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Einen Monat lang

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sehe ich ihn nicht. Dann sitzt er eines Abends plötzlich wieder da. Derselbe Barhocker, ganz links am Tresen. Aber er sieht ganz schön fertig aus. Ich sehe ihn zum ersten Mal ohne Business-Anzug. Er trägt ein blaues Hemd und eine ultracoole Cavalli-Jacke. Dunkle Schatten unter den Augen.

Ich mixe ihm einen Double Vision, verschütte beim Eingießen vor lauter Schwung mal wieder einen kleinen Schwall, wische Glas und Arbeitsfläche ab, stelle den Drink vor ihm auf den Tresen, schaue ihm in die Augen. »Na, siehst du langsam klar? Ich sehe, dir geht’s besser!«

»Machst du Witze? Ich fühle mich wie ausgekotzt!«

»Trink, Bruder, trink.«

Heute ist gut was los in der Jangada Bar. Wenn er länger bleibt, können wir später vielleicht noch quatschen. Ich bin natürlich neugierig, was sich bei ihm getan hat. Während ich rühre, schüttle, stelle, lege, schneide, drücke und verschütte, mustere ich ihn verstohlen: Ja, es sieht gut aus. Er ist weichgeklopft. Ich klicke meine Lieblingsmusik auf dem Rechner an. Später frage ich ihn, ob ich ihm was erzählen darf.

Er wirft den Strohhalm, an dem er rumgezupft hat, auf den Tresen neben sein Cocktailglas. »Wieder eine von deinen therapeutischen Geschichten, was?«

»Ja, genau. Du sollst nicht umsonst gekommen sein.« Ich lache, er nur halb. »Schau her, tagsüber mache ich ja bisweilen ganz andere Sachen als das hier«, ich umfasse meine Bar mit einer weiten Geste. »Da mache ich so Sachen, dass ich Leuten gegen viel Geld auf den Sack gehe. Ist eine wundervolle Aufgabe. Beispielsweise gebe ich ihnen sechs kleine Zettel und einen großen. Ich bitte sie, all ihre Werte auf den großen Zettel zu schreiben. Zur