zärtlich an der Schulter. Verschlafen blinzelte sie ihn an.

"Hmm?" brummte sie.

"Guten Morgen, Schlafmütze! Lust auf eine kleine City-Tour?", säuselte er.

Blitzschnell schoss sie hoch und starrte aus der Kanzel. Sie riss die Arme hoch in einer Siegesgeste. Dann liess sie sich mit einem Seufzer wieder in ihren Sitz fallen.

"Geschafft!" Ihre Augen funkelten, als sie zu ihm hinüberblickte. Er grinste.

Sie beeilte sich, ihren Sitz wieder in Flugposition zu bringen und liess ihre geübten Hände über die Armaturen gleiten. In gewichtigem, gespielt förmlichen Ton las sie die Instrumente ab: "Commander, bestätige Ankunft in Essaouira, Marokko-P1. Hat voll hingehauen... Braves Mädchen!" Sie tätschelte den Armaturenblock der Queen. "Funke sofort das HQ an für ein Rescue-Team."

"Wart' noch damit! Ich will mir erst mal die Beine vertreten… Mein Knie ist ganz steif und mein Hintern möchte dringend aus diesem Sitz raus!" Er öffnete die Verriegelung der Glaskanzel und sie glitt lautlos hoch. Eine frische Meeresbrise wehte zu ihnen hinein. Es war warm. Es war herrlich. Etwas ungelenk begann er hinauszuklettern. Die Sprossen der Leiter an der Flanke des Schiffs waren bereits ausgefahren. Laura war schon dabei, auf ihrer Seite herunterzuklettern. Gleichzeitig kamen sie auf festem Boden an und begannen sich umzusehen. Zielstrebig steuerte Laura die Hafenmauer an, wo sie ein geschütztes Plätzchen entdeckt hatte: Pipi machen, war ja klar gewesen.

Ferry hingegen ging auf der Hafenmole auf und ab, streckte sich, hüpfte und versuchte, die steifen Glieder zu lockern. Dann holte er seine Parisienne aus der Brusttasche und zündete sich eine an. Es war die Zweitletzte. Auch diese Rationierung hatte gut hingehauen. Die letzten drei Tage im Schiff hatte er es sich verkneifen müssen, doch jetzt hatte er unendlich Lust, eine zu rauchen. Genüsslich sog er den Rauch tief in die Lungen und liess ihn langsam ausströmen. Er seufzte: das hatte ihm gefehlt.

Laura war zurück, auch sie schien erleichtert und hatte ein Lächeln auf dem Gesicht.

"Endlich.", seufzte sie, "Ich dachte schon, wir kommen gar nie mehr an! So lange im Nebel zu sitzen, ist ganz schön zermürbend."

"Hm.", brummte Ferry und zog noch einmal genüsslich an seiner Zigarette. Ihm war ein bisschen schwindelig im Kopf. Nach drei Tagen Abstinenz haute das Nikotin ganz schön rein. Als er zu Ende geraucht hatte, drückte er den Stummel aus und verstaute ihn in der kleinen Halspastillen-Blechdose, die ihm als mobiler Aschenbecher diente.

Laura war zum Ende der Hafenmole geschlendert und schaute verklärt aufs Meer hinaus, respektive zum Nebel, der hinter dem kurzen Streifen Meer lag. Dorther waren sie gekommen. Atlantis. Was für ein Abenteuer! Auch sie war froh, wieder festen Boden unter den Füssen zu haben; sie hatte sich ihren Ausflug zur Hauptstadt der Grauen anders vorgestellt gehabt. Sie hatte sie einfach finden wollen. Sie war besessen gewesen von ihrer Idee, dass es ein Machtzentrum der Grauen geben musste. Sie hatte es sich selbst und ihren Vorgesetzten, die sie belächelt hatten, beweisen wollen. Es hatte eine schnelle Aufklärungs-Mission sein sollen: reinschleichen, auskundschaften, schnell wieder abhauen. Doch das hatte so nicht hingehauen. Was sie gefunden hatte, war viel grösser und viel besser bewacht als sie es sich vorgestellt hatte! Vielleicht hatte sie auch ihre aufklärerischen Fähigkeiten überschätzt? War sie möglicherweise zu unvorsichtig und ungestüm gewesen? Hätte sie den Feindkontakt vermeiden sollen? Hätte sie ihn vermeiden können? Wahrscheinlich nicht. Sie war abgeschossen worden, zum ersten Mal in ihrem Leben, doch Ferry hatte sie gerettet. Und er hatte sie sicher von der Insel gebracht. Er hatte ihr alles erzählt. Seine irrwitzige Geschichte. Sie hatten ihre Trennung überwunden und wieder zusammengefunden! Sie hatte gemerkt, dass sie ihn immer noch liebte, obwohl sie sich während drei Jahren eingeredet hatte, dass sie ihn hasste, für immer hassen würde… Doch er war gekommen, der edle Ritter in der scheinenden Rüstung, hatte sie gerettet und gepflegt! Er hatte sie geheilt von ihren äusseren Verletzungen und von dem Schmerz in ihrer Seele befreit… Er war ihr Held.

Nein, so hatte sie sich ihren heimlichen Ausflug nicht vorgestellt gehabt... Wärme stieg in ihr auf. Sie bekam rote Bäckchen und fühlte sich wohl. In der Sonne, auf dem Festland. Sie seufzte tief.

"Hast du etwa schon Sehnsucht? Willst du zurück?", fragte es hinter ihr. Ferry war zu ihr getreten und schaute über ihre Schulter in den Nebel, der dick und unbeweglich über dem Meeresstreifen lag.

Sie erschrak und drehte sich zu ihm um; sie hatte ihn nicht kommen hören. Sie schaute ihm tief und verliebt in die Augen.

"Nein. Ich denke, für den Moment ist es okay, mal gerade nicht in Lebensgefahr zu sein…" Sie küsste ihn sanft auf den Mund. "Danke.", fügte sie hinzu.

Er lächelte sie warm an. Sie hatte sich schon mehrfach bei ihm bedankt für ihre Rettung und das ganze Drumherum, doch er hörte es immer wieder gerne. Er war stolz, dass er es geschafft hatte. Er war froh, dass er seine Liebste hatte retten und zurückgewinnen können.

Er warf einen letzten Blick auf den Nebel, fasste Laura um die Taille und führte sie schweigend zu ihrem Doppel-IFO zurück, das fröhlich hüpfend auf sie wartete.

"Apropos Lebensgefahr… Ich bin nicht sicher, ob wir das Schlimmste schon hinter uns haben: wir müssen Paris kontaktieren…" sagte er und ein unheilvoller Unterton schwang in seiner Stimme mit. Er spürte, wie Laura an seiner Seite zusammenzuckte. Sie schien den Gedanken an ihre offizielle Rückkehr verdrängt zu haben.

"Er wird mich in Stücke reissen.", flüsterte sie. Ihre Augen waren glasig geworden und ihr Blick ging ins Nichts - sie schien sich die bevorstehende Situation auszumalen. Ihr Gesichtsausdruck war trotzig, aber Ferry konnte auch Angst in ihren Augen stehen sehen. Sie hatte Angst, aus dem Corps ausgeschlossen zu werden, so wie Ferry damals. Dabei war das Corps ihr Leben, ihre Lebensaufgabe. Er konnte sie nur zu gut verstehen, er fühlte genauso. Sanft drückte er sie an sich.

"Das werde ich nicht zulassen; dafür habe ich dich nicht zusammengeflickt, nur dass ein anderer dich gleich wieder in Stücke reisst!" Er lächelte ihr aufmunternd zu, doch auch in seinen Augen stand ein sorgenvoller Ausdruck. Sie versuchte, sein Lächeln zu erwidern, doch es gelang ihr nur ansatzweise.

"Bringen wir es hinter uns.", sagte er und begann, die Sprossen des IFOs hochzuklettern. Laura tat es ihm gleich auf der anderen Seite des Flugobjekts. In der Pilotenkanzel angekommen, liess sie sich in den Sitz fallen. Widerwillig stellte sie die Hauptfrequenz auf Mittelwelle ein, während Ferry ihr aufmunternd zunickte. Sie zögerte kurz, räusperte sich und holte tief Luft.

"HQ-P1, this is the Queen of Atlantis, calling from Essaouira-P1. Commander Black and Squad Leader Orange request a rescue party at this location. I repeat: please send rescue party with toilet. We are in good health… and happy to be back. Queen of Atlantis, over." Sie sank in sich zusammen, als ob sie sich gerade ein Taxi zum Schafott bestellt hätte.

Ausser einem feinen Rauschen war nichts zu hören. Beide wagten sie kaum zu atmen, gespannt auf die Antwort. Als nach ein paar Momenten noch keine Antwort gekommen war, schaute Laura mit gerunzelter Stirn zu Ferry hinüber. Dieser nickte bestätigend, dass sie nachhaken solle, auch auf seiner Stirn standen tiefe Falten. Keine Antwort? Das war seltsam. Sicher, dass sie nicht direkt das Hauptquartier in Zürich erreichten auf dieser Wellenlänge, war schon klar. Doch es gab jede Menge Relaisstationen, die das Signal weiterleiten müssten. Laura versuchte es erneut.

