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Kapitel 3
ОглавлениеWerfen wir einen Blick auf jenen Tag, der für Sonja die Bekanntschaft mit Bruno, dem Erlöser, bereithielt.
Widerstrebend begab sie sich zur Ausstellungseröffnung eines wohlhabenden Kunstsammlers.
Schon die Fahrt im Taxi war mühsam.....der Taxifahrer - ein BWL-Student, der ihr auf lästige Weise zu imponieren versuchte. Er trug ein enganliegendes T-Shirt, das die im Fitness-Studio geformten Muskeln betonte.
So wie alle Menschen die Sonja begegneten, nahm auch er sofort ihre auffallende persönliche Geruchsnote wahr; ein olfaktorischer Reiz, der an das Aroma reifer Mangos und ähnlicher Tropenfrüchte denken ließ.
Während der quälend langen Fahrt - es gab einen Verkehrsstau - brachte er das Gespräch, anknüpfend an Sonjas wohlriechende Besonderheit, auf die Unverzichtbarkeit moderner Körperpflegeprodukte. Er zählte ihr auf, welche Körperlotions 'For men' er schon ausprobiert hatte....überdies war er sehr froh, dass die Produzenten endlich auch Anti-Aging Gesichtscremen für Männer auf den Markt gebracht hätten; schließlich wolle er mit fünfzig nicht so aussehen wie Mutter Theresa. Sein größter Stolz war sein Waschbrettbauch. Er berichtete von seinen Sommerurlauben, die er stets in Los Angeles am Venice Beach verbringe.....wenn er dort mit nacktem Oberkörper auf der Strandpromenade jogge, käme es immer wieder vor, dass die superscharfen Girls auf ihren Rollerblades ihn umkreisten und versuchten, sich in seinen Body zu verkrallen....genauso wie hier zuhause, würde er auch dort nur selten alleine ins Bett gehen....er liebe die super gestylten Leute in L.A…überhaupt liebe er alles was „schön" ist....er würde auf Urlaub nie in ein Schwellenland oder gar Entwicklungsland fahren; denn dort könne man den Menschen nicht trauen...und überhaupt, die wären dort alle so grindig; und bei den Frauen dort hole man sich auch alles Mögliche....nach seinem Studium hätte er durch super Beziehungen einen super bezahlten Job am Hajek-Institut. Dort seien d i e Leute daheim, die den Durchblick hätten und das sei eine Institution wo was weitergeht.....seine Zukunft sehe er in London oder in New York, denn Wien sei ja letzten Endes doch nur ein Kuhdorf. Die paar Autos und trotzdem ständig ein Stau! Er selbst stammte übrigens aus Wels.
Er begann wild zu hupen. Schließlich wurde es ihm zu bunt; er überfuhr die doppelte Sperrlinie, überholte in rasendem Tempo und quetschte sich knapp vor dem Gegenverkehr in eine Lücke. Als Sonja darauf hinwies, dass er „ganz schön selbstbewusst " gegen die Gesetzte verstoße, drehte er sich um und sagte: „Yeah, that's the New York-Style!".....und überhaupt, wenn ihm ein Polizist blöd käme, dann würde er ihn zur Sau machen - rein rhetorisch! Gesetze wären nur was für reglementierungsgeile Mitläufer.....er sei für die totale Freiheit; für seine totale Freiheit und für die Freiheit der Märkte!
In der Zwischenzeit hatte sich eine Biene durch die geöffneten Fenster ins Wageninnere verirrt und während der letzten Worte des Taxifahrers auf dessen rechte Wange gesetzt. Da sich die Biene in seinem toten Winkel befand, erkannte er nicht um welche Art von Insekt es sich handelte; er dachte es sei eine Gelse. Und mit dem überdrüssigen Gestus eines GI in Vietnam holte er zum Schlag aus.
Sonja rief: „Nein, nicht!"
Doch er antwortete cool: „Nur net wehleidig sein, Lady!" und schlug zu.
Der Bienenstachel drang tief in seine Wange, direkt unter dem rechten Backenknochen.
Er jaulte auf: „Au Scheiße! Nein! Scheiße! Scheiß Biene! Au! Au!" Und wimmerte erbärmlich.
Zum Glück hatte sich der Vorfall ereignet, als der Wagen im Stau stillstand. Da das Fahrtziel auch schon fast erreicht und Sonja des Taxifahrers nun endgültig leid war, reichte sie ihm genau die 14 €, die der Taxameter anzeigte und sagte aussteigend:
„Nur net wehleidig sein!"
Der BWL-Student glotzte wortlos zurück, dann betrachtete er sein Gesicht im Spiegel und betastete die riesige Beule, die sich rapide im Gesicht bildete.
Sonja wandte sich ihm noch einmal zu und sagte zum Abschied:
„Na, wie die Mutter Theresa schaun'S ja zum Glück wirklich nicht aus; wohl schon eher wie der Elefantenmensch!"
Dann schritt sie von dannen.
Die Ausstellung hatte den Titel 'Kunst–Brücke'.
Die Werke bedeutender Barockmaler fanden sich unmittelbar neben provokanten Installationen zeitgenössischer Künstler; zarte Aquarelle des späten 19.Jahrhunderts neben repräsentativen Objekten der 'Konzeptkunst'; und ein raffiniert labyrinthisches Spiegelkabinett setzte sich mit der „Zurückgeworfenheit des Individuums auf die unvermeidlichen 'Letzten Fragen' " auseinander.
Mit professioneller Distanziertheit erfüllte Sonja ihre gesellschaftlichen Pflichten. So war es ihr auch möglich, die schamlosen Blicke der zahlreichen Kunstfreunde zu ignorieren, die an ihr klebten, als wäre sie eine Erscheinung.
Der sinnesfreudige Literaturblogger Guy de Maulprassant hätte ihr wohl folgende Zeilen gewidmet:
Seidenknistern ziert die weiche Pracht
Die schon so oft durch meinen Traum gewandelt.
Ihr sternenklarer Blick erhellt die Nacht
Und weist den Weg mir zur Erfüllung -
Oh Venus, weißer Schaum, von der mein Loblied handelt.
Tauchst durch tiefe Meere Du
Dort wo kaum mehr Licht sich bricht
Strebst doch stets dem Hellen zu
Haltlos Dich der Welt zu schenken
Auf bunter Blüten weicher Schicht.
Wenn dann der Schlaf Dein Auge schließt
Und Bilder nur das H e r z noch malt
Wenn B a u c h und B r u s t den Liebsten kiest
Ein Buch, aus dem die Ahnung liest,
Dann findest drüben Du den Halt
Sodass der Traumgott ewig prahlt!
Gleich in der Nähe der Catering-Tafel erblickte sie ihren Chef, Herrn Hofrat Weisungsknecht. Vom Scheitel bis zur Sohle ein Diplomat altösterreichischer Schule, war er stets bemüht, mögliche Konflikte durch charmante Konzilianz schon im Keime zu ersticken.
Er befand sich im Gespräch mit einem teuer gekleideten, weißhaarigen Mann seines Alters. Dessen edler Zweireiher kaschierte elegant den gewaltigen Bauch.
Sobald der Hofrat Sonja erblickte, winkte er sie pflichteifrig herbei und stellte die beiden einander vor. Bei dem Herren handelte es sich um ein Vorstandsmitglied jener Bank, die zu einem Drittel die Ausstellung mitfinanzierte. Es ging dabei um einen beachtlichen Betrag; allein die Versicherungskosten für die Artefakte gingen in die Hunderttausende. Ebendies erfuhr Sonja vom Bankier in einer kurzen Vorstellungsreplik. Er bediente sich dabei eines beiläufigen Understatement-Tons, der ihn gleich noch wichtiger erscheinen ließ.
Hofrat Weisungsknecht war um gehaltvollen Smalltalk bemüht. Wie immer, wenn er mit jemand Wichtigem sprach, so sparte er auch heute gegenüber diesem nicht mit Komplimenten und der Bereitschaft, ihm in allem recht zu geben.
Anwesend war übrigens auch seine Frau. Diese, eine höchst distinguierte Dame, konnte nur schwer ihre angesäuerte Verfassung verbergen, die wegen der Beflissenheit ihres Mannes, die sich im Laufe der Jahrzehnte als dessen grundlegende Charaktereigenschaft herausgeschält hatte, bereits in ein chronisches Stadium übergegangen war. Des Weiteren hegte sie Zweifel an der Treue des Gatten.
Diese beiden Gegebenheiten prägten im Wesentlichen die Einstellung und somit auch den Grundton, mit dem sie, eine an sich kluge und in ihrer Eleganz auch durchaus attraktive Frau, ihrem Mann begegnete.
Ihre Angesäuertheit äußerte sich bei gesellschaftlichen Anlässen in einem stummen und unbeteiligten Danebenstehen. Allerdings verfügte sie über die Angewohnheit, ihrem Mann, wenn sie durch dessen Verhaltensweisen besonders enerviert war - völlig unbemerkbar für die Umstehenden - einen schmerzhaften Tritt ins Schienbein, einen boshaften Zwicker in den Oberarm oder einen gemeinen Rempler in die Rippen zu versetzen. Wenn seine Gemahlin anwesend war, konnte man also beim Hofrat nicht selten ein leichtes Humpeln oder eine schmerzverkrümmte Körperhaltung bemerken.
