Читать книгу Shake your Life - Ralph Goldschmidt - Страница 14

Als ich wieder hochkomme,

Оглавление

sitzt er immer noch da wie eine Statue. Ich gehe durch den Raum, sammle die Schälchen von den Tischen ein, kümmere mich um die paar Gäste, nehme zwei Bestellungen auf, komme zurück, stelle ein Espresso-Glas unter die Fiorenzato, schäume Milch für einen Cappuccino und frage Victor Wodka dreist: »Was ist dir wichtiger: deine Aufrichtigkeit oder keinen Ärger mit deiner Frau zu riskieren?«

Ich bringe die beiden Kaffees raus. Komme zurück, säubere die Chipsschälchen und frage: »Was ist dir wichtiger: dein Einkommen oder deinen Kindern gerade in die Augen sehen zu können?«

Ich kippe die Chips in die Schälchen und stelle die Schälchen aufs Tablett. Und frage: »Was ist dir wichtiger: tun, was du wirklich tun willst, oder deine Frau behalten?«

Ich trage das Tablett in den Raum und verteile die Schälchen, räume ein wenig auf und scherze mit einem Gast. Ich komme zurück und frage ihn: »Was ist dir wichtiger: dein …«

»Hör schon auf! Ich hab’s ja kapiert!«, knurrt er und blitzt mich an. Holla, da kommt ja die Energie wieder zurück. Die Akkus scheinen noch nicht ganz leer zu sein.

Er zahlt und geht. Ich freue mich darauf, wenn er wiederkommt.

Wenn.

Ich habe selbst mehrmals erlebt, wie das ist, wenn dein Wertesystem durch-sortiert wird. Ein Zuckerschlecken ist das nicht. Aber daran führt kein Weg vorbei, wenn man im Nebel stochert, so wie Victor. Wenn man nicht weiß, was man wirklich will, was einem wirklich, wirklich wichtig ist.

Ich war vor Jahren einmal in einem Seminar, als Teilnehmer, in Österreich. Lauter Business-Typen, auch der Trainer war so ein Managertyp, er ist übrigens heute noch im Geschäft und einer der Topleute der Branche. Das Seminar lief gut, ich fühlte mich wie ein Fisch im Wasser. Es kam, wie es kommen musste, die Grabrede-Übung war dran. Ich hatte die Übung bis dahin noch nie selbst gemacht, kannte sie nur aus dem einen oder anderen Buch. Ich wusste also, wie es geht und was da passiert, hatte mich aber immer schön davor gedrückt, mich selbst ins Visier zu nehmen.

Die Übung geht, kurz gefasst, so: Sie stellen sich vor, eines traurigen, trüben Tages frisch verstorben zu sein. Sie liegen im Sarg, der neben der frisch ausgehobenen Grube auf dem Friedhof darauf wartet, versenkt zu werden. Die Trauergemeinde ist da, Familie, Freunde, Kollegen, Umfeld. Sie suchen sich vier Personen raus, je eine aus diesen vier Kreisen. Ihre Aufgabe: Sie verfassen vier Grabreden über sich selbst, eine für jeden dieser vier Menschen. Was sollten – aus Ihrer Sicht – diese Menschen einmal berechtigterweise über Sie sagen können?

Ich fing also an, wählte aus dem Kreis der Familie meinen Sohn aus, meinen Zweitältesten, der damals gerade ein halbes Jahr alt war. Ich stellte mir vor, er sei zum Zeitpunkt meines Todes schon erwachsen, er stünde am Grab und erzähle von mir. Was sein Vater für ein toller, erfolgreicher Mann gewesen war, was er alles gut gekonnt hatte. Wie gut er dies oder jenes draufhatte. Es floss mir nur so aus der Feder. Welche positiven Charaktereigenschaften er so an den Tag gelegt hatte, wie beliebt er gewesen war und so weiter … und dann wörtlich: »Nur schade, dass ich keine Chance hatte, meinen Vater wirklich kennenzulernen, denn er hatte ja nie Zeit.«

Ich sage Ihnen, ich habe Rotz und Wasser geheult, musste die Übung sofort abbrechen. Meine Güte, das brach nur so aus mir raus. Und wenn dich so etwas dermaßen ankickt, dann hat das was zu sagen.

Zu dieser Zeit war ich nämlich mitten in der Firmengründung, hatte tausend Sachen um die Ohren, habe gerödelt ohne Ende, um das Unternehmen ans Laufen zu bekommen, machte mein Ding. Und habe dabei voller Schwung mein Wertesystem auf den Kopf gestellt, denn meine Kinder kamen in diesem Spiel nicht vor. Wäre ich damals tatsächlich gestorben, hätte auf meinem Grabstein stehen können: Er gab alles für die Arbeit – und nichts für den Rest.