"This is the Queen of Atlantis, P1AF, Commander Black and Squad Leader Orange." Sie liess einen Moment verstreichen; doch wieder kam keine Antwort, nur statisches Rauschen. Ferry begann, sich Sorgen zu machen; Laura versuchte es weiter.

"Commander Black and Squad Leader Orange request rescue party. Please come in, over!"

Nichts.

Sie sahen sich ratlos an.

Laura kontrollierte die Instrumente und die Frequenzen und schraubte an den Geräten herum. Sie war gerade bereit, einen neuerlichen Funkspruch abzusetzen, als es im Lautsprecher knackte.

"Unknown vessel in Essaouira-P1, please identify yourself. Do not move and do not try to get away. You are surrounded by our fleet. Do not take any hostile measures, or we will punish you."

"Was zum Henker…?", stiess Ferry hervor. Was sollte das? Die hatten wohl nicht alle Tassen im Schrank!

Wieder sahen sie sich an, nicht nur ratlos diesmal, sondern zutiefst erstaunt. Lauras Augen waren gross und rund. Offensichtlich konnte sie sich auch keinen Reim darauf machen. Ihr Blick verriet, dass sie Rat bei Ferry suchte. Dieser zuckte mit den Schultern und schüttelte stumm den Kopf: er hatte genausowenig Ahnung, was hier los war, wie sie. Laura wandte sich wieder den Instrumenten zu, ungläubig den Kopf schüttelnd.

"HQ-P1, this is the Queen of Atlantis, a P1AF two-man-vessel on a secret mission. Please inform Master Paris immediately of our comeback! We are on a peaceful mission and will not attack. I repeat: we are on a peaceful mission and do not intend to attack!" Wieder schüttelte sie den Kopf: nie hätte sie erwartet, dass sie so einen Funkspruch würde absetzen müssen! Erwartungsvoll schaute sie zu Ferry hinüber, er nickte seine Zustimmung: egal, was im HQ los war, Laura hatte sich richtig verhalten.

Es dauerte einen Moment, bis eine Reaktion kam. Ungeduldig starrten sie auf die Monitore.

"Unknown vessel, this is HQ-P1. Do identify yourselves or we will consider you hostile and attack!"

Beide Piloten waren baff; ungläubig starrten sie zuerst auf die Monitore - die nichts dafür konnten - und dann sich gegenseitig an.

In einer fragenden Geste drehte Laura die Handflächen nach oben.

"Was wollen die? Was ist ihr Problem?"

Ferry machte eine verzweifelte Geste mit den Händen. "Keine Ahnung…!" Er überlegte einen Moment lang. "Gib ihnen nochmal durch, wer wir sind. Das kann ja nicht so schwer zu begreifen sein…?"

Laura nickte - etwas verstört, aber zustimmend.

"HQ-P1, this is the Queen of Atlantis, two-man-vessel of P1AF. We identify the crew: Commander Ferry Black and Squad Leader Orange Laura Hidalgo. Please confirm, over!"

Wieder vergingen endlos scheinende Sekunden, bis eine Antwort kam.

"Unknown vessel, this is HQ-P1. We cannot confirm your identity. There are no such members in P1AF as mentioned. Last call: do identify yourselves or we will attack!"

Gleichzeitig mit dieser kryptischen Nachricht gingen die Warnlichter an. Sie waren von einem Zielleitsystem erfasst worden! In Windeseile checkte Laura die Daten auf dem Monitor. Ihre Augen wurden noch grösser.

"Wir sind als Ziel erfasst…! von Squad Leader Green…", flüsterte sie. Sie konnte nicht fassen, was gerade vor sich ging.

"Verfluchte Scheisse!" knurrte Ferry. Er griff nach dem Steuerruder und drückte den Knopf für die Sprechverbindung.

"This is Commander Black calling! Use your goddam voice identification! Commander Black, over!", brüllte er. Langsam geriet er richtig in Rage.

Wieder verstrichen lange Sekunden, bis sich die Stimme aus dem Off meldete. Die Warnleuchten im Cockpit blinkten weiter und ein schriller Alarmton heulte durch die Kapsel. Besorgt schaute Laura auf die Instrumente.

"Soll ich unsere Waffensysteme hochfahren?", fragte sie leise, aber ohne echte Überzeugung.

Ferry schüttelte nur den Kopf: auf keinen Fall! Egal, was los war, er wollte das friedlich regeln, auch wenn er sauer war.

"Unknown vessel, this is HQ-P1. We ARE on voice recognition… there is no match! Do stay quiet and make no hostile moves! A patrol will be with you shortly. Do not offer resistance! I repeat: do not offer resistance or we will attack!"

Die Stille, die auf diesen Funkspruch folgte, war bedrückend. Die Situation schien komplett surreal. Sie waren von einer bisher unbekannten Insel geflohen, die die Hochburg der Grauen war, hatten es durch den endlos scheinenden Nebel geschafft und jetzt, wo sie wieder auf heimischem Territorium waren, drohte die eigene Truppe, sie abzuschiessen?

"Ferry, was sollen wir machen?" Angst schwang in Lauras Stimme mit. Das Piepen der Systeme wurde lauter. Mindestens ein Aufklärer schien sich zu nähern.

Auf Ferrys Stirn standen tiefe Falten. Sein Mund war zusammengepresst. Stumm starrte er ins Leere. "Wir halten die Füsse still und warten ab.", presste er schliesslich hervor. Langsam hob er eine Hand ans Steuer und legte die andere sachte auf den Beschleunigungshebel. Er überlegte, ob sie nicht doch versuchen sollten, abzuhauen. Die Queen war ein extrem schnelles IFO, dennoch standen die Chancen extrem schlecht, da sie bereits als Ziel markiert war.

Es knackte in den Lautsprechern und eine männliche Stimme erklang.

"Unknown vessel, this is Sierra Lima Golf Zero Zero Two. You are tagged as target. Do not try to get away or you will be destroyed. Get out of your vessel, hold up your hands and lay down all your weapons!"

"Youssef!", rief Laura; sie erkannte die Stimme. Ferry nickte, auch er hatte die Stimme mit dem arabisch gefärbten Akzent erkannt: das war ihr Freund, Youssef El Kaouini, Squad Leader Green!

Laura drückte den Knopf für den Sprechfunk. "Youssef! This is Laura! We're back!"

Einen Moment lang blieb es still in der Pilotenkabine, dann erklang wieder die Stimme ihres Freundes.

"Crew of the unknown vessel, I repeat: get out of your ship and hold up your hands! This is the last call… Surrender or I will open fire!"

"Spinnt der?", rief Laura. Sie griff wieder zum Funk, doch Ferry stoppte sie mit einer raschen Handbewegung. Seine Augen waren zusammengekniffen, die Lippen zusammengepresst; er dachte angestrengt nach. Aus dem toten Winkel hinter ihnen glitt ein schnittiges, smaragdgrün schimmerndes Objekt ins Blickfeld: das keilförmige IFO von Youssef hatte die Bordkanonen ausgefahren und auf die Queen gerichtet.

"Tun wir, was sie sagen! Ich weiss nicht, was los ist, aber wir werden es herausfinden... Und ich will auf keinen Fall, dass das hier eskaliert, ich hab ein ganz mieses Gefühl im Bauch!", sagte Ferry. Dann drückte er die Entriegelung der Pilotenkanzel, die sich lautlos hob. An der Seite der Queen fuhren die Sprossen der Leitern aus. Er begann, hinunterzuklettern und Laura tat es ihm nach einem Moment gleich.

Ferry war unten angekommen, drehte sich zu dem grün schimmernden IFO, das keine zwanzig Meter von ihnen entfernt war, löste seinen Gurt, an dem die Handfeuerwaffe hing und liess ihn zu Boden gleiten. Dann machte er zwei Schritte nach vorn und hob die Hände. Widerwillig folgte Laura seinem Beispiel und stellte sich mit erhobenen Händen neben ihn.

"Und jetzt?", flüsterte sie.

"Abwarten.", flüsterte Ferry zurück.

Das IFO glitt langsam auf sie zu und kam unmittelbar vor ihnen zum Stehen. Die Sonne reflektierte auf der Pilotenkanzel und blendete sie, so dass sie nicht hineinsehen konnten. Für einen kurzen Augenblick schien die Szenerie eingefroren. Laura hatte Ferrys in die Höhe gestreckte Hand ergriffen und drückte sie. Dieser spürte, wie sein Herz raste. Irgendwo in seinem Kopf begann P!nk zu singen: Trouble!

Energisch schüttelte er den Kopf, um die Musik zu verscheuchen; gerade jetzt konnte er keinen Wurlitzer in seinem Kopf gebrauchen!

P!nk hielt inne, als sich die Kanzel des IFOs öffnete: langsam glitt sie nach oben und ein smaragdgrüner Helm kam zum Vorschein. Der Pilot schob das Visier hoch und sie konnten die Anspannung auf Youssefs Gesicht sehen. Mit dem durchdringenden Blick eines Sperbers starrte er die beiden an.