Dass sie heute überhaupt mitgekommen war - sie hasste derartige Veranstaltungen, die ihrem Mann immer die peinlichsten Verhaltensweisen entlockten - ist auf die bereits erwähnten Zweifel an der Treue desselben zurückzuführen, die eigentlich mehr schon der Überzeugung von seiner Untreue entsprachen. Ihre Verdächtigungen bezogen sich dabei in keinster Weise auf Sonja, die sie wegen ihrer 'offenen Art' und dem nicht Vorhandensein einer wie auch immer zutage tretenden 'Anlassigkeit' respektierte und mochte; vielmehr nährte sie ihre Gewissheit aus einer Aversion, die sie gegenüber einer anderen Mitarbeiterin ihres Mannes hegte; dabei handelte es sich um das Fräulein von Mötzendorff, der Ururenkelin eines berühmten Generals.
Der Gastgeber dieser Veranstaltung, jener millionenschwere Kunstsammler, wurde von aller Welt als 'Herr Konsul' angesprochen; ein großzügiger Mann, der sich über die kleinkarierten Trends der Gegenwart hinwegsetzte - deswegen war bei dieser Ausstellung auch das Rauchen erlaubt.
Der Bankier hatte damit nicht gerechnet und keine Zigaretten eingesteckt. Dies nahm der Hofrat zum Anlass, in eifrigem Habitus Hilfestellung zu leisten. Er rief:
„Aber bitte, bedienen Sie sich von mir! Hier, nehmen Sie doch eine herrliche ´Winston´!" und streckte ihm die Schachtel entgegen, woraus sich der Angesprochene generös bediente. Da dieser auch kein Feuerzeug dabei hatte, sagte der Hofrat:
„Hier, nehmen Sie meines, Herr Direktor! Es ist mir eine Ehre, wenn ich es Ihnen überlassen darf!" Schon krachte die kantige Schuhspitze der Hofrätin schmerzhaft in die Knochenhaut seines Schienbeins. Er verzog kaum merklich das Gesicht und wendete sich an Sonja:
„Der Herr Direktor und ich waren gerade in einen kleinen Disput über 'Kunst' vertieft..."
Ohne den Hofrat ausreden zu lassen, begann nun der Banker mit seinen Darlegungen:
„Wissen Sie, ich find' die Kunst heutzutage ja gar nimmer schön. Die richtig gute Malerei hört ja eigentlich mit dem Waldmüller auf. Dieses ganze Krixi Kraxi, oder diese schiachen G'sichter beim Picasso - also ich bitt' Sie! Wo finden Sie bitte heute noch einen Tizian; oder einen Rubens! Obwohl, unter uns gesagt, bei dem gehts ja für meinen Geschmack ein bissl gar zu füllig zu, ha ha - aber wissen Sie, das ist ja heutzutag' überall so in der Kunst! Wo bleibt denn bitte das 'Schöne'? Das ist doch die eigentliche Aufgabe der Kunst! Nicht wahr? Die Erbauung.
Oder nehmen'S nur...in der Musik! Ich bitt' Sie, die neuen Opern...die klingen ja alle, wie wenn die Instrumente net gestimmt wär'n. Haben wir letztes Jahr wieder gehört, meine Frau und ich, bei den Salzburger Festspielen....die werden ja auch immer progressiver.....na, dort fahr'n wir in Wahrheit eh nur aus geschäftlichen Gründen hin.
Wer macht denn heut' noch eine schöne Operette? Zum Beispiel sowas, wie den ´Zarewitsch´? Keiner! Was meine Frau und ich sehr gern haben, das is' Musical. Wir fahr'n ja immer wieder nach London in's West-End....oder nach New York, am Broadway...wunderbar! Da bekomme ich, was ich von der Kunst erwarte; da is´alles so, wie sich´s g´hört. Da zahlt man dann auch gerne höhere Eintrittspreise, weil´s schön ist! Aber bei uns? Wie oft steh' ich vor was und finde es einfach nur schiach!
Ist ja auch bei den Filmen so...unser hochgelobter 'Österreichischer Film'! Dieser Haneke...grauslich...da möcht' ma sich ja am liebsten gleich umbringen! Oder ganz schrecklich...dieser Seidl....entsetzlich!! Diese hässlichen Menschen! Nein! Nein danke! Das schau ich mir gar nicht an!
Dann die zeitgenössische österreichische Literatur! Psychopathische Emanzen und hirnkranke Schmieranten, die nur das Hässliche ans Tageslicht zerren...in der grauslichsten Fäkalsprache...der ganze Schmarr'n von der 'Vergangenheitsbewältigung'! Ich les´ des ja gar nicht, aber man hat mir berichtet.
Wenigstens gibt's da in Wien immer wieder gute Konzerte, mit den Philharmonikern, das is' wirklich gut da in Wien.
Ich stamme ja leider nicht aus Wien. Ich habe den Makel, in Graz geboren und aufgewachsen zu sein. Ich geb's zu. Meine Familie ist dort sozusagen 'alteingesessen'. Mein Bruder hat da eine Arztpraxis und meine Schwester hat die Anwaltskanzlei von meinem Vater übernommen; der war dort ein hochangesehener Universitätsprofessor. Über ein paar Ecken sind wir sogar mit dem Erzherzog Johann verwandt. Darauf ist meine Frau besonders stolz.
Unter anderem deshalb, wollt' ich immer was erreichen im Leben, na ja, noblesse oblige, sie verstehen; aber Graz? Die woll'n halt immer so progressiv sein. Dabei is' ja dort nix los! Kaum Kultur! In der Oper spieln's nur falsch und im Schauspielhaus zieh'n sie sich jetzt auf der Bühne auch schon aus! Da fahr ich lieber nach London; oder nach New York!"
Sonja wollte schon erwidern, dass sie Graz sehr gut kenne und dass es dort doch eine unglaublich lebendige Kulturszene gäbe. Phantastische Musiker könne man dort ebenso treffen, wie großartige Architekten; erstklassige Schriftsteller, wunderbare Sänger und vor allem...hervorragende Schauspieler!
Sie wollte aber keinen weiteren kunstsinnigen Monolog provozieren, da der Graz-stämmige Banker einen unangenehmen Mundgeruch verströmte.
Zum Glück gesellte sich jetzt der Gastgeber hinzu, der Konsul.
Er war der beste Kunde jener Bank, deren Vorstandsmitglied eben so offen seine Meinungen dargelegt hatte.
Sonja war überrascht, wie sympathisch sie den Konsul fand. Im dezenten grauen Dreiteiler wirkte er äußerst smart; mit aufmerksamen Augen und herzlichem Wesen begrüßte er die beiden Damen und Herren. Auch präsentierte er sich unerwartet witzig, ja geradezu provokant.
Hofrat Weisungsknecht war inständig bemüht, ein geistreiches Gespräch in Gang zu bringen. Nachdem er dem ´Konsul´ ein übertriebenes Kompliment im Hinblick auf dessen Krawatte gemacht hatte (der Rippenrempler seiner Frau ließ nicht lange auf sich warten), konfrontierte er den Gastgeber mit der originellen Frage, was denn für ihn 'Kunst' sei.
Ein lebendiges Funkeln glitzerte in dessen Augen auf.
„Wissen Sie", begann er, „wir Menschen laufen ja alle durch die Welt und glauben, dass alles so ist, wie es zu sein scheint. Das Wesen der Kunst liegt im Rütteln an kollektiven Gewissheiten. Das kann durchaus unangenehm sein; und ist oft auch nicht 'schön' im herkömmlichen Sinn.“
Hofrat Weisungsknecht und der Bankier nickten eifrig und nuschelten zustimmend.
Der 'Konsul' fuhr fort: „Aber was mich ganz persönlich so fasziniert, ist Folgendes...."
Er verfiel während des Redens in immer größere Emphase und damit einhergehend in ein immer schnelleres Sprechtempo: „Durch jedes Individuum oder jedes Ding, mit dem man in Interaktion tritt, verändert sich das persönliche Empfinden. Wenn ich zum Beispiel mit Ihnen hier rede, befinde ich mich in einem ganz speziellen 'Seins-Kosmos'; und wenn ich mit jemand anderem rede, dann schaut mein 'Seins-Kosmos' wieder ganz anders aus – und ich b i n dann auch anders. Unsere Gedanken und unser Verhalten verändern sich mit der Umgebung. Das führt zum Grundgedanken dieser Ausstellung - 'Kunst-Brücke'. Sie werden hier lauter Kontraste finden. Nehmen sie nur da vorne das Bild 'Madonna mit Kind' von Giovanni Bellanoni, einem Renaissancemaler. Ich stehe davor und trete ein in eine Welt von weiser Mutterliebe...einer klugen Wärme, die mich sofort in eine humanistische Verbundenheit mit allem versetzt...“
Sonja hörte fasziniert zu. Gleichzeitig drängte sich ihr allmählich aber auch der Gedanke auf, dass dieses ungebremste Empfinden des Gastgebers vielleicht auf die Wirkung illegaler Substanzen zurückzuführen sei. Doch sie verwarf diese Vermutung.
Wir aber wissen, dass sie damit voll ins Schwarze getroffen hatte.
Vorgestern erst hatte der Konsul Besuch von seinem Neffen Klaus bekommen. Dieser kannte die gewissen Begehrlichkeiten seines Onkels sehr gut. Klaus brachte auch einen Freund mit - Bertl. Und dieser Bertl beehrte den Onkel mit einer ganz besonders erfreulichen Überraschung: in einem kleinen Plastiksäckchen befand sich die nennenswerte Quantität eines grasig harzigen Blütenzaubers. Die Sorte hieß so ähnlich wie 'KissiSticky' oder 'Sissilicki'. Und sie tat dem Onkel sehr gut. So hatte er sich noch vor Ausstellungsbeginn in einem separaten Raum auf eine Begegnung der lustigen Art eingelassen.
Wie? Und in dem Zustand wollte er vor der ganzen ´Haute Voleé´ repräsentieren?!
Natürlich! Denn gerade das fand er ja so lustig!