Nach diesem Seminar habe ich zwar mein Leben nicht radikal umgestellt, aber mir war klar, ich brauchte mehr Zeit für meine Jungs, ich musste die Balance anders gestalten. Und das habe ich bis heute durchgehalten. Auch als ich dann pleite war, die Beziehung zu meiner Frau kaputt, die Firma kaputt und auch die Beziehung zu meiner Bank einen irreparablen Schaden erlitten hatte, bin ich klar geblieben. Ich bin mit geliehenem Geld fünfmal im Jahr nach Brasilien geflogen, wo meine Ex und meine Kinder zu der Zeit lebten. Ich habe mich schwer überwinden müssen, Freunde um Geld anzupumpen, das kann ich Ihnen verraten. Dieser Stolz, niemandem auf der Tasche zu liegen, stand auf meiner Werteskala zwar weit oben, aber nicht so weit oben wie meine Kinder. Zur Not hätte ich Gesetze gebrochen, wäre nach Brasilien als blinder Passagier auf einem Frachter mitgefahren, nur um meine Jungs zu sehen.

Aus den Werten folgen die Gedanken und aus den Gedanken die Handlungen. Wenn Victor mit seiner Frau nicht Tacheles redet über das, was ihn umtreibt, wenn er sich scheut, bei seinen Kindern zu sein, wenn er im Job gute Miene zum bösen Spiel macht, dann nicht deshalb, weil er ein gefühlloses Arschloch ist, sondern weil er nicht weiß, wie sein Wertesystem funktioniert. Oder anders gesagt: Er weiß nicht, was ihm wirklich wichtig ist. Oder nochmal anders gesagt: Ihm ist nicht bewusst, wer er eigentlich ist. Er hat kein Bewusstsein für sein Selbst. Er hat kein Selbstbewusstsein.

Wenn Sie meinen, dass er gar nicht so wirkt, als hätte er kein Selbstbewusstsein, dann müssen Sie noch mal genauer hinschauen: Victor vermittelt zwar glaubhaft den Eindruck, als habe er großes Selbstvertrauen – er kommt so tough rüber, ist deshalb so erfolgreich im Job und deshalb finden ihn die Frauen auch so attraktiv. Er hat großes Vertrauen in seine beruflichen Fähigkeiten, was auch der Grund ist, warum ihm seine Frau vertraut: Sie ist sich sicher, dass er auch künftig beruflich erfolgreich sein wird und jede Menge Schotter nach Hause bringen wird. Bei so viel Selbstvertrauen! Aber er hat eben kein Selbstbewusstsein, er weiß zwar, dass er verdammt gut ist, aber er weiß nicht, wofür in seinem Leben er seine Fähigkeiten eigentlich einsetzen soll. Er hat kein Bewusstsein für seine wahren Prioritäten.

Konfrontiert er seine Frau mit seinem Wunsch nach Jobwechsel und zieht er das wirklich durch, dann zieht sie vielleicht nicht mit um, und dann muss er womöglich eine Wochenendehe riskieren. Ist es ihm das wert? Wenn er einen »sauberen« Job anfängt, wird er mit hoher Wahrscheinlichkeit erst mal ein niedrigeres Gehalt akzeptieren müssen. Nicht dass er in Armut versinken müsste, aber Kitzbühel und Robinson-Club, Reiten und Porsche würde eben nicht mehr alles auf einmal gehen, er und seine Familie müssten Abstriche machen. Zum ersten Mal in seinem Leben ginge es nicht mehr straight bergauf. Wäre es ihm das wert? Und was würden die Nachbarn und der Bekanntenkreis sagen? Vielleicht gäbe es ein paar Leute in seinem Umfeld, die sich diebisch freuen würden, wenn seine Karriere einen Knick bekäme. Würde ihm das wirklich nichts ausmachen?

Vielleicht würde es ja auch ganz anders laufen und seine Ehe bekäme durch seine neue Aufrichtigkeit einen ganz neuen Kick. Vielleicht würde das die eingerostete Liebe wieder aufmöbeln, weil seine Frau stolz auf ihn wäre – zumindest nachdem sie die Ernteeinbußen auf dem Statusfeld verkraftet hätte. Wer weiß? Und vielleicht würde er einen ganz neuen Draht zu seinen Kindern bekommen, wenn er seine ausufernden Arbeitszeiten besser eindämmen könnte. Vielleicht. Könnte sein. Würde, hätte, sollte.

Der Punkt ist, er wird es nicht im Voraus erfahren, wie sein Leben laufen wird. Er kann bei seinen Entscheidungen nicht auf deren Folgen spekulieren. Er muss sie mit großer Sicherheit treffen, ganz egal, was am Ende dabei herauskommt. Und solange er nicht weiß, was ihm wie viel wert ist im Leben, kann er das nicht.

Shake your Life

Подняться наверх