"Youssi!", rief Laura, liess Ferrys Hand los und rannte auf ihren Kameraden zu. Als sie an der Seite seines IFOs angekommen war und hineinschaute, sah sie, dass Youssefs Hand auf seiner Waffe lag. Er schaute sie immer noch mit stechendem Blick an und sagte nichts. Laura erschrak und trat ein paar Schritte zurück.

"Youssi! Was soll das? Kennst du mich nicht mehr? Ich bin's, Laura!"

Ferry war hinter sie getreten und beobachtete die Szene mit hochgezogenen Brauen.

"Hallo, Youssef.", sagte er. Er machte sich nicht die Mühe, Englisch zu sprechen, denn er wusste, dass Youssefs Deutsch sehr gut war; er war als Jugendlicher nach Deutschland gekommen und dort aufgewachsen.

Die Augen des Piloten wanderten zu Ferry und wieder zurück zu Laura; sein Körper schien sich ein wenig zu entspannen. Er nahm die Hand von der Waffe und streifte sich den Helm ab. Anschliessend sprang der kleingewachsene, hagere Mann aus seinem IFO und kam auf sie zu.

"Ihr seid es also wirklich?", meinte er mit einer Miene, die verriet, dass er sowohl froh als auch erstaunt war. Er starrte sie immer noch an, als ob er seinen Augen nicht trauen könnte.

"Ja natürlich sind wir es! Was glaubst du denn? Sag mal, was soll das ganze Affentheater?", schnauzte Laura ihn an. Sie hatte die Hände in die Hüften gestützt und sich vor ihm aufgebaut. Das Gesicht, das sie machte, liess keinen Zweifel zu, dass sie sofort eine Erklärung für sein seltsames Verhalten verlangte.

Ihr Gegenüber liess einen prüfenden Blick von oben nach unten über ihre Gestalt wandern. Schliesslich grinste er sie an und breitete die Arme aus.

"Mann, es ist toll, euch zu sehen! Ihr habt euch ganz schön Zeit gelassen... Willkommen zurück!"

Laura verstand gar nichts, doch es war ihr egal. Endlich schien alles wieder normal zu sein; sie warf sich in seine ausgebreiteten Arme und drückte ihn.

"Youssi, Youssi... Es ist schön, dich zu sehen! Du wirst nicht glauben, was wir alles erlebt haben!"

Sie liess ihn los, und bemerkte, dass er ganz rot geworden war. Ferry trat heran und streckte dem Staffelführer die Hand hin. Dieser ergriff sie und zog auch Ferry in eine kurze Männerumarmung mit Rückenklopfen.

"Mann, Ferry, willkommen! Oh… 'Tschuldigung… Commander!", grinste er.

"Ferry passt schon; schön, dich zu sehen, Youssef.", sagte er. Dann und fixierte er den Piloten mit einem Blick, der keine Widerrede zuliess.

"Sagst du uns jetzt, was der Blödsinn gerade sollte? Wieso behandelt ihr uns wie Piraten? Habt ihr uns etwa für Graue gehalten, oder was?"

Der Staffelführer wurde knallrot im Gesicht und sah beschämt zu Boden. Dann drehte er den Kopf in Richtung der Queen und nickte hinüber.

"Na ja, wir hatten ein grosses Schiff auf dem Radar... Wir dachten erst, es sei ein Zerstörer und… wir hatten nicht mit euch gerechnet… Sorry!" Hilflos mit den Armen gestikulierend, ging er zur Queen hinüber; er schien ihrer Frage auszuweichen. Ferry und Laura tauschten Blicke aus: da stimmte etwas nicht! Das konnte unmöglich alles sein? Sie hatten sich schliesslich klar zu erkennen gegeben! Langsam gingen sie zu ihrem Schiff hinüber und lasen auf dem Weg ihre Gürtel auf, um sie sich wieder umzuschnallen. Laura trat an den Kameraden heran und legte ihm eine Hand auf die Schulter, was er aber gar nicht zu bemerken schien. Sein Blick glitt bewundernd über den grossen, eleganten Rumpf des Zwei-Mann-IFOs. Fast ehrfürchtig streichelte seine Hand über den glatten Lack des Bugs.

"Komm schon, Youssi.", begann Laura, "Was ist los? Was soll das heissen, ihr habt nicht mit uns gerechnet? Wir haben uns mehrfach zu erkennen gegeben!"

Die Unterhaltung schien Youssef unangenehm zu sein.

"Es ist kompliziert…", begann er herumzudrucksen. "Das Riesenteil hier hat keine Flottenkennung und wir konnten euch nicht sicher identifizieren… Die Suche nach euch wurde abgebrochen... Vielleicht ein Fehler in der Spracherkennung…? Darf ich mal?", lenkte er ab und zeigte nach oben, zum Cockpit der Queen. Er schien das Gespräch im Sand verlaufen lassen zu wollen. Ferry musterte ihn mit einem kritischen Blick, nickte aber.

"Sicher. Schau sie dir ruhig an." Er pausierte kurz und der kleine Araber kletterte behende die Sprossen hoch und lugte in das geräumige Cockpit. Er pfiff durch die Zähne und murmelte etwas vor sich hin, vermutlich in Arabisch, denn ausser Allah verstanden sie nichts von dem, was er sagte. Ferry hakte nach.

"Soso, ihr habt uns also für einen Zerstörer gehalten, ja? Ihr wisst aber schon, dass ein Zerstörer viel grösser ist, oder?" Er sprach ganz beiläufig, doch eine unterschwellige Schärfe konnte man herausspüren. Youssef war heruntergeklettert und wackelte mit dem Kopf. Er schien sich weder zu einem klaren Ja, noch zu einem klaren Nein entschliessen zu können.

"Na ja, es war gross und unbekannt… du weisst, wie das ist. Lieber auf Nummer sicher gehen…", murmelte er schliesslich.

"Und um auf Nummer sicher zu gehen, schicken sie EINEN Mann? EIN IFO, um den "Zerstörer" zu stoppen? Nimmst du mich auf den Arm, Youssef?" Ferrys Ton war schärfer geworden. Man konnte die Ungeduld in seiner Stimme hören.

Der drahtige Araber schüttelte den Kopf und zeigte stumm an Ferry und Laura vorbei. Sie drehten sich um und entdeckten zu ihrem Erstaunen eine gesamte kleine Armada von IFOs, die hinter der Hafenmole aufstiegen. Es waren an die zwanzig Jets, die gesamte Grüne Flugstaffel! Sie mussten sich angeschlichen haben, als sie ausgestiegen waren, sonst hätte Laura sie schon vorher auf dem Radar entdeckt gehabt.

"Maria und Joe sind auch unterwegs, sie müssten in Kürze auftauchen… Ich werde mal kurz einen Lagebericht funken und Entwarnung geben!", sprach's, und rannte zu seinem IFO hinüber. Mit Maria und Joe hatte er die Staffelführer Gelb und Indigo gemeint. Damit war fast das ganze Grüne Kommando für diesen Auftrag aufgeboten worden. Das war ziemlich heftig. Die Grösse der Queen schien das Corps wirklich in Panik versetzt zu haben.

Kopfschüttelnd tauschten Laura und Ferry wiederum Blicke aus, die sowohl Unverständnis als auch Ratlosigkeit zeigten. Beiden schien das Tamtam, welches hier veranstaltet wurde, total absurd.

Sie bemerkten, wie die Grüne Staffel abrückte. Der Staffelführer war aus seinem IFO geklettert und dematerialisierte es. Er winkte ihnen zu.

"Alles klar. Ich habe das Überfallkommando nach Hause geschickt. Maria und Joe kommen aber trotzdem rasch vorbei, um euch zu begrüssen.", rief er.

"Um uns zu begrüssen, oder um zu checken, ob wir wirklich koscher sind?", raunte Ferry. Auch Laura hatte eine skeptische Miene aufgesetzt. Doch es blieb ihnen nicht viel Zeit, darüber nachzudenken: schon preschten Maria Moosbauers Glaskugel und Joe Sakutas pfeilförmiges Geschoss heran.

Die beiden Staffelführer sprangen aus den IFOs und begrüssten die Zurückgekehrten freundlich, wenn auch etwas wortkarg und distanziert. Auch sie nahmen die Queen of Atlantis unter die Lupe und nickten anerkennend. Dann verabschiedeten sie sich auch schon wieder mit ein paar Floskeln, dass man sich sicher bald sehen werde und dass sie los müssten. Auf dem Weg zu ihrer Glaskugel flüsterte Maria Youssef etwas zu. Dieser nickte nur stumm, doch sein Lächeln schien zu gefrieren.

"Wir sollten los.", meinte er. "Meine Toilette ist gleich da hinten, bei den ersten Häusern." Er zeigte über einen Platz, der den Hafen von der Stadt trennte. Von dem Platz führten mehrere Gassen und Strassen ab; irgendwo dort musste seine Türe stehen.

Die Zweier-Besatzung kletterte zurück in die Queen, um ihre Sachen zu holen. Ferry fühlte sich plötzlich unendlich müde. So hatte er sich ihre Rückkehr nicht vorgestellt. Auch Laura schien bedrückt zu sein. Schweigend griff sie nach ihrem Rucksack und tätschelte vor dem Aussteigen noch einmal kurz die Armaturen der Queen. Unten angekommen, holte Ferry den Saphir heraus und zu zweit dematerialisierten sie ihr glänzendes, neues Zweier-Schiff.