Er wollte die Leute verwirren. Sie mit Gedanken konfrontieren, die aller Voraussicht nach ihr Begriffsvermögen arg überfordern würden. Aber alle müssten es großartig finden; denn im Ranking der öffentlichen Meinung stand er ja auf der 'In-Liste' ganz oben. In Wirklichkeit natürlich wegen seines immensen Reichtums. Das war ihm bewusst.
Er war in gewisser Weise ein schelmisch-boshafter Aufklärer. Irgendwie hatte er dabei die Hoffnung nicht aufgegeben, dass so Leute wie der bückelnde Hofrat und der kundige Banker doch noch irgendwann zu einem höheren Empfinden gelangen könnten.
Er genoss das Gespräch. Und er leugnete auch nicht vor sich selber, dass ihn die Anwesenheit dieser interessanten Schönheit aus dem ´Ministerium zur Überwindung kultureller Gegensätze´ stark inspirierte.
Er fuhr fort (sich immer noch auf das Renaissancebild 'Madonna mit Kind' beziehend):
„Ich fühle also ganz stark die Verbundenheit mit humanistischen Wertvorstellungen...ich werde zum griechischen Philosophen....ich werde zum Müßiggänger, der am Strand sitzend sich der Frage hingibt, was denn die Welt im Innersten zusammenhält....ich bin gleichzeitig Schüler und Gelehrter, der in entspannter Gelassenheit seinen Mitmenschen Fragen stellt - und dem seinerseits gefinkelte Fragen gestellt werden, die er aber nie als Bedrohung, sondern als willkommene Antithese begrüßt!
Und, aufgesogen in diesen Kosmos, erblicke ich dann das Bild das daneben hängt: eine stark abstrahierte, kaum zu identifizierende Darstellung des 'Kindermordes in Bethlehem' von Geoffrey Dark, einem bizarren Grübler der späten 1990er Jahre. Und sofort befinde ich mich auf dem Weg durch eine jahrhundertelange Menschheitsgeschichte: aus der willkommenen Geborgenheit Arkadiens gerissen, erlebe ich die Konsequenzen einer fragwürdigen Technisierung, die Folgen eines dogmatischen Nationalismus, die Auswirkung einer Liberalisierung der Werte, die Tödlichkeit des Konkurrenzprinzips - mit anderen Worten: die Vertreibung aus dem Paradies. Der Sündenfall wird durch meinen persönlichen Brückenbau zwischen den beiden Bildern von der abstrakten Vorstellung - zum wahrhaftig empfundenen Erlebnis."
Der Grazer Vorstands-Banker sah nun die Notwendigkeit gekommen, auch etwas Kluges zu sagen:
„Ja, ich verstehe genau was Sie meinen. Wenn zum Beispiel von einer Finanztransaktions-Steuer die Rede ist, erlebe ich auch ganz konkret die 'Vertreibung aus dem Paradies'."
Er sagte das völlig ernsthaft und ohne Ironie.
Als daraufhin der Gastgeber laut prustend auflachte und zwar im selben Moment wie Sonja auch, konnte der Hofrat die Situation nicht recht einordnen. Er war nicht in der Lage gewesen, den Gedankengängen des Konsuls zu folgen, da Sonjas Gerüche ihn verwirrten. Verlegen hatte er daraufhin seine Blicke ziellos durch den Raum schweifen lassen, was seine Frau als Suche nach dem Frl. von Mötzendorff missinterpretierte und daraufhin ihren teuflischen Oberarmzwicker zum Einsatz brachte. Seinen Schmerzensschrei tarnte der Hofrat nun als zustimmendes Lachen. Um der Situation eine mögliche Schärfe zu nehmen, bot er dem verdutzten Banker eine 'herrliche Winston' an, was dieser jedoch schroff ablehnte. Erst als der Konsul ihm jovial die Hand auf die Schultern legte und sagte:
„Gehn'S, machen Sie mir doch die Freude und rauchen wir eine zusammen!" fand er wieder zu seiner Souveränität. Als dann der Konsul sein Feuerzeug nicht fand, reichte ihm der Banker jenes, das ihm vorhin der Hofrat überlassen hatte.
Der Konsul sagte: „Na, da erkennt man halt den Mann von Welt; für jede Situation gerüstet!"
Und der Banker antwortete: „So bin ich halt!" und steckte das Feuerzeug selbstgefällig in seine Hosentasche zurück. Der Hofrat grinste und seine Gattin versäuerte noch mehr.
Jetzt trat die Gemahlin des Bankers hinzu. Sie war eine aufgeschwemmte Person mit strengen Gesichtszügen und klaren Meinungen. Insgeheim verachtete sie ihren Mann, da sie fand, dass er sich aus reiner Konfliktscheu mit viel zu geringen Bonuszahlungen abspeisen ließ.
Einst hatte sie den Plan eines Lehramtsstudiums aufgegeben, um ihn mit karrierefördernden Maßnahmen zu unterstützen; oder besser gesagt, um genügend Zeit zu haben, ihn unter Druck zu setzen.
Schon in den ersten Jahren ihrer Ehe hatte es nur dann Sex gegeben, nachdem ein genauer Plan an karrieredienlichen Vorgehensweisen für den nächsten Tag durchbesprochen war. Er musste dann genau wiederholen, wen er am nächsten Tag anzurufen, wen er wann aufzusuchen hätte, was dann mit den jeweiligen Personen zu besprechen sei und mit welchen konstruktiven Vorschlägen er sich durchzusetzen hätte. Erst nach bestandenem Examen durfte er sie dann von hinten nehmen. Dies duldete sie mit leisem Lustanflug, da sie sich gut in die Vorstellung hineinsteigern konnte, das schnell überlaufende Glied ihres Mannes sei das goldene Landes-Szepter Erzherzog Johann's.
Bei all ihren Erwägungen ging es ihr nicht nur um Geld; primär gelüstete es sie nach Status. Bereits auf den Sandspielplätzen ihrer Kinderjahre schenkte sie denjenigen Buben die meiste Aufmerksamkeit, die die größte Sandburg bauten. Diese stachelte sie dann an, die bescheideneren Bauwerke der anderen Buben zu zerstören. Schon damals konnte sie feststellen, wie widerspruchslos ihr gehorcht wurde.
Sie war in ihrem tiefsten Inneren davon überzeugt, etwas 'Besseres' zu sein. Zwar stammte sie aus bescheidenen Verhältnissen - ihr Vater war ein rangniedriger Unteroffizier in einer kleinen Kaserne außerhalb von Graz gewesen - doch durch das Einheiraten in eine der angesehensten Familien der Stadt, die noch dazu aristokratisches Blut in den Adern fließen hatte, hob sie sich nun deutlich vom Mittelmaß ab.
Schon bei der Eheanbahnung hatte sie Geschick und Weitblick bewiesen: bei ihrem 'Maturaball' hatte der hochangesehene Rechtsexperte und Universitätsprofessor, der Vater ihres nunmehrigen Gatten, die Ehrenpatronanz inne. Dessen Vergangenheit war bemerkenswert: als praktizierender Katholik war er dennoch Mitglied der NSDAP gewesen; und zwar „um die Agenden der Kirche in der Partei wahrzunehmen", wie er später beteuerte. Dieser angegraute Mann war durch die vereinnehmende Art der reschen Maturantin sehr beeindruckt, als sie bei der 'Damenwahl' i h n zum Tanz aufforderte. Zielgerichtet setzte sie die Reibekräfte ihrer Oberschenkel ein und der Jurist nahm wenige Stunden später, gut versteckt in einer Kellertoilette des Grazer Kongresshauses, seine ganz persönlichen Agenden in ihrem Schoße wahr.
Zwei Monate später begann ihm die kalte Geilheit des Mädchens unheimlich zu werden und er wollte die Affaire beenden. Da offenbarte sie ihm, dass sie schwanger sei und alles publik machen werde.
Als er daraufhin verstörte Sätze stammelte, wie etwa: „Das kannst Du doch nicht tun!" oder „Willst Du mich ruinieren!?!" schlug sie ihm vor, sie doch mit seinem jüngeren Sohn, dem angehenden Banker, zu verheiraten. Da gäbe es dann auch keine Irritationen wegen etwaiger Ähnlichkeiten des Kindes mit ihm.
Nach einer kurzen Überlegungsfrist schien ihm diese Lösung eigentlich sehr vernünftig. Geschickt wurde eine Begegnung zwischen ihr und dem Sohn herbeigeführt und fünf Monate später 'mussten' sie heiraten.
Als das Kind dann zur Welt kam, stellte sich heraus, dass es schwerst behindert war.
Es verbrachte seine wenigen Lebensjahre unbesucht auf einer Intensivstation, ehe es leise und unbeachtet starb. Ihr Mann hatte von der tatsächlichen Vaterschaft nie etwas erfahren; die Ehe blieb in weiterer Folge kinderlos.
Aber - ihr Herz hatte auch eine ganz weiche Seite: bei Puccini's 'Turandot' konnte sie weinen, bei Verdi's 'Traviata' war sie erregt; und bei Bizet's 'Carmen' war sie irgendwann überzeugt, sie selbst hätte die Oper komponiert.
Eine beliebte Masturbations-Phantasie von ihr bestand in der Vorstellung, dass ein junger, schöner, dunkelgelockter Tenor mit ihr auf einem Schimmel nach Schloss 'Neuschwanstein' reite, und sie dort in der 'Venusgrotte' Ludwig's II. befriedige.
Sie hasste Sopranistinnen.
Und sie spürte sofort Sonjas sopranistische Strahlkraft.
Und eben das erkannte augenblicklich der schalkhaft illuminierte Konsul.
Um ihrem Neidanflug den Wind aus den Segeln zu nehmen, nahm er mit der Grandezza eines Maria-Theresianischen Zeremonienmeisters ihre Hand und küsste sie mit überfeuchten Lippen. Diese leicht übergriffige Ehrenbezeugung des steinreichen und auch attraktiven Society-Stars, schmeichelte ihrer Eitelkeit und für einen kurzen Moment hielt sie sich für die Schönste im ganzen Land. Doch kurz nach Aufblitzen dieses Gedankens verfinsterte sich ihr Gemüt - und gestützt auf die eisige Schicht des Zwerchfells kamen ihr nur kalte Töne über die Lippen.
„Ich wollte mich noch persönlich bei Ihnen für die Einladung bedanken", begann sie mit klirrender Bestimmtheit.
„Aber bitte, keine Ursache", erwiderte der Gastgeber. „Wie gefällt's Ihnen denn?"
Sie antwortete: „Also ich bin wirklich sehr beeindruckt. Gleich ins Auge gestochen ist mir das Bild 'Die Königin der Tiere bei der Arbeit'."
Dieses Bild, 'Die Königin der Tiere bei der Arbeit', zeigte einen Gnu-Bullen, der mit dem Rücken auf dem Savannenboden liegt, während auf ihm rittlings ein ausgewachsenes Löwenweibchen sitzt und ihn beschläft. Die Augen beider Tiere strahlen einvernehmliches Glück aus.
Der Maler des Bildes war ein Südafrikaner namens Mbuti Ruandesi. Dieser hatte in Wien studiert, war inspiriert von den alten flämischen Meistern (was sich in seiner soliden Technik zeigte) und bezeichnete sich als Vertreter des 'Naiven Symbolismus'. Sein Bild 'Die Königin der Tiere bei der Arbeit' sollte seine Freude über die Überwindung der Apartheid ausdrücken und die Möglichkeiten reflektieren, die sich nun dieser neuen Gesellschaft böten.
„Dieses Bild zeigt" so fuhr die Bankiersfrau fort, „dieses Bild zeigt deutlich, dass in jedem Liebesakt ein Tötungswille steckt. Das stärkere Wesen unterwirft die Schwachen. Dieses Bild mag zwar nach heutigen Kriterien nicht ganz politisch korrekt sein, zeigt aber die Welt wie sie halt nun einmal ist."
„Das ist ja hochinteressant, was Sie sagen", meinte der Gastgeber. „Und das Bild daneben, was ist Ihr Eindruck warum das dort hängt?"
Dieses Bild daneben war eine übermalte Fotographie. Es zeigte ein etwa sieben Jahre altes afro-amerikanisches Mädchen, das mit einer leeren blechernen Suppenschüssel und hungrigen Augen vor den geschlossenen Toren einer stillgelegten Autofabrik in Detroit steht. Die obere Bildhälfte war von einer stark vergrößerten Dollarnote eingenommen und, wie von einer Lupe noch einmal vergrößert, konnte man deutlich den Schriftzug 'In God we trust' lesen. Dieses Bild hatte den ironischen Titel 'Thanksgiving' und stammte von der US-Amerikanischen Künstlerin Wynona Sandler, die für ihre Bearbeitung von Pressefotos berühmt war.
„Ja also dieses Bild das hat ja mit dem anderen gar nichts zu tun", gab die Bankersfrau zurück. „Aber dieses Bild ist sehr originell; es sagt, dass man rechtzeitig zu sparen anfangen muss, dann wird der Liebe Gott Dir helfen.“
„Gnädige Frau" sagte der Gastgeber, „ich staune über Ihren Blick auf die Welt. Ich sollte Sie öfters um Ihre Meinung fragen."
Sonja, die - von der Bankersfrau bis jetzt völlig ignoriert - still daneben gestanden hatte (das traf übrigens auch auf das Hofratspaar zu), bemerkte, dass sich das Grinsen des Konsuls immer mehr verbreiterte und die Gefahr bestand, dass seine Ironie allzu deutlich erkennbar werden könnte. Deshalb schaltete sie sich in höflichem Konversationston ein:
„Waren Sie schon in diesem Spiegellabyrinth?"
„War diese Frage an mich gerichtet?" entgegnete die Gefragte, die, zwischen dem Gastgeber und Sonja stehend, dieser den Rücken zugewendet hatte. Mit ihren Worten drehte sie den Kopf leicht, ohne Sonja wirklich ins Blickfeld aufzunehmen.
„Ja", sagte Sonja, „waren Sie schon drin?"
Den Blick immer noch zu vier Fünfteln abgewendet, antwortete die Bankiersgattin frostig: „Ist Ihnen eigentlich aufgefallen, liebes Kind, dass ich mich mitten in einem Gespräch befinde? Haben Ihnen Ihre Eltern nicht beigebracht, dass man sich nicht aufdrängen soll?"
„Verzeihen Sie bitte vielmals!" gab Sonja zurück. „Ich wollte mich Ihnen wirklich nicht aufdrängen; aber Sie zeigen so viel Einfühlungsvermögen in Ihren Interpretationen, dass mich Ihre diesbezügliche Meinung zutiefst interessiert."
Jetzt wendete sich die Angesprochene ihr voll zu und fixierte sie: „Was heißt denn hier bitte ‚Interpretation'? In der Kunst ist es so wie überall im Leben, in der Mathematik, in der Physik oder in der Wirtschaft - es gibt nur e i n e Wahrheit; man muss einfach richtig hinschauen, dann liegt alles sonnenklar vor einem da. Wenn Sie also in diesem Zusammenhang von meiner 'Interpretation' reden, so ist das fast schon eine Beleidigung. Und ich lasse mich nicht beleidigen; schon gar nicht von Ihnen."
Sonja blieb entspannt: „Verzeihen Sie bitte nochmals, nichts liegt mir ferner als Sie beleidigen zu wollen. Ich denke mir nur, dass man die Dinge doch von verschiedenen Blickwinkeln aus betrachten kann und dass sich der Eindruck dadurch stark verändert."
„Papperlapapp" kam es zurück, „dieses Zugeständnis an verschiedene Blickpunkte führt nur zu Verwaschenheiten. Zu Wackelpudding-Ansichten. Ich gebe keine Meinungen von mir, sondern Wahrheiten die auf vorurteilsloser Beobachtung beruhen. Das ist auch die Aufgabe von uns Eliten. Sonst könnt' ja jeder daherkommen."
Sonja fand allmählich Gefallen an der Konversation: „Und wenn ich Sie fragen darf, was ist denn die 'Wahrheit' von dem Spiegellabyrinth?"
Hier wäre jetzt nachzutragen, was der selbstbewussten Bankiersfrau im Laufe der Ausstellung bereits widerfahren war.
Warum reagierte sie gar so gehässig auf Sonja?
Einem außenstehenden Beobachter wäre sofort aufgefallen, dass sich in der übergriffigen Offensive, die in dieser Intensität sogar für diese Dame nicht alltäglich war, eine tiefe Verzweiflung offenbarte.
Nun, als sie mit ihrem Mann eingetroffen war, empfand sie es als wohltuend, dass dieser gleich vom kriecherischen Hofrat Weisungsknecht in Beschlag genommen wurde. So ergab sich für sie der Freiraum, alleine und ihrem hastigen Tempo entsprechend, alles anzusehen.
Im Grunde fand sie die meisten Ausstellungsstücke banal und die seltsamen Zweier-Anordnungen nicht nachvollziehbar. Was etwa hatte eine barocke Darstellung des 'Letzten Abendmahls' mit der Comic-haften Karikatur zweier HIV-infizierter Blutkonserven zu tun?
Sie war sehr schlecht gelaunt und unbefriedigt.
Die Mädchen des Catering-Service machten keinen 'Knicks', wenn sie ihr Champagner anboten und die jungen Männer ignorierten ihr Dekoltée; ihr Gatte hatte sein Mundwasser nicht genommen und die neuen Stöckelschuhe drückten an den kleinen Zehen.
Dazu gesellte sich ein weiteres plagendes Ärgernis: bei der Entfernung des Preisschilds von ihrem neuen Strumpfgürtel, hatte sie in der Eile darauf vergessen, auch das pieksende Plastikteilchen zu entfernen, das die Verbindung zwischen Strumpfgürtel und Preisschild gewesen war. Andauernd stach nun dieses lästige (und wie ihr schien auch immer spitzer und scharfkantiger werdende) Plastik in das weiche Fleisch ihrer rechten Hüfte. Sie kam in Versuchung sich zu kratzen und an der betreffenden Stelle herumzunesteln, um Abhilfe zu schaffen; doch vor so vielen Augen wollte sie sich keine peinliche Blöße geben. Sie ging Richtung Toilette, doch da stand eine ewig lange Schlange verhasster Frauenzimmer....
Plötzlich glaubte, sie ein Wunder zu erblicken: vor einem Ausstellungsstück sah sie den Mann ihrer Träume - im wahrsten Sinne des Wortes. Es war genau das Gesicht des schönen, dunkelgelockten Tenors mit dem Schimmel. Er war in die Betrachtung einer Installation versunken, die aus einem Kanonenrohr bestand, das auf Feigen, Zwetschgen und Pfirsiche feuerte, die, wie Planeten in ihrer Umlaufbahn, über dem Kanonenrohr schwebten. Darüber flatterte eine mechanische Taube, die das Lied 'Love is in the air' sang.
Sie glaubte, ihren Augen nicht trauen zu können und hyperventilierte, sodass ihr schwindlig wurde. Heißes Entzücken nahm von ihr Besitz und drang mit schmelzender Konsequenz in ihren eisigen Kern. Sie spürte, dass sie der Ohnmacht nahe war. Wie eine rettende Klosterpforte bot sich ihren Augen der Eingang zum Spiegellabyrinth. Sie stolperte in den glasigen Gang und folgte ihm zweimal um die Ecke, ehe sie schließlich an einer verspiegelten Kreuzung anhielt.