Sie beeilten sich, Youssef nachzulaufen, der vorausgegangen war. Kaum waren sie in eine der Gassen eingebogen, sahen sie auch schon die weisse Holztüre. Sie führte zu einer geräumigen Toilette, die mit wunderschönen, handbemalten Kacheln mit Mauresken verziert war. Die Armaturen waren vergoldet. Offensichtlich keine HQ-Toilette. Auf Ferrys fragenden Blick antwortete ihr Gastgeber knapp: "Das ist meine Toilette! Wir gehen erst einmal zu mir nach Hause… Ich wohne gleich hier, in Essaouira." Das erklärte, warum er als Erster zur Stelle gewesen war. Youssef drückte den Home-Button und nach wenigen Sekunden meldete das System, dass sie angekommen waren.

Youssef öffnete die Tür und führte die beiden Piloten in sein Haus. Es war ein altes Haus, weitläufig, zweigeschossig, es hatte einen Innenhof mit Wasserfläche, auf der Rosenblätter trieben. Es duftete herrlich nach Weihrauch, Amber und orientalischen Gewürzen. Überall lagen und hingen bunte Teppiche. Youssef führte sie zu einer Nische im Patio, die mit bequemen Liegen und bunten Kissen ausgestattet war. Eine grosse Holzschale, übervoll mit Orangen, stand auf einem kleinen Beistelltisch. Der Gastgeber bat sie, sich zu setzen. Er klatschte in die Hände und rief etwas auf arabisch in Richtung einer der reichverzierten und geschnitzten Türen, die von dem Innenhof abgingen.

Überwältigt von der plötzlichen Farbenpracht, nach so vielen Tagen in grauer und matter Umgebung, liessen sie sich in die Kissen fallen. Ferry sog gierig die süsse Luft ein und Laura seufzte genüsslich.

"Schön hast du's hier!", staunte sie anerkennend, an Youssef gewandt. Dann zögerte sie einen Augenblick und ihre Züge wurden ernst. "Aber ich denke, wir sollten schnellstmöglich ins Hauptquartier…"

"Erst gibt es Tee und Gebäck, das schreibt die Gastfreundschaft vor… Paris holt euch ab.", erwiderte der Marokkaner.

Eine hübsche junge Frau in einer altmodischen Dienstmädchenuniform hatte süssen Tee und klebriges Gebäck gebracht. Laura und Ferry waren hungrig und durstig, und die gereichten Dinge waren eine Wohltat. Youssef war immer noch nicht gesprächiger. Sie hatten noch einmal nachgebohrt, was los sei, doch er hatte nur wiederholt, dass Paris auf dem Weg hierher sei und er ihnen alles erklären könne. Um die peinliche Stille, die darauf folgte, zu überwinden, führte er sie in seinem Haus herum. Im oberen Stockwerk führte er sie durch ein gemütlich eingerichtetes Zimmer auf einen Balkon, der zur Strasse hin ging.

Draussen war es laut, das bunte Treiben der Stadt drang zu ihnen herauf und sie merkten erst jetzt, dass man von dem Hupen der Autos und Mofas, dem Geschrei der Händler und dem allgemeinen Brummen der Stadt in dem Innenhof nichts gehört hatte.

Fasziniert betrachteten sie das Gewusel in der engen Gasse unter sich. Alles war voller Farben und Gerüche, Männern in langen Gewändern und Frauen mit Kopftüchern. Die Leute lachten, redeten, tranken Tee oder kauften ein. Ferry und Laura verliebten sich sofort in diese Stadt, die so lebensfroh und bunt war. Nach der Zeit der Isolation, versteckt in Höhlen, ständig auf der Flucht, schien ihnen dieser Ort dem Paradies sehr nahe zu kommen.

Das hübsche Dienstmädchen mit der dunklen Haut und den markanten Gesichtszügen des Berber-Volkes hatte ihnen nochmals Tee und Gebäck gebracht, auf den Balkon; Youssef hatte sich entschuldigt und war verschwunden. Aneinander gelehnt standen sie auf dem Balkon und genossen die Aussicht, während sie den süssen, duftenden Tee schlürften.

"Ihr seid also zurück...", tönte ein Bass hinter ihnen; sie fuhren erschrocken herum. Paris war gekommen.

"Paris!", riefen sie gleichzeitig und strahlten ihn an. Ferry ging mit weit ausgebreiteten Armen auf seinen langjährigen Freund zu, um ihn zu umarmen. Dieser jedoch verschränkte die Arme vor der Brust und schaute Ferry prüfend an. Sein Gesicht schien in Stein gemeisselt zu sein. Keine Regung. Keine Freude, sie wiederzusehen.

"Commander.", nickte er eine minimalistische Begrüssung. Sehr offiziell. Zu offiziell. Gar nicht freundschaftlich. Paris schaute zu Laura hinüber und bedachte auch sie mit einem Kopfnicken.

"Hidalgo." Laura erstarrte zur Salzsäule. Normalerweise nannte er sie Laura, oder Squad Leader. Wenn er den Grad wegliess, konnte das nur heissen, dass sie gefeuert war! Ein Kloss bildete sich in ihrem Hals und Tränen schossen ihr in die Augen: ihr schlimmster Alptraum schien gerade Wirklichkeit geworden zu sein.

Ferry zog die Augenbrauen zusammen, sagte aber nichts. Er musterte seinen Vorgesetzten eingehend: Paris war gealtert. Sein früher fast pechschwarzes Haar war von vielen silbrigen Streifen durchzogen. Wie war das möglich? Sie waren doch gerade mal vielleicht zehn Tage weggewesen?

"Gehen wir!" Es war ein Befehl gewesen, der keinerlei Widerspruch zuliess und auch ein Zeichen, dass Paris nicht zum Plaudern aufgelegt war. Irgend etwas musste ihm über die Leber gelaufen sein, dachte Ferry.

Schweigend stellten sie ihre Teegläser ab und folgten ihrem Vorgesetzten, der mit langen, schnellen Schritten vorausging. Wie Kinder, die man gerade ausgeschimpft hatte, trotteten sie schweigend und mit hängenden Köpfen hinter ihrem Vorgesetzten her. Ferry wagte einen Seitenblick zu Laura und sah, dass sie immer noch mit den Tränen kämpfte. Ihre Kieferknochen standen hervor, ihre Lippen waren fest aufeinandergepresst. Er griff nach ihrer Hand und drückte sie, um ihr zu zeigen, dass er bei ihr war und sie beschützen würde. Alles würde sich aufklären und zum Guten wenden. Diese Gedanken versuchte er in den Händedruck zu legen, auch wenn er selbst im Moment nicht davon überzeugt war. Irgend etwas musste vorgefallen sein. Ferry hatte gar kein gutes Gefühl in der Magengegend.

Sie trafen Youssef vor seiner reichverzierten Toilette und alle vier traten ein. Youssi transferierte sie nach Essaouira-P1, wo Paris' Toilettentür auf sie wartete. Sie stand direkt vor dem Klotz, der in P0 Youssefs Haus war. Es war von weitem zu erkennen, dass es eine Standard-HQ-Toilette war: Paris war also aus dem Hauptquartier gekommen und würde sie vermutlich auch dort hinbringen. Youssef hob zum Abschied stumm die Hand, dann verschwand er wieder mit seiner Toilette.

Ohne ein weiteres Wort betraten sie die Toilette, mit der Paris gekommen war. Sie war gross genug für alle drei, auch wenn sie sich nicht setzen konnten, doch das war auch nicht zwingend nötig. Paris war vorangegangen, Ferry hatte Laura den Vortritt gelassen und trat als Letzter ein, zog die Türe hinter sich zu und verriegelte sie automatisch. Ohne die beiden eines Blickes zu würdigen, drückte Paris den Knopf für die Destination HQ-P1. Er hatte ihnen den Rücken zugewandt und starrte geradeaus an die Wand; die Arme hatte er wieder vor der Brust verschränkt. Hinter seinem Rücken tauschten sie fragende Blicke aus. Ferry hob die Schultern und machte mit den Händen ein Zeichen, dass er ratlos war und sich keinen Reim darauf machen konnte, was los war. Laura war leichenblass. Sie senkte den Blick und starrte zu Boden.

Die Monitore zeigten, dass sie unterwegs waren und eine Computerstimme aus dem Off kündigte an, dass sie im Begriff waren, in Zürich-P1 zu landen. Der Countdown begann herunterzuzählen. Die Transferkapsel ruckelte ganz kurz und es folgte ein feines Zischen, ähnlich einem Seufzer, das ankündigte, dass sie gelandet waren. Paris drehte sich um und trat auf die Tür zu. Laura und Ferry drückten sich an die Wand, um ihm Platz zu machen. Ohne sie anzuschauen, entriegelte Paris die Tür, dann hielt er inne. Er drehte sich zu ihnen um und streckte eine Hand aus.

"Die Waffen!", sagte er. Sein Gesichtsausdruck liess keinen Zweifel darüber offen, dass er es todernst meinte. "Bitte.", knurrte er hinterher.