Allmählich kam sie wieder zu sich. Sollte das vorhin eine Halluzination gewesen sein? Konnte sie ihren Sinnen nicht mehr trauen? Aber nein! Es war einfach unmöglich, dass s i e sich irrte! Grundsätzlich!!
Sie begann zu zittern, denn ein wunschhafter Traum, dessen Erfüllung selbst sie niemals für möglich gehalten hatte, könnte hier Wirklichkeit werden. Sie sah sich plötzlich als verführerische Zigeunerin eine 'Habanera' tanzen, dann würde plötzlich e r , der dunkelgelockte Tenor zu ihr treten......gehüllt in fernöstliche Phantasiegewänder, er würde 'Nessun dorma' anstimmen und sie in einen schleierwallenden Harem tragen und bei „Vincero! Vincero!!" würden sie einen gemeinsamen kosmischen Höhepunkt erleben....
Plötzlich spürte sie wieder das lästige Stechen des Plastikteilchens im Strumpfgürtel.
Noch völlig derangiert von ihrer Glücksphantasie, begann sie sich hektisch an der bewussten Stelle zu kratzen. Schließlich zog sie das Kleid über die Hüften hoch und versuchte das spitze Plastikteilchen herauszureißen; bei diesem Versuch brach der Fingernagel ihres rechten Daumens, sowie des Zeige-und Mittelfingers. In unbeherrschtem Jähzorn schrie sie auf.
Just in diesem Moment passierte Folgendes: es gab ja die Ankündigung, dass der Besucher des Spiegellabyrinths mit den 'Letzten Fragen' konfrontiert werde.
Das bedeutete konkret: oberhalb des Spiegels, vor dem die Bankiersfrau gerade stand und den Gemeinheiten des Schicksals ausgesetzt war, befand sich ein Sensor. Dieser Sensor nahm nicht nur wahr, ob gerade jemand vor ihm stand, er konnte auch erkennen, ob es sich dabei um einen Mann oder eine Frau handelte. Kam ein Mann davor zu stehen, stellte eine Stimme, die wie die Computerstimme aus einem Science-Fiction-Film klang, die für einen Mann elementarste aller Fragen: „Hast Du heute schon gefickt?"
Kam jedoch eine Frau in den Sensorbereich, stellte dieselbe Stimme die Frage:
„Bist Du die Schönste im ganzen Land?"
Und gerade in diesem Moment, als die Bankiersfrau wutentbrannt aufschrie und ihr hässliches, zornentstelltes Gesicht im Spiegel erblickte, ertönte die Frage: „Bist Du die Schönste im ganzen Land?"
Was ihr Trauma aber endgültig manifestierte, war die Tatsache, dass zehn Sekunden vor der Fragestellung - der herbeigeträumte, dunkelgelockte Mann um eine verspiegelte Ecke gebogen war, natürlich nicht in fernöstliche Phantasiegewänder gehüllt; schräg hinter ihr stehend wurde er Zeuge dieser Vorgänge. Als sie nun, das Kleid unappetitlich hochgezogen, mit selbstzerstörerischem Hass ihre bloßliegende Hüftgegend malträtierte, als ihre Fingernägel brachen und als sie diesen abstoßenden Wutschrei von sich gab, als sie entsetzt von ihrem eigenen Anblick auf den Spiegel einschlagen wollte und ihr zuletzt diese fürchterliche Frage gestellt wurde - erblickte sie auf einmal ihren Traumhelden im Spiegel, hinter ihr stehend, mit spöttischem Kopfschütteln die Frage verneinend. Den Rücken ihm zugewendet, sein abschätziges Antlitz im Spiegel wahrnehmend, erstarrte sie mit offenem Mund.
Abrupt beendete er das Kopfschütteln, ihre Blicke fixierten einander im Spiegel und nach fünf endlosen Sekunden sagte er: „Pardon."
Dann drehte er sich um und ging weg. Die Bankiersfrau verblieb noch eine Weile in ihrer Starre. Ihre emotionale Wucht implodierte, sie fiel förmlich in sich zusammen.
Als sie sich nach einer weiteren Weile wieder zu sammeln begann, ordneten sich auch die Gedanken.
In ihr Bewusstsein bohrte sich die Frage:
„Hat irgendjemand das alles beobachtet?"
In diesem verwirrenden Spiegellabyrinth konnte man ja nie sicher sein, wer da wie um die Ecke blickte. Sie bildete sich auch ein, von allen Seiten flüchtende, tappende Schritte zu hören.
Sie entschied sich für eine Richtung und folgte den Geräuschen.
Nach zwei Ecken befand sie sich schließlich in einer verspiegelten Sackgasse. Außer ihrer eigenen erbärmlichen Erscheinung war nichts zu sehen. Sie wendete und nach vier weiteren Ecken wiederholte sich die Horrorszene.
So ging es noch dreimal weiter. Jeder andere wäre in Panik verfallen, doch in ihr keimten nur Zorn und Hass.
Ihre Gesichtszüge verhärteten sich immer mehr. Sie befand sich gerade wieder im Bereich eines Sensors, der sie nun als 'Mann' identifizierte und ihr erbarmungslos die Frage stellte: „Hast Du heute schon gefickt?"
Eigenartigerweise gewann sie gerade dadurch ihre Fassung wieder. Sie konzentrierte sich genau und fand den Weg zurück in den Ausstellungsraum.
Obwohl sie befreit aufatmete, fiel eine grundsätzliche Beklommenheit nicht von ihr ab. Wie sollte sie sich verhalten, wenn sie dem dunkelgelockten Halbgott begegnete? Und: würde dieser das alles irgendjemandem weitererzählen? Und noch ein Gedanke wurde immer vordringlicher: sie traute es dem Gastgeber durchaus zu, dass im Labyrinth kleine Kameras montiert und alle Ereignisse auf irgendwelchen Bildschirmen zu sehen waren. Oder dass irgendwann kompromittierende Videobänder auftauchen könnten. Oder beschämende Postings auf ´Youtube`....
Als sie mit diesen düsteren Gedanken im Kopf durch die große Schar der Ausstellungsgäste schritt, glaubte sie mit Bestimmtheit, dass alle von ihrer blamablen Niederlage wussten.
Im Wissen um diese Umstände, erscheint ihr unangemessenes Verhalten auf Sonjas Frage: „Waren Sie schon im Spiegellabyrinth?" durchaus nachvollziehbar. Ebenso nachvollziehbar für uns ist nun auch die Tatsache, dass ihr Hass auf Sonja von Minute zu Minute wuchs, da sie erfasste, dass der dunkelgelockte Traumprinz, angesichts von Sonjas Schönheit, bei der Spiegelfrage mit Sicherheit beifällig genickt hätte.
Als Sonja dann noch insistierend nach der „Wahrheit im Spiegellabyrinth" fragte, empfand sie dies als Frontalangriff auf Ihre Persönlichkeit und mobilisierte ihr elitäres Vernichtungswaffenarsenal.
„Wissen Sie was mit Leuten passiert, die sich für Dinge interessieren die sie nichts angehen? Die ihr hübsches Naserl in penetranter Neugier zu fest an die Schaufensterscheiben drücken? Entweder sie drücken sich die Nase platt und schauen dann aus wie eine dummäugige Palatschink'n, oder das Glas bricht und sie schaun aus wie nach einem Frontalaufprall ohne Sicherheitsgurt'n. Das G'sicht erinnert dann an eine Golatsch'n mit Himbeermarmelade!"
„Ui ui ui. Das wär' mir aber gar nicht recht", gab Sonja höflich zurück. „Und was haben S i e gesehen, wie sie im Labyrinth in den S p i e g e l geschaut haben? Einen Germteig mit Damenbart?"
Mitten ins Herz getroffen fauchte die Bankiersfrau auf - eine Kobra in der Brunftzeit. Sonjas Gesicht erschien ihr wie die provokante Skyline von Hiroshima, unmittelbar vor dem Atombombenabwurf.
„Aber meine Damen", schaltete sich jetzt mit übertrieben gespielter Besorgnis der Konsul ein. „Ich appelliere an ihre Contenance!" und begann unverhohlen zu kichern. Auch der Banker meldete sich zu Wort; einerseits zitterten ihm die Knie, angesichts der Vorstellung was ihm heute Abend zuhause noch bevorstand; andererseits war er wegen Sonjas 'Übergriff' ehrlich entrüstet. Das Verhalten seiner Frau hinterfragte er nicht; ihre maßlose Streitsucht hatte er mit der Zeit als naturbedingte Gegebenheit zu akzeptieren gelernt....so wie Tropenbewohner einen Taifun nun einmal akzeptieren müssen oder wie die alten Ägypter mit den jährlichen Nilüberschwemmungen umgehen mussten; oder wie notleidende Völker von Gottes Gnaden dazu bestimmt sind, die zerstörerischen Aktivitäten internationaler Konzerne auf ihrem Gebiet nun einmal hinzunehmen.
Er meinte also: „Ich muss schon sagen, Fräulein....."
Darauf Sonja: „Ja? Was Denn?"
Der Banker: „Also ihr unverschämter Übergriff, also....."
Sonja: „Welcher Übergriff?"
Der Banker: „Na, ich bitt' Sie......."
Sonja: „Die gnädige Frau hat mir einen hochinteressanten Einblick in Ihr elitäres Weltbild gestattet. Geschmückt mit höchst originellen Metaphern; da wollte ich nicht nachstehen." Der Banker (die Farbe wechselnd, mit schneidender Stimme): „ Quod licet Jovi, non licet bovi!"