Ferrys Ohren begannen zu glühen; er war kurz davor, zu explodieren. Diese Forderung war nicht nur absurd, sondern eine richtiggehende Frechheit! Youssef hätte ihnen die Waffen abnehmen können, doch er hatte es nicht getan. Paris hätte sie ihnen ebenfalls schon in Essaouira abnehmen können und hatte es nicht getan. Warum also jetzt? Was hatte das zu bedeuten? Hatte er ihnen die Waffen schon die ganze Zeit abnehmen wollen, und sich erst jetzt dazu durchgerungen?

Ferry starrte seinen Vorgesetzten an, ohne sich zu rühren. Paris starrte kalt zurück. Seine Augen verrieten nichts, sie schienen wie versteinert. Innerlich zählte Ferry bis Zehn, um sich zu beruhigen. Er hatte nicht vor, einen Aufstand zu veranstalten, doch Paris' Verhalten ging ihm massiv gegen den Strich. Er liess seinen Kopf nach links und nach rechts fallen und die Gelenkkapseln knackten geräuschvoll. Dann atmete er tief durch, streckte sich und sah zu Laura hinüber. Sie machte einen Schmollmund wie ein Kind, das sein Spielzeug nicht hergeben will. In ihren zusammengekniffenen Augen las er, dass es ihr genauso ging wie ihm. Sie schielte zu ihm herüber, wohl um zu sehen, wie er sich verhielt. Fast unmerklich nickte er ihr zu; dann griff er langsam an sein Holster, löste den Halteriemen und zog die Waffe mit zwei Fingern heraus. Sein Blick war ebenso eisig wie der von Paris, als er ihm die Waffe hinhielt.

Aus den Augenwinkeln gewahrte er, dass auch Laura die Waffe aus dem Holster geholt hatte. Einen Moment lang hielt sie sie feuerbereit in der Hand und die Griffschalen leuchteten auf: der Handlinien-Scan hatte sie als Besitzerin der Waffe identifiziert und die Waffe scharf geschaltet! Paris zog eine Augenbraue hoch, verharrte jedoch unbeweglich. Mit der anderen Hand griff Laura den Lauf der Waffe und hielt sie Paris mit dem Griff voran hin. Ihr Blick hatte etwas Drohendes. Scheinbar ungerührt nahm Paris die Waffe an sich und steckte sie zu Ferrys Waffe in seinen Gürtel. Wortlos drehte er sich um, öffnete die Tür und trat hinaus. Sie folgten ihm ins Hauptquartier.

Die Köpfe aller anwesenden Mitarbeiter drehten sich zu ihnen um, einige standen auf, jemand klatschte. Ferry kannte einige der Anwesenden von früher: in ihren Gesichtern las er Freude und Überraschung. Andere Gesichter zeigten nur blankes Staunen. Das Klatschen erstarb. Paris hatte eine so finstere Miene aufgesetzt, dass alle sich bemühten, schnell wieder an ihre Arbeit zu kommen.

"Laura! Ferry! Welcome back!", schrie eine Stimme zu ihrer Rechten. Sie erkannten Master Susan, die Kanadierin, die mit weit ausgebreiteten Armen aus ihrem Büro gestürmt kam. Sie strahlte und schien ausser sich vor Freude. Immerhin, dachte Ferry, wenigstens eine Person, die sich zu freuen schien, dass sie zurück waren. Susan hatte sie erreicht und fiel Laura um den Hals und drückte sie fest. Auch Laura schien froh zu sein, dass sich jemand mit ihnen freute und erwiderte die Umarmung. Tränen liefen über ihre Wangen und sie vergrub ihr Gesicht in der Schulter der älteren Frau. Susan tätschelte ihr sanft den Rücken und warf Paris einen vorwurfsvollen Blick zu.

"It's okay, you're safe now! I am so glad to see you!", flüsterte sie Laura zu. Paris räusperte sich. Nach einem kurzen Moment löste Master Susan die Umarmung, hielt Laura auf Armeslänge und betrachtete sie eingehend von oben bis unten, wohl um zu sehen, ob es ihr wirklich gut ging. Ihre Stirn kräuselte sich kurz, als sie das aufgeschnittene Hosenbein von Lauras Uniform sah. Ferry hatte es aufschneiden müssen, um sich um ihr gebrochenes Bein kümmern zu können. Master Susan schien sich ihre eigenen Gedanken darüber zu machen, sagte jedoch nichts. Wieder strahlte sie Laura an und strich sanft die Tränen von deren Wangen. Wieder räusperte sich Paris, doch Susan ignorierte ihn. Sie war die Leiterin der Kommandozentrale und sie konnte hier tun und lassen, was sie wollte; der Chef der Streitkräfte war hier nur geduldeter Gast und das liess sie ihn mit einem warnenden Blick wissen. Dann wandte sie sich Ferry zu. Erst legte sie ihm ihre Hand auf die Schulter und drückte sie leicht. Sie musterte ihn - wie zuvor Laura - mit prüfendem Blick. Ferrys Ohren begannen zu glühen; er wurde sich bewusst, dass er vermutlich schrecklich aussah. Unrasiert und schmutzig, wie einer, der aus der Wildnis kam! Was ja auch stimmte... Doch Master Susan schien zufrieden mit dem, was sie sah. Sie zog auch ihn in eine feste Umarmung und drückte ihn. Sie hatte mehr Kraft, als man von einer Dame erwarten würde, die um die Siebzig sein musste.

"Welcome back, Ferry. It's been too long!", sagte sie. Er konnte echte Freude und Mitgefühl in ihrer Stimme hören. Er hatte immer einen guten Draht zur Chefin von Central Command gehabt, als er noch aktiver Commander gewesen war.

"It's good to be back. Good to see you, Susan.", flüsterte er zurück. Wie immer liess er ihren Rang weg, wie er das bei allen Mitgliedern des Corps tat. Es mangelte ihm nicht an Respekt für Vorgesetzte, doch er betrachtete die Leute lieber als Menschen, als Freunde, denn als Funktionsträger. Auf der anderen Seite hatte er auch nie verlangt, dass man ihn mit seinem Titel ansprach.

"Susan!", bellte Paris. Er schien Mühe zu haben, sich beherrschen zu können. Wäre er nicht so schwarz gewesen, hätte man wahrscheinlich gut sehen können, dass er vor Wut rot angelaufen war.

Master Susan liess Ferry mit einem Seufzer los und lächelte ihn aufmunternd an. Sie sah von ihm zu Laura und dann zurück zu ihm. Ein Funkeln trat in ihre Augen; sie schien zu wissen, dass die beiden wieder zusammen waren und es schien ihr zu gefallen. Erneut lächelte sie und nickte den beiden kurz zu.

"I let you go with your grumpy boss now. We'll talk later. It's good to have you two back!" Sie drehte sich zu Paris um und bedachte ihn mit einem wütenden Blick, dann stolzierte sie an ihm vorbei, zurück in ihr Büro. Paris durchbohrte sie mit einem ebenso wütenden Blick von hinten, bis sie verschwunden war. Dann wandte er sich den Rückkehrern zu.

"Mitkommen!", knurrte er. Er steuerte auf den Durchgang zu, der neben den Büros lag und aus der Kommandozentrale führte. Hinter dem Durchgang lagen das Lazarett, Laboratorien, die Mannschaftsküche und die Aufenthaltsräume für die Squad on Duty, die Pikett-Staffel.

Mit einem unterdrückten Seufzer setzten sie sich in Bewegung, um ihrem Vorgesetzten zu folgen. Die herzliche Begrüssung von Susan hatte gut getan, doch jetzt schien wieder eine Eiszeit über sie hereinzubrechen.

Paris steuerte schnurstracks auf die Krankenstation zu. Ohne zu klopfen trat er ein; Laura und Ferry folgten ihm. Klara, die Chefärztin des Corps, war erschrocken aufgesprungen und schaute die drei mit grossen Augen an. Die Ärztin schien einen Moment zu brauchen, bis sie die beiden Piloten erkannte, doch dann trat ein breites Lächeln auf ihr Gesicht.

"Hallo! Da seid ihr ja! Schön.", strahlte sie. Ohne sich von seiner grimmigen Miene beeindrucken zu lassen, ging sie an Paris vorbei und schüttelte den beiden die Hände. Sie hatte einen beeindruckenden, kräftigen Händedruck, den man ihr gar nicht zutraute. Klara war Deutsche, grossgewachsen und dünn. Sie war so bleich, dass man das Gefühl hatte, durch sie hindurchsehen zu können. Sie hatte kurzes, strubbliges Haar, welches jedes Mal, wenn man sie sah, eine andere Farbe hatte. Vielleicht nutzte sie die Haarfarbe, um den fehlenden Teint zu kompensieren? Heute lag der Farbton irgendwo zwischen lachsrosa und kupferfarben.

Einige Piloten nannten Klara abschätzig "den Geist", weil sie so bleich war und immer irgendwie entrückt schien. Ferry hingegen begegnete ihr stets mit Respekt, denn er wusste, wie kompetent Klara war: nach der Schlacht von Mollis hatte sie drei Tage ohne Pause gearbeitet und um das Leben der Verletzten gekämpft. Viele der Überlebenden verdankten Klara ihr Leben und dafür war Ferry ihr unendlich dankbar; er hatte viele Kameraden verloren an diesem Tag, doch dank Klara waren es einige weniger, als es hätten sein können.

Mit ihren grossen, hellen Augen schaute die Ärztin Paris fragend an; sie schien nicht ganz zu verstehen, was die drei hier wollten. In ihren Augen war gesund, wer selbst gehen konnte. Ungeduldig starrte Paris zurück.

"Saubermachen und durchchecken! Das volle Programm! Mit den besprochenen Extras… Ich will wissen, ob sie es sind… Dann sofort zu mir ins Büro!", wies er an. Klaras Blick verklärte sich für einen Moment, als ob sie träumte, doch sie schien nur zu überlegen. Dann tauchte sie wieder auf und strahlte Paris an. Sein Befehlston schien sie überhaupt nicht zu berühren.

"Ach so! Ja, klar. Wie besprochen. Bis gleich!", sagte sie und wedelte mit den Händen in Richtung Tür, um Paris zu bedeuten, dass er gehen solle. Mit einem Stirnrunzeln wandte sich dieser zum Gehen. Er schien noch etwas sagen zu wollen, doch er liess es bleiben und ging mit langen Schritten davon und knallte die Tür hinter sich zu. Auch das schien die Ärztin nicht zu stören. Sie wandte sich den Patienten zu.

"Na, hattet ihr eine gute Zeit? Ihr wart ganz schön lange weg. Aber egal, jetzt seid ihr ja da… Dann checken wir euch mal durch! Obwohl ich finde, dass ihr ganz gesund ausseht... Aber wenn Master Paris das so will… na ja. Geht euch doch erst mal frischmachen. Ihr wisst ja, wo die Duschen sind." Sie zeigte auf eine Tür, die zu einem angrenzenden Raum führte. Dahinter lagen die Station mit den Krankenbetten, sowie die Toiletten und Duschen. Klara kramte in einem Schrank und holte zwei Gläser hervor, die sie den Piloten strahlend hinhielt, als ob es ein Geschenk wäre. "Bitte vollmachen, ja?"

Daraufhin wedelte sie erneut mit der Hand, was wohl bedeuten sollte, dass die beiden gehen sollten. Mit ihren Gedanken schien die Deutsche bereits wieder ganz woanders zu sein. Sie murmelte irgend etwas vor sich hin und setzte sich wieder hinter ihren Schreibtisch, der überquoll von Büchern und Stapeln von irgendwelchen Krankenakten und sonstigen Unterlagen. Ordnung schien nicht so ihr Ding zu sein.

Wie Lakaien standen Laura und Ferry da, die Pipi-Gläser in den Händen und schauten sich fragend an. Anscheinend wollte ihnen niemand erzählen, was eigentlich los war. Laura zuckte mit den Schultern und steuerte die Tür zu den Waschräumen an; Ferry holte sie mit wenigen Schritten ein.

"Was sollte das heissen, "ich will wissen, ob sie es sind"? Meinst du, Paris hält uns für Graue, die sich als wir verkleidet haben, oder was?", fragte er im Flüsterton. Es gab keinen Grund zu flüstern, denn die Krankenstation war leer, aber er wollte auf Nummer sicher gehen. Laura blieb stehen und schaute ihn an.

"Ich habe keine Ahnung! Ich verstehe gar nichts mehr im Moment! Ausser Master Susan scheinen alle komplett durchgedreht zu sein… Na ja, Klara scheint nicht viel anders als sonst, aber sie ist immer ein bisschen sonderbar… Doch auch sie scheint mehr zu wissen, als sie uns sagen will. Und Paris? Dass er sauer sein wird, war anzunehmen, aber dass er gleich so blöd tut, finde ich die Höhe! Keine Freude, uns wiederzusehen! ¡Nada! Nichts!"

Wütend schüttelte sie den Kopf und warf ihre Haare über die Schulter, wie nur sie es konnte.

Doch dann wurde er wieder ernst. Auch er war sauer. Immerhin hatte Paris ihn persönlich auf diese Mission geschickt und Ferry konnte schliesslich nichts dafür, dass es ein paar Tage gedauert hatte! Damit hatte man rechnen müssen. Dass sie beide heil und wohlbehalten zurück waren, musste doch eigentlich als voller Erfolg der Mission gewertet werden? Was also hatte Paris ihm vorzuwerfen? Wütend starrte er auf den Probenbecher in seiner Hand.

"Pipi-Probe!", motzte er. "Was glauben die eigentlich? Dass wir einen Grau-Virus einschleppen, oder was? So was hab ich noch nie erlebt. Frechheit!"

"Mir egal. Ich freu' mich jetzt auf eine lange, heisse Dusche... Danach können sie von mir aus untersuchen, was sie wollen. Ich bin sowieso Geschichte in dieser Truppe! Dass Paris mich rauswirft, ist ja wohl klar…", entgegnete Laura und trat in einen der Waschräume ein.

Ferry starrte noch einen Moment lang das Glas in seiner Hand an, als ob es ihm Antworten liefern könnte, doch das konnte es nicht. Also trat er schweigend in die benachbarte Kabine ein. Er zog die schmutzige Uniform aus und öffnete durch Drücken einer Kachel seinen Spind. Wie jeder Raum waren auch die Waschräume eigentlich Toiletten. Ergo boten sie auch alle Annehmlichkeiten einer Toilette, zum Beispiel eine neue, saubere Uniform im Spind. Er holte sie heraus, hängte sie an einen Haken an der Wand und warf die schmutzige hinein, nachdem er die Taschen geleert hatte. Er holte auch gleich ein frisches Glarnertüchlein heraus, ein schwarzes. Er würde Paris zeigen, dass er echt und noch der Alte war!

Er griff hinter den Stapel mit Tüchlein und holte Rasierzeug, Zahnbürste und Zahnpasta hervor: die Toilette hatte an alles gedacht und alles bereitgestellt. Ferry fand sogar einen Bartschneider. Das war neu! Wollte das System ihm etwas sagen? Sollte er sich einen Bart stehen lassen? Er schaute sich im Spiegel an. Er hatte immer einen starken Bartwuchs gehabt und als er losgeflogen war nach Atlantis, hatte er schon einen Dreitagebart gehabt. Dieser hatte sich über die rund zehn Tage zu einem echten Vollbart entwickelt; Ferry fand, dass er wie der Räuber Hotzenplotz persönlich aussah… Sorgfältig stutzte er den Bart mit dem Trimmer, doch er fand, dass es irgendwie nicht sein Stil war… Also seifte er sich ein und begann mit der Nassrasur. Er begann immer bei den Kotletten und arbeitete sich zum Kinn vor. Doch diesmal liess er Kinn und Oberlippe aus. Vielleicht war das sein Stil? Er wischte den Schaum um die Mundpartie weg und betrachtete sein Spiegelbild: dieses präsentierte einen Oberlippenbart, der sich um die Mundwinkel herum zog und in ein Kinnbärtchen überging, alles schön kurz geschoren, nur etwas mehr als ein Dreitagebart.

Ferry fand, dass sein Spiegelbild irgendwie fremd aussah, aber irgendwie auch chic… Gepflegt und männlich. Er bemerkte, dass in der Kinnpartie schon einige silbrige Stellen waren, doch das störte ihn nicht; er war so alt, wie er war, dagegen konnte man nichts machen. Ein Mann im besten Alter, wie man so schön sagte... Ja, das Bärtchen gefiel ihm! Er würde es stehen lassen; er war neugierig, was Laura dazu sagen würde.

Anschliessend putzte er sich die Zähne, machte das Probenglas voll und stellte sich unter die Dusche. Es tat unendlich gut, nach all diesen Tagen wieder eine heisse Dusche nehmen zu können! Laura hatte recht gehabt: nach dieser entspannenden Wohltat fühlte er sich gleich besser. Seine Wut war verflogen und er fühlte sich frisch und voller Tatendrang. Nun würde er herausfinden, was hier los war!

Er zog die frische Uniform an, band sein Halstüchlein um und betrachtete sich noch einmal im Spiegel: Fertig, ready for battle!

Er nahm den Becher mit der Urinprobe und trat hinaus. Im selben Moment öffnete sich die Tür neben ihm; Laura war auch fertig. Sie war noch immer bleich, aber ihre Bäckchen hatten einen sanften rosa Schimmer von der heissen Dusche bekommen. Wie immer sah sie aus, wie aus dem Ei gepellt, modelverdächtig. Sie schaute ihn an und warf die wallenden Haare über die Schulter. Gott, war diese Frau sexy! Ferry schoss es durch den Kopf, dass sie vielleicht eins der Krankenbetten zweckentfremden könnten, doch er verwarf den Gedanken schnell wieder. Er wollte nicht, dass die Frau Doktor sie beim Geschlechtsakt erwischte. Laura hatte den Kopf leicht zur Seite geneigt und studierte sein Gesicht. Oh... Das Bärtchen!

"Na, hat die Dusche gut getan?", begann er. Lauras Scanner-Blick war ihm unangenehm.