Darauf Sonja: "Mmmuuuuh!" In diesem Augenblick tauchte in Sonjas Rücken - und somit im Blickfeld der Bankersfrau - der dunkelgelockte Schimmelreiter auf; zeitgleich damit machte sich das lästig pieksende Plastikteilchen im Strumpfgürtel wieder bemerkbar und quälte sie mit seinen gemeinen Sticheleien. Zielgerichtet ritzte es den gefährlich überreizten Zentralnerv, der knapp unter der Oberflächenhaut ihres Hüftfleischs verlief.
Man sagt, einen Hornissenstich kann der Mensch problemlos verkraften; ab zwei Stichen wird es kritisch; und die beklagenswerte Dame befand sich nun eindeutig im roten Bereich. Sie empfand sich plötzlich als gefangen in einem dunklen Schacht...nur von weit oben fiel Licht herein....in den glitschig spiegelnden Schachtwänden sah sie das begehrenswerte Antlitz des erigierten Tenors, der sie mit höhnischer Verachtung zurückwies und sich liebkosend der zermürbenden Schönheit Sonjas hingab....sie sah das stupide Gesicht ihres Mannes, der entsetzlich aus dem Mund stank und den Urin nicht halten konnte....im teigigen Fleisch ihrer Hüften saßen sieben boshafte Zwerge, die mit Stecknadeln ihre Nervenbahnen bearbeiteten....unter dem anfeuernden Applaus des Konsuls. Sie sah den weisungsknechtigen Hofrat, der mit seinem monogrammbestickten Stofftaschentuch die rötlich-gelbe Urinpfütze ihres Mannes beflissen aufwischte.....und schließlich sah sie ihr eigenes aufgeschwemmtes Gesicht, verunstaltet durch einen schwarzen Schnurrbart. Etwas zerplatzte in ihrem Kopf. Die Bilder der Außenwelt erschienen ihr vor einem unnatürlich roten Hintergrund....ihr wurde plötzlich übel....sie konnte es aber niemandem mitteilen....die Zunge versagte den Dienst und aus ihrem weit offenen Mund drang nur unverständliches Stammeln.
Abermals stieg eine Welle des Jähzorns in ihr auf, dessen schuldhafte Dimension die sechs anderen Todsünden als 'lässlich' erscheinen lässt; voller Hass auf sich und die Welt stampfte sie mit dem letzten Aufbäumen ihrer herrschsüchtigen Kraft auf den Boden, dabei ein jämmerliches Lallen ausstoßend. Ebenso wie wir, so hätten auch die umstehenden Zeugen dieses Vorfalles es für gar nicht so überraschend gehalten, wenn sich mit diesem Aufstampfen die Erde spaltbreit geöffnet hätte, um sie zu verschlingen und höllenwärts verschwinden zu lassen. Allerdings, diese Gnade eines doch sehr imposanten und hochdramatischen und in gewisser Weise auch ehrfurchtgebietenden Abganges blieb ihr versagt.
Irgendeine höhere Instanz unter der beratenden Mitwirkung Erzherzog Johann's, der sich schon seit allzu langer Zeit von ihr missbraucht fühlte, erachtete sie schlichtweg für zu unbedeutend.
Und so verbrachte sie die nächsten eineinhalb Jahre ihres Lebens im Fegefeuer einer Intensivstation, ehe sie, den irreparablen Folgen ihres Schlaganfalles ausgesetzt, unter nach innen gerichteten Hilfeschreien jämmerlich starb.
Ihre letzte überlieferte Tat bestand darin, dass sie, die Grenze des Todes überschritten habend, im Dunst der Unterwelt auf ihren Schwiegervater traf, der ihr mit düsterem Vorwurf das behinderte Kind entgegenhielt; an den beiden vorüberschreitend versetzte sie dem Schwiegervater eine schallende Ohrfeige, ehe sie für immer im Nebel verschwand.
Der Banker ging, nachdem seine Frau ins Spital eingeliefert worden war, in sich und beschloss, das Angebot einer Frühpension, das ihm die Bank unterbreitet und das anzunehmen seine Frau ihm striktest untersagt hatte, nun doch ernsthaft zu prüfen. Er akzeptierte schließlich einen 'Very Golden Handshake' und verlebte, finanziell abgesichert, den Rest seines Daseins in dunkelgrauer Zurückgezogenheit.
Hofrat Weisungsknecht hielt es für unnötig, Sonja wegen ihres nicht etikettekonformen Verhaltens an diesem Abend zu tadeln, da das Bankerspaar in gesellschaftlicher Hinsicht nun keinerlei Bedeutung mehr hatte.
Auch war an diesem Datum ein Keim in ihn geschlüpft, der ihm Augen und Nase bezüglich Sonjas außergewöhnlichen Besonderheiten öffnete. Zunächst noch unbewusst, wurden ihm die Momente des Zusammenseins mit Sonja immer mehr zu den beglückendsten Augenblicken seiner Gegenwart; und Gedankenspiele, die eine berührungsintensive Nähe zu ihr beinhalteten, formten allmählich eine utopische Alternative zu seinem schmerzlichen Privatleben, das ihm ständig nur blaue Flecken und Quetschwunden an Gliedmaßen und Seele bescherte (an jenem Abend hatte er sein Humpeln kaum mehr verbergen können).
Nachdem die gefallene Bankiersfrau von der Rettung abtransportiert worden war, standen die Gäste zunächst einmal unangenehm berührt und orientierungslos herum.
Der Konsul fand zu feierlicher Ernsthaftigkeit und hielt eine seltsam seriöse Rede, in deren Verlauf immer wieder verspielte und gewagte Sichtweisen auftauchten. So verglich er etwa die Rettungsmannschaft in ihren roten Monturen mit 'Feuerwehrleuten aus dem Reich zwischen Diesseits und Jenseits', mit 'Kobolden', deren 'undefinierten Spielregeln wir zu entsprechen hätten', ansonsten 'der Fluss ohne Wiederkehr uns ganzheitlich umspüle'.
Sonja hörte zu und spürte ein unangenehmes Nagen im Oberbauch, das mit der Zeit immer vordringlicher wurde. Es hatte dies aber gar nichts mit der Ansprache zu tun. Allmählich kristallisierte sich ein Erinnerungsbild aus diesem Nagen: mit etwa zwölf Jahren war sie bei ihrem Großvater väterlicherseits zu Besuch gewesen (ihr Vater war damals schon tot). Der Großvater, ein leidenschaftlicher Jäger, besaß im Burgenland eine eigene 'Jagd'. Von ihm in den Wald mitgenommen, verirrte sie sich im Unterholz und fand plötzlich ein ebenso verirrtes junges Wildschwein – einen Frischling. Nach anfänglicher Scheu wuchs das Vertrauen des kleinen Tieres und es ließ sich von Sonja streicheln. Da begann es im Unterholz zu rumoren, trockene Äste und Zweige brachen lautstark unter schwerem Gewicht....und aus dem Strauch-verwachsenen Urwald stieß eine wutschnaubende, schaummaulige Bache, die Mutter des Frischlings, hervor. Mit aggressiv quiekendem Grunzen wollte sie sich auf Sonja stürzen, als ein wohlgezielter Schuss ins Herz das Muttertier jäh zusammenbrechen ließ. Mit ihrer letzten Luft rief sie das Junge herbei, das mit naiver Verdutztheit das Gehabe der Mutter nicht deuten konnte und nach forderndem Schubsen mit dem kleinen Rüssel in den Bauch des Muttertieres, gierig an den Zitzen der eben Verendeten sog. Sonjas Großvater, der den rettenden Schuss abgefeuert hatte, trat zur wild schluchzenden Sonja und setzte ihr auseinander, dass sie selbst nun tot wäre, hätte er nicht im letzten Moment die Bache erledigt. Sonja wurde klar, dass sie durch ihr unvorsichtiges Verhalten letzten Endes an der Tragödie des Frischlings schuld war und verspürte ein diffuses Nagen in sich, das sie bis zum heutigen Tage in ihren Träumen verfolgte. Aus dem Frischling bereiteten dann Sonjas Cousins übrigens ein hervorragendes, wenn auch sehr mageres Spanferkel zu.
Und jetzt war es wieder da, dieses Nagen der Schuldgefühle. Schließlich, so ihr Wähnen, hätte ja s i e durch ihre Anwesenheit und Konfliktbereitschaft das innerliche Aufplatzen der Bankiersfrau verursacht. Sie konnte ja nicht wissen, welche Rolle dieser dunkelgelockte, sanft blickende Mann dabei gespielt hatte; eine Rolle die er ihr gegenüber verschwieg, als er nun zu ihr trat und sie mit dem wärmsten Timbre das sie jemals vernommen hatte, ansprach. Seine Worte gaben ihr das Gefühl des Verstandenseins und einer lange ersehnten Geborgenheit.
„Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen", begann er. „Diese Frau ist das Opfer ihrer eigenen Verstiegenheit. Und wenn S i e nicht gewesen wären, hätte sie aus irgendeinem anderen Grund irgendwann der Schlag getroffen."
Sonja blickte in die dunkelbraunen Augen. Wie konnte er von ihren Selbstvorwürfen wissen? Wie schulderlösend waren doch seine Worte!
Sie entgegnete: „Ich bin so fürchterlich erschrocken; und plötzlich bin ich mir vorgekommen wie eine böse Fee, die nur Unglück über die Leute bringt. Und das hat mich auf einmal ganz stark belastet."