"Hmmm.", machte Laura; sie studierte noch immer sein Gesicht… Sie kniff die Augen zusammen und runzelte die Stirn.

"Wollen wir? Die Höhle des Löwen wartet…", versuchte Ferry sich aus der Situation zu befreien.

"Okay.", kam es zurück. Diesmal war es an Ferry, seine Partnerin fragend anzuschauen.

"Ist okay.", erklärte sie, "Das Bärtchen… Ich muss mich noch dran gewöhnen, aber es ist okay. Es steht dir! Macht dich irgendwie… reifer? Passt zu dir... Lass uns gehen, ich will das alles so schnell wie möglich hinter mich bringen!" Damit ging sie mit energischen Schritten in Richtung der Tür, die zum Untersuchungszimmer führte.

* * *

Ferry war als erster drangekommen bei Doktor Klara und nach einer Weile war ihr Assistent Gian dazugekommen und hatte sich weiter um ihn gekümmert, während Klara mit der Untersuchung von Laura begonnen hatte. Nun wartete Ferry in der Kaffeeküche des Hauptquartiers auf Laura.

Die Untersuchungen hatten ganz schön gedauert. Sie waren einen schier endlosen Fragebogen durchgegangen: was er gegessen hatte, was er getrunken hatte, ob er sich gut fühle, Krankheitssymptome, Verletzungen aus dem Gefecht mit den Grauen, und so weiter. Röntgen, Blutprobe, Abklopfen, Leistungs-EKG, das volle Programm! Zum guten Schluss hatte es sogar noch eine Tetanus-Impfung gegeben, scheinbar eine Anweisung von Paris... Ferry fasste sich an den Oberarm, wo die Impfung gesetzt worden war. Scheisskerl! Tetanus-Spritzen taten immer weh, mehrere Tage lang. Und in Ferrys Fall war die Spritze total unnötig, weil er erst vor kurzem eine Auffrischung bekommen hatte, als er sich in der Küche seines Bistros geschnitten hatte und den Schnitt mit ein paar Stichen hatte nähen lassen müssen! Doch Gian war hart geblieben, Anweisung sei Anweisung, hatte er lapidar gemeint. Ferry rubbelte den Oberarm, doch der Schmerz würde davon nicht weggehen, das wusste er. Einen Vitamin-Mineralien-Cocktail hatte der Assistenzarzt ihm auch noch gespritzt, doch dieser schmerzte überhaupt nicht.

Commander Black ging hinüber zu der vollautomatischen Kaffeemaschine. Es war ihm schleierhaft, wie das Corps es geschafft hatte, der Toilette eine so tolle Kaffeemaschine zu entlocken, doch für den Moment war es ihm egal: er war ein Kaffee-Junkie und seit vielen Tagen auf Entzug! Also genoss Ferry ganz einfach die Tatsache, dass er tollen Kaffee auf Knopfdruck haben konnte; er liess sich seinen vierten Espresso heraus, gab Zucker dazu und schlürfte das heisse Getränk genüsslich. Laura würde mit ihm schimpfen, wenn sie ihn so schlürfen hörte, aber sie war ja nicht da. Nur die kleine Rothaarige, die offensichtlich neu war, hatte gerade Pause, löste ein Sudoku und gönnte sich dazu einen Cappuccino.

Ferry bemerkte, dass sie ihn wiederholt heimlich anstarrte, um schnell den Kopf wegzudrehen, wenn er sich in ihre Richtung drehte. Vielleicht war ihm sein Ruf als ständiger Querulant vorausgeeilt? Oder sie hatte sich über ihn schlau gemacht und herausgefunden, dass er eine Legende war im Corps, mit mehr Kampfeinsätzen und Abschüssen als irgend jemand sonst? Vielleicht gefiel ihr ja auch sein neuer Look? Er musste ob dem Gedanken lächeln, doch schnell wurde er wieder ernst: wo blieb Laura? Seine Untersuchung hatte schon lange gedauert, doch die ihre schien sich noch viel länger hinzuziehen!

Gerade, als er sich aufmachen wollte, um ins Lazarett zu gehen um nachzufragen, was so lange dauerte, öffnete sich die Tür und Laura trat ein, gefolgt von Klara. Lauras Miene nach zu urteilen, war sie alles andere als entspannt. Klara lächelte ihr entrücktes Lächeln wie immer.

"Na endlich!", brummte Ferry. "Kaffee?"

"Hm." Das sollte wahrscheinlich "ja, gerne" bedeuten, vermutete Ferry und beeilte sich, Laura einen doppelten Espresso zu machen. Er reichte ihr die Tasse und sie setzte sich damit wortlos an den Tisch, neben die junge Mitarbeiterin mit den roten Haaren, welche Laura mit grossen Augen anstarrte. Doch Laura schien es nicht zu bemerken. Sie trank langsam ihren Espresso.

"Klara? Auch Kaffee?", fragte Ferry.

"Nein, danke. Ich wollte nur Laura herbringen. Ich muss gleich wieder ins Labor und einige Tests starten. Trinkt ihr ruhig euren Kaffee. Ich komme dann gleich wieder und begleite euch zu Paris. Ferry: wenn du mal Zeit hast, würde ich gerne mit dir über Lauras Beinbruch reden... Das ist überaus interessant! Und Laura: wie gesagt - wenn ihr bei Paris fertig seid, kommst du bitte noch einmal auf die Station, dann sollten die Ergebnisse vorliegen… Tschü-üs, bis gleich!" Mit einem breiten Lächeln war sie auch schon zur Tür hinaus, geschäftig wie immer. Und ebenso kryptisch.

Ferry trat zu Laura und drückte ihre Schulter. Sie sah zu ihm hoch und erkannte seinen fragenden Blick.

"Alles in Ordnung bei dir?", fragte er.

"Weiss nicht... Irgendwas ist Klara aufgefallen, doch ein Gerät scheint kaputt zu sein, also muss sie einen anderen Test machen… Ich bekomme nachher die Resultate. Kann aber nichts Schlimmes sein, sie hat mich für grundsätzlich gesund erklärt… Der Beinbruch war auf dem Röntgenbild kaum zu sehen, Klara hat es fast nicht glauben können!" Sie lächelte ihn an. "Hast du wirklich gut hingekriegt!" Ferry lächelte zurück.

"Wollen wir dann?" fragte er. Laura zögerte.

"Lass mich noch einen Espresso trinken… Die Hinrichtung kann warten." Die strahlend blauen Augen von Petra, die neben ihr sass und so tat, als hörte sie nicht zu, weiteten sich.

"Alles klar, lass dir Zeit. Aber ich bin sicher, dass sich alles aufklären wird...", sagte er und drückte nochmals ihre Schulter. Er beugte sich hinab, um ihr einen Kuss aufs Haar zu geben. Sie duftete frisch, nach Seife und Puder, wie immer… Er liebte diese Frau und er würde sie beschützen!

Petra verschluckte sich an ihrem Cappuccino und entschuldigte sich, um fluchtartig den Raum zu verlassen. Erneut musste Ferry lächeln; das Mädchen war wirklich noch sehr jung und unerfahren. Aber jetzt hatte sie tolles Klatsch-Material, das sie ihren Kollegen von der Schicht erzählen konnte…

Er holte Laura einen weiteren Espresso und stellte ihn vor sie hin; sie schien es nicht einmal zu bemerken, sie war total abwesend. Ferry drehte sich um und begann, das Schwarze Brett zu studieren. Dort hingen immer die neusten News, Angebote von Mitarbeitern von Dingen, die sie suchten oder verkaufen wollten und solche Sachen. Sein Blick blieb an einem offiziellen Schreiben hängen, das zentriert am Brett hing: es trug das Logo des Corps, die parallelen Linien, von denen sich eine der anderen an einem Punkt näherte. Das Schreiben trug die Unterschrift von Master Paris, Leiter P1AF, der Parallel 1 Armed Forces.

Ferry lass das Memo mehrmals durch, die Stirn in tiefe Falten gelegt, dann schaute er auf die Anzeige über dem Eingang, welche Zeit und Datum angab. Dann rechnete er.

"Ich weiss jetzt, was los ist!", konstatierte er. Lauras Kopf fuhr herum, ihre schwarzen Augen geweitet. "Und weshalb die Sprachidentifikation versagt hat…" Ferry deutete auf das Memo.

"Wir sind tot!", sagte er.

"Aber herzlich eingeladen, Morgen an unsere Abdankungsfeier zu kommen. In allen Ehren: Commander Black und Squad Leader Hidalgo, killed in action in feindlichem Gebiet…

Statusänderung von missing in action (MIA) zu killed in action (KIA) und damit als tot erklärt am 6. Mai 2015… Die Abdankungsfeier findet in der Kommandozentrale statt, eine Woche später, Morgen, am 13. Mai…"

Langsam liess er seine Hand sinken und schaute Laura an. Er konnte sehen, dass sie versuchte, zu verstehen, was er ihr gerade mitgeteilt hatte, doch sie schien nicht zu begreifen. Ihr Blick schoss hoch zu der Anzeige. Mit einem ungläubigen Ausdruck im Gesicht starrte sie auf den Monitor. Ferry erkannte, dass es in Lauras Kopf fieberhaft rechnete. Immer wieder schüttelte sie den Kopf.