Er antwortete: „Sie brauchen sich und Ihr Gewissen nicht belasten. Diese Frau ist an sich selbst zerschellt. An ihrer eigenen inneren Hässlichkeit, die sie nicht mehr ertragen konnte. Und wenn Sie eine Fee sind, dann gewiss keine böse."
Er schien ihr wie ein Zuflucht-bietender Kastanienbaum, unter dessen starken Ästen sie sich ungefährdeter Ruhe hingeben konnte.
Sie sagte nur. „Danke, Ihre Worte tun mir so wohl." Und atmete seinen Geruch nach moschushaltiger Zartbitterschokolade ein.
Dann schwiegen sie eine Weile, jeweils in den Anblick des anderen versunken.
„Darf ich Ihnen vielleicht etwas zu trinken bringen?" fragte er voll angenehmer Fürsorge, die auch nicht vom kleinsten Tropfen klebrigen Anmachschleims verunreinigt war.
„Gerne, ich begleite Sie!" gab sie zurück.
Mit dem Glas in der Hand kamen sie schließlich vor einem klassizistischen Gemälde zu stehen: 'Narziss erblickt sein Antlitz im Teich'. Mit vor Entzücken weit geöffneten Augen, versucht Narziss gerade, seines eigenen Abbildes habhaft zu werden, bevor er, angetrieben von Selbstverliebtheit, ins Wasser fallen wird, um darin zu ertrinken.
„Ich heiße übrigens Bruno", setzte der sensible Mann das Gespräch fort.
„Bruno! Ich bin Sonja", erwiderte sie und reichte ihm die Hand.
Sie spürte die trockene Wärme seiner Haut. Mit höherer Temperatur floss nun das Blut aus den Adern ihrer Finger und der Handfläche zurück zum Herzen.
„Sind Sie Künstler?" fragte sie nach einer kurzen Pause.
Er lächelte und sagte: „Leider nein! Gerne wäre ich es. Ich bin hier im Auftrag einer Wochenzeitschrift. Ich verfasse einen Artikel über diese Ausstellung."
„Oh!" fiel Sonja ein. „Dann sind Sie also Experte für 'Bildende Kunst'?"
„Das wäre sehr schmeichelhaft", gab er zurück. „Na ja, ein bisschen kenne ich mich schon aus in der 'Bildenden Kunst'....aber mein Auftrag besteht eher darin, der Dramaturgie oder noch richtiger, der Dramatik nachzuspüren, die verschiedenen Ausstellungskonzepten innewohnt. Eigentlich komme ich aus der Literaturwissenschaft. Und ich bin auf der Suche nach Parallelen zwischen verbal und bildnerisch gestalteten Verwicklungen."
Sonja war beeindruckt. Weniger wegen des Inhalts seiner Worte; wie oft traf sie doch auf Leute, die sich mit wohlformulierten Aussagen wichtigmachen und ihre Zuhörerschaft eigentlich nur als Auditorium für ihre Selbstbeweihräucherung benutzen. Hier aber begegnete sie einer unaufdringlichen Sachlichkeit ohne Hintergedanken.
Bruno sprach weiter: „Da, sehen Sie nur: auf der einen Seite das klassische und unkommentierte Sujet des 'Narziss' - und daneben das Werbefoto eines magersüchtigen Models im Bikini. Im Erkennen der Schönheit und im Streben nach ihr, liegt der Keim der Selbstzerstörung."
Er setzte ihr auseinander, dass die Begegnung mit dem 'Wahrhaft Schönen' dermaßen überwältigend sei, dass der Betrachter sich danach im Gedanken verlieren würde, fortan nichts besseres mehr erleben zu können; dass er nun am Ziel angelangt sei und sein Lebenswille sich auflöst. Schließlich zitierte er ein Gedicht, dessen erste Zeilen Sonja nie mehr vergessen sollte:
Wer die Schönheit angeschaut mit Augen,
Ist dem Tode schon anheim gegeben,
Wird für keinen Dienst auf Erden taugen,
Und doch wird er vor dem Tode beben,
Wer die Schönheit angeschaut mit Augen!
Sonja hatte aufmerksam zugehört. Unwillkürlich versuchte sie einen Bezug zwischen sich und dem Gesagten herzustellen; was ihr aber nicht gelang. War doch bis jetzt für sie die Begegnung mit dem 'Schönen', die Brücke zu einem Glücksgefühl - hin zu einer Lebensbejahung gewesen.....
Und während sie diesen Reflexionen nachhing, formulierte sich in ihrem Unterbewusstsein der Wunsch, dass dieser Abend ewig dauern möge.
Mit nahezu brutaler Klarheit wurde ihr dies offenbar, als Bruno kurz darauf sagte, er könne heute nicht so lange bleiben, da er bis morgen Mittag den Artikel abliefern müsse.
Sonja versuchte, ihn aufzuhalten.
Sie fragte: „Haben Sie das schon einmal erlebt? Die Begegnung mit dem 'Wahrhaft Schönen'? Sodass Sie Ihren Lebenswillen verloren haben?"
Er gab keine Antwort. Sein Blick verlor sich in ihren Augen. Zum Glück (oder war es nicht eher zu ihrem Unglück?) konnte Sonja den Gedanken Brunos nicht hören, der die unausgesprochene Antwort auf ihre Frage bildete, nämlich:
'Ich hab's noch nie erlebt. Aber die Frauen die mir begegnen, die erleben es.'
Er entnahm seinem Sakko Zettel und Kugelschreiber, notierte seine Telefonnummer und sagte: „Sie können mich gerne anrufen."
Dann nickte er kurz zum Abschied und verschwand im Hintergrund.
Sonja blieb allein zurück, umgeben von teuren Kunstwerken und dem Smalltalk der Ausstellungsgäste.
Sie war durchdrungen von Glück; hatte sie sich vor einer halben Stunde noch ganz leer gefühlt, da ihr Leben richtungslos und sie außerstande gewesen war, ihre zentralen Wünsche zu formulieren, so war sie nun ausgefüllt, erfüllt von einem Wunsch, einem gewaltigen, der Ihrem Denken eine klare Richtung gab: sie wollte Bruno unbedingt und so schnell wie möglich wiedersehen.
In seinem Erscheinen lag die Erlösung aus all ihrem Verdruss. Der Gedanke an ihn (und sie hatte keinen anderen mehr) erfüllte sie mit rosiger Leichtigkeit und einem unbekannten Kitzel, der ihr das Gefühl des Schwebens vermittelte.
In Trance stand sie noch eine Weile herum.
Dann verließ sie mit nach innen gekehrtem Lächeln die Ausstellung. Die laue Mainacht erfasste sie mit wuchtigem Auftrieb, sodass sie den Weg nachhause zu Fuß zurücklegte....es kostete keine Mühe, in ihren Stöckelschuhen diese Dreiviertelstunde zu gehen....die wohlproportionierten Schaufensterpuppen in den Auslagen trugen allesamt Brunos Gesichtszüge....die männlichen Models auf den Werbeplakaten begegneten ihr mit Brunos verlockenden Blicken....die Ausdünstungen der fruchtbaren Erde in den Parks und das frische Laub der Bäume und Sträucher, setzte sie mit Brunos betörender Aura gleich....und als sie daheim unter der Dusche stand, fühlte sich das an ihrem Körper hinabrieselnde Wasser an, wie die heiß ersehnten Liebkosungen Brunos.
Kaum dass sie sich abgetrocknet hatte und nackt zu Bett gegangen war, überzog eine dünne Schicht von angenehm glitschigem und wohlriechendem Schweiß ihre Haut - die Gleitfläche eines widerstandslosen Liebesspiels. Eine nie gekannte Unruhe bildete die unendlich tiefe Grundlage ihres seichten Schlafes.
Der nächste Morgen fand Sonja in einer Verfassung äußerster Aufgekratztheit vor.
Es fiel ihr schwer, sich auf die Arbeit zu konzentrieren.
Bis Mittag, hatte Bruno gesagt, müsse er seinen Artikel abgeben. Sie nahm sich also vor, ihn gegen 15Uhr anzurufen.
Als die endlosen Stunden schließlich verstrichen waren, schloss sie sorgfältig die Tür ihres Büros und griff zum Telefon. Beim Mittagessen hatte sie gerade einen kleinen Teller Suppe zu sich nehmen können. Mehr nicht. Wahrscheinlich lag es also an einer gewissen Unterzuckerung, dass sie während des Wählens seiner Nummer leicht zitterte.
Nachdem es mehrere Male geläutet hatte, meldete sich die Mobilbox - und Sonja war vollkommen von der Gelegenheit überfordert, dieser innigst verehrten Sehnsuchtsgestalt, Bruno, der schon ins Unrealistische zu verschwimmen begann, etwas mitzuteilen. So vieles hätte sie zu sagen gehabt, aber jetzt, als sie die Möglichkeit zu reden gehabt hätte, geriet sie in größte Verlegenheit.
Sie stotterte ins Telefon: „Ja? Hallo? Äh Äh...Bruno? Ja, also hier spricht Sonja....ja also ich wollte nur...äh...also ich...äh..ja, ich wollte mich nur bedanken, dass Sie gestern...also dass Sie mir so gut zugeredet haben. Ja. Vielleicht..ja..ähm..ja! Wollen sie mich vielleicht zurückrufen? Meine Nummer haben Sie ja auf dem Display! Ja... ähm...hat mit dem Artikel alles geklappt? Ähm...gut...vielleicht probiere ich es später noch einmal. Ja, also dann, alles Gute! Und danke noch einmal. Ja?....Sonja hat angerufen...Also dann, bis bald!"
Nach Beendigung des Telefonats zitterte Sonja noch mehr. Sie ging in Gedanken das Gesagte immer wieder durch und fand sich selbst ganz schrecklich. Diese Stotterei! Und was für einen aufdringlichen Blödsinn sie dahergelabert hatte! So dumm! Sie konnte sich nicht beruhigen.