"Das kann doch nicht sein!", flüsterte sie. "Wir waren doch nur zehn Tage weg! Höchstens zwölf. Ich bin am 6. April losgeflogen…" Sie brach ab. Ferry nickte zustimmend.

"Stimmt. Ich bin dir am 8. April nachgeflogen. Heute müsste nach meiner Rechnung der 18. April sein… Aber offensichtlich haben wir heute den 12. Mai…?"

Betreten schauten sie sich an. "Wie ist das möglich?", fragte Laura. Ferry blickte ratlos drein.

"Der Zeitunterschied von P0 zu P1 kann es nicht sein… Der ist nicht so gross!" Commander Black zögerte, etwas schien ihm durch den Kopf zu gehen. "Eigentlich kann es nur der Flug durch den Nebel sein… Da gibt es grosse Diskrepanzen, manchmal…" Ungläubig blickte Laura zu ihm hoch.

"Wir waren drei Tage im Nebel! Und in dieser Zeit sollen hier über drei Wochen vergangen sein? Hältst du das wirklich für möglich?"

"Es scheint mir die einzige mögliche Erklärung zu sein…" Ferry machte eine lange Pause und grübelte weiter.

"Es muss unendlich hart für Paris gewesen sein, über einen Monat nichts von uns zu hören… Uns für tot erklären lassen zu müssen! Stell dir das mal vor!" Er schüttelte den Kopf und las noch einmal das Memo; er konnte es immer noch kaum fassen. Laura hatte ihr Gesicht in den Händen vergraben und schaukelte sachte mit dem Oberkörper vor und zurück.

"Jetzt verstehe ich auch, warum uns alle wie Gespenster anschauen!", murmelte sie zwischen ihren Händen hervor. Ferry nickte und nahm den Gedanken auf.

"Stell dir mal vor, was durch die Köpfe der Leute hier gegangen sein muss: einen Monat verschollen in feindlichem Gebiet! Da kann alles mögliche passiert sein; wir hätten gefangengenommen werden können, von den Grauen gefoltert, umgedreht, geklont oder kopiert worden sein! Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt! Irgendwie verstehe ich jetzt, dass Paris erst mal wissen wollte, ob wir es wirklich sind…" Er raufte sich mit der Hand durch die Haare. Laura blickte auf.

"Unter diesen Umständen hat sich Paris fast schon zurückhaltend benommen. Er hätte uns auch gleich in Ketten legen lassen können in Essaouira! Andererseits - wir waren nicht weit davon entfernt... Ich kann mir vorstellen, dass Youssef am Ende nicht ganz so hart durchgegriffen hat, wie es seine Anweisungen verlangt haben… Dafür wird er von Paris noch was zu hören bekommen! Aber Youssef kennt uns und hat uns wiedererkannt! Kann für ihn auch nicht leicht gewesen sein…"

Beide blieben einen Moment lang still und gingen die vergangenen Stunden geistig nochmals durch, unter Berücksichtigung der neu erworbenen Fakten. Das ganze Gehabe schien schon ein bisschen übertrieben, aber wenn die Sicherheit des Corps betroffen war, durfte man wahrscheinlich keine Abstriche machen. Es war Paris' Job, übervorsichtig und misstrauisch zu sein.

"Na ihr zwei?", lachte sie von hinten eine Stimme an. "Genug Kaffee gehabt? Man könnte fast sagen, der Kaffee hier weckt Tote auf!" Klara brach ab ihrem kleinen Scherz in ein lustiges, ansteckendes Gelächter aus. Sie war vielleicht ein bisschen seltsam, aber man konnte es ihr nicht übelnehmen. Sie schien ehrlich froh zu sein über ihre Rückkehr.

"Na los, gehen wir zum Big Boss!" Klara wedelte geschäftig mit ihren Händen, um ihnen zu bedeuten, dass sie sich aufmachen sollten.

Sie ging voran und die zwei Piloten mussten sich sputen, um mit der schlaksigen Ärztin mitzuhalten. Klara trat in Paris' Büro ein, ohne zu klopfen; sie schien das ganz normal zu finden. Paris' Kopf schnellte hoch von einem Dossier, welches er gerade studiert hatte und bemass die Ärztin mit einem tadelnden Blick, den diese jedoch komplett ignorierte. Sie strahlte den Master an und winkte die beiden Piloten herein.

"Alles pico-bello!", konstatierte sie. "Hundertprozentig durchgecheckt und für echt befunden. So gut wie neu!" Sie zwinkerte ihm zu, was Paris zu einem Stirnrunzeln bewegte; er war sich offensichtlich mehr Respekt gewohnt. Klara wandte sich zum Gehen. "Da ist nur noch ein Test für Laura ausstehend … Ich brauche sie nachher nochmals für den Befund.", fügte sie über die Schulter hinzu. Paris' Stirnrunzeln vertiefte sich. "Nichts Schlimmes.", sagte Klara - ab und zu schien sie doch noch auf Reaktionen ihrer Mitmenschen einzugehen - "Sie ist auf jeden Fall gesund. Kein Anlass zur Sorge." Und damit war sie auch schon verschwunden.

Paris blickte noch einige Sekunden wütend zur Tür und wandte sich dann den zwei Rückkehrern zu, die etwas verloren herumstanden. Er bedeutete ihnen mit einer Handbewegung, sich zu setzen. Sie setzten sich schweigend. Paris hatte die Hände gefaltet und blickte sie schweigend an, seiner Physiognomie war nichts zu entnehmen. Ferry fand es an der Zeit, das Schweigen zu brechen.

"Danke für die Tetanus-Impfung! Eine echte Wohltat, sehr zuvorkommend." Die Bemerkung war vielleicht ein wenig bissig gewesen, doch er fühlte sich immer noch gekränkt, dass sein Freund und Vorgesetzter ihm misstraut hatte. Egal, was gewesen war und wie lange sie unterwegs gewesen waren, er fand, dass Paris ihm hätte vertrauen müssen.

Der Master musterte ihn lange mit einem Blick, der nichts verriet. War er etwa immer noch sauer? Oder unschlüssig, ob sie "echt" waren?

"Immer wieder gerne...", kam es endlich hinter dem Schreibtisch hervor. "Ich mache mir halt Sorgen um meine Piloten… Vor allem, wenn sie über einen Monat wegbleiben, ohne sich zu melden…!" Es war schwer zu sagen, ob der Gesichtsausdruck, den Paris angenommen hatte, ein Lächeln sein sollte. Wenn ja, schien es ihm nicht so richtig zu gelingen… Vermutlich war er aus der Übung gekommen, was irgendwie verständlich war. Wieder fiel Ferry auf, wie silbergrau das Haar seines Vorgesetzten durchwoben war. Man sagte ja, dass seelischer Stress graue Haare verursachen konnte. War es möglich, dass Paris wegen ihnen grau geworden war? Das klang irgendwie ironisch, und nicht eben nach dem Paris, den Ferry kannte. Sein Chef war steinhart und eiskalt. Ferry hatte ihn nie emotional gesehen. Vielleicht war das mangelnde Aufmerksamkeit seinerseits, ging es ihm durch den Kopf, auch Paris war nur ein Mensch… Auch er hatte vermutlich Gefühle, auch wenn er sie normalerweise nicht zeigte. Ein betretenes Schweigen trat ein.

Paris starrte auf die Schreibtischplatte und fuhr sich schliesslich mit den Händen übers Gesicht und durch die kurz geschorenen Haare. Er seufzte tief. Gleich zweimal.

"Ihr seid es also wirklich…", murmelte er. Ein Ruck schien durch seinen Körper zu gehen und er richtete sich auf. Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen und man schien eine Röte auf seinen dunklen Wangen erahnen zu können.

"Wo zum Teufel habt ihr gesteckt!? Was habt ihr euch eigentlich gedacht!? What the fuck happened!?" Jetzt schien es um Paris' Contenance geschehen zu sein. Wenn er in seine Muttersprache wechselte, und dazu auch noch fluchte - was Ferry noch nie erlebt hatte - dann schien er wirklich aufgebracht zu sein!

Paris war wirklich laut geworden, er hatte gebrüllt. Die verschollen geglaubten Heimkehrer zogen unwillkürlich die Köpfe ein. Ferry riskierte einen Seitenblick durch die immer noch offenstehende Türe hinaus in die Kommandozentrale. Auch bei geschlossener Türe hätte man Paris bis in den hintersten Winkel des Raumes hören können… Die Blicke aller Mitarbeiter waren auf das kleine Büro gerichtet; alle schienen den Atem anzuhalten.

Ferry stand langsam auf und schloss die Tür; dann setzte er sich wieder und schaute seinen Vorgesetzten direkt an. Laura schien in ihrem Stuhl versteinert. Sie starrte zu Boden und schien das Schlimmste zu erwarten.

"Hör mal, Paris. Wir haben gerade erst erfahren, wie lange wir scheinbar weg waren… Aber für uns waren es nur zehn Tage! Du wirst nicht glauben, was wir alles erlebt haben…"

Der Vorgesetzte schnaubte.

Dann erzählten sie Paris, was sie in Atlantis erlebt hatten.

Die Prüfung

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