An Arbeit war nicht mehr zu denken. Sie verabschiedete sich von Hofrat Weisungsknecht und ihren MitarbeiterInnen mit dem Hinweis auf starke Kopfschmerzen.
Auf der Straße war ihr klar, dass sie jetzt unmöglich nachhause gehen könne. Dort würde ihr nur die Decke auf den Kopf fallen. Aber was tun!? Zum zehnten Mal innerhalb von zwei Minuten schaute sie auf 's Handy, ob sie eh keinen Anruf überhört hatte; gleichzeitig kontrollierte sie zum ebensovielten Male, ob das Handy auch nicht auf 'stumm' geschaltet war. Eine Minute später riss sie das Telefon erneut hervor: hatte das Handy genug Empfang?
Sonja betrat ein kleines Café, das auf dem Weg lag und bestellte Wodka-Martini. Sie trank hastig und fühlte sich nach kurzer Zeit etwas entspannter.....schließlich könne sie doch nicht erwarten, dass Bruno sofort alles liegen und stehen lasse wegen ihres Anrufs!
Sie beruhigte sich bei dem Gedanken, dass ja eigentlich alles in Ordnung war und sie ihn sicher bald wiedersehen werde.
Auf einmal schoss ihr die Frage ein: „Was soll ich denn anziehen, wenn ich ihn treffe?"
Plötzlich hatte sie es eilig, zu bezahlen. Nachdem sie wieder das Handy kontrolliert hatte, bestellte sie ein Taxi und ließ sich zu einem exquisiten Dessous-Geschäft fahren.
Das Angebot war umwerfend, vor allem, was die Preise betraf. Aber das war ihr egal! Sie wollte sich einzigartig fühlen, um Bruno's würdig zu sein. Schließlich entschied sie sich für einen 'Body' aus transparentem, schwarzem Stretch-Material, der ihren Yoga-Po besonders schön zur Geltung kommen ließ. Zur Sicherheit nahm sie das gleiche Stück auch in 'Creme' und bezahlte einen Phantasiepreis. Danach beeilte sie sich nachhause.
Die folgenden zwei Stunden wurden der Körperpflege gewidmet, der sie sich mit geradezu akademischer Akribie zuwandte.
Endlich waren die Haare geföhnt und der Nagellack getrocknet.
Sollte sie noch einen Anruf wagen? Ja, warum nicht! Vielleicht hatte er ja sein Handy verlegt und suchte die ganze Zeit schon verzweifelt danach! Angetan mit dem neuen schwarzen Body, ging sie im Zimmer auf und ab, stellte die Verbindung zur mittlerweile schon gespeicherten Nummer her - und stieß wieder nur auf die unverbindliche Mobilbox.
Mit dem Erklingen des Piepstones unterbrach sie panisch die Verbindung. Was sollte sie denn sagen? Wieder so unbeholfen daherstottern? Und sie kam sich sowieso schon so aufdringlich vor.
Die Flasche Prosecco, die Sonja nach ihrer Heimkehr geöffnet hatte, war schon zu zwei Dritteln leer. Sie ließ sich auf einen Fauteuil fallen, nahm die Fernbedienung des TV-Gerätes zur Hand und rief:
„Scotty, bitte beamen!“
Danach drückte sie auf einen Knopf, machte „Bsssss!" und stellte sich vor, dass mitten auf dem weiß-flauschigen Teppich ein Lichtkegel entstehe, darin Bruno sich aus unzähligen zusammenströmenden Pixeln materialisiere, um schließlich zu sagen: „Hallo Sonja! Da bin ich! Schön, dass Du mich gerufen hast."
Sonja spürte wieder den wohlriechenden Schweißfilm auf ihrer Haut und verfiel in unkontrolliertes Kichern.
Der unbeteiligten Zuschauerin, die mit gesteigerter Skepsis Sonjas Verhalten beobachtet, fällt es nicht schwer zu konstatieren, dass Sonja durch ihren Alkoholkonsum schon längst die Stufe eines 'Damenspitz' überwunden und mittlerweile einen profunden 'Schwips' hatte.
In ihrem Lachanfall verschüttete sie den halben Inhalt des Glases auf ihre Beine und spürte genussvoll dem Hinabperln des Prosecco nach.
Da klingelte das Telefon. Und ja! Es war Bruno!
Sonja musste sich konzentrieren; einen Augenblick misstraute sie ihren Sinnen und hielt das Läuten für eine Halluzination. Mit weit geöffneten Augen starrte sie auf's Handy und zögerte abzuheben. Sie fühlte sich ertappt und es kostete sie geradezu Überwindung, sich dem Gespräch zu stellen, obwohl sie seit dem gestrigen Abend nichts sehnlicher herbeigewünscht hatte. Wie ferngesteuert drückte sie auf das grüne Feld.
„Hallo Bruno! Wie schön, dass Sie zurückrufen!" sagte Sonja mit aufgesetzer Fröhlichkeit.
„Es tut mir sehr leid, dass ich mich erst jetzt melde. Ich hatte den ganzen Nachmittag Gespräche zu führen."
„Aber das macht doch nichts!" log Sonja.
„Wirklich nicht?" In seiner Frage lag etwas Prüfendes. Sonja schluckte.
Bruno fuhr fort: „Was machen Sie gerade?"
Diese einfache Frage brachte die ansonsten so eloquente und selbstsichere Sonja in Verlegenheit. Sie konnte doch nicht sagen, dass sie nahezu nackt, mit Prosecco überschüttet im Fauteuil sitze und ihn in Ihrer Sehnsucht herbeizubeamen versucht hatte!
Also antwortete sie: „Ich habe meine Wohnung gerade ein wenig aufgeräumt und eben eine kurze Pause eingelegt." Sie kicherte aus Verlegenheit.
„Haben Sie getrunken?" Und wieder glaubte sie in seiner Frage diesen prüfend überwachenden Unterton zu hören.
„Ach, ein kleines Gläschen Prosecco." Erneut kicherte sie.
„Wirklich nicht mehr?"
„Nnein...!“
„Wissen Sie", fuhr er fort „ich wollte Sie eigentlich fragen, ob wir uns noch kurz treffen können. Aber wenn Sie schon so betrunken sind, macht das wenig Sinn."
„Aber ich bin ja gar nicht betrunken!" beteuerte Sonja hektisch.
„Lügen Sie mich bitte nicht an", entgegnete Bruno. „Das ist nicht fair. Ich hatte heute wirklich einen anstrengenden Tag. Und eine betrunkene Frau wäre mir jetzt einfach zu viel."
„Aber wirklich, ich bin nicht betrunken! Höchstens ein ganz kleiner Minischwips!" entgegnete sie mit dem Versuch, ihre charmantesten Töne zu aktivieren.
„Sonja, bitte! Begeben Sie sich nicht unter ihr Niveau. Vielleicht klappt es ja ein anderes Mal mit uns."
„Aber Bruno, ich habe mich doch schon so auf sie gefreut! Den ganzen Tag!" entfuhr es Sonja.
Eine kurze Stille folgte, dann sagte Bruno.
„Ja? Ich habe das Gefühl, das ist der erste ehrliche Satz, den ich heute von Ihnen zu hören bekomme. Wenn Sie mich wiedersehen wollen, müssen Sie aufrichtig sein."
„Gut!" rief Sonja voller Angst. „Ich verspreche, dass ich Sie nicht enttäuschen werde. Aber vielleicht könnten wir das alles irgendwo miteinander besprechen?"
Dieser Satz klang so beklommen, als würde sie mit den Entführern ihres Kindes über den Vorgang der Lösegeldübergabe verhandeln.
„Nein Sonja, es tut mir leid. Ich bin wirklich sehr überanstrengt. Vielleicht geht es sich ja aus, dass ich mich morgen bei Ihnen melde. Rufen Sie bitte n i c h t an; i c h melde mich. Gute Nacht, Sonja."
Noch ehe Sonja ihrerseits „Gute Nacht!" sagen konnte, hatte er schon aufgelegt.
Sonja war perplex. Hatte sie das alles nur geträumt? Das durfte doch nicht wahr sein! Das Handy in der Rechten, mit offenem Mund.....stand sie zitternd da. Ihr verständnisloser Blick verlor sich im Nirgendwo.
Irgendwann gab sie diese Position auf und kontrollierte die 'Eingegangenen Anrufe' am Display. Ja, hier stand 'Bruno'! Sein Anruf hatte t a t s ä c h l i c h stattgefunden. Kopfschüttelnd füllte Sonja den letzten Rest Prosecco in's Glas.
Ihre kreisenden Gedanken, die sich ständig und mit zermürbender Ausschließlichkeit nur mehr um ihr angemessenes Verhalten gegenüber Bruno drehten - machten sie schwindlig, wie die stundenlange Fahrt auf einem viel zu schnellen Ringelspiel.
Ihr wurde spei-übel und die Toilette zum Zufluchtsort.
Da sie sich, wie wir wissen, an diesem Tag ausschließlich flüssig ernährt hatte, gab es nicht viel, wovon sie sich hätte befreien können. Doch der Brechreiz ließ nicht nach. Unbarmherzig, wie eine strafende Pumpe, ließ er sie immer wieder aufstoßen.
Der Schweißfilm auf der Haut war nun nicht mehr wohlriechend und von angenehmer Glitschigkeit, sondern eiskalt und klebrig. Schüttelfrost bemächtigte sich ihrer und sie schrie: „Bitte, verzeih mir! Bitte! Ich halt's nicht mehr aus! Bitte, verzeih mir! Hilf mir! Bruno!!"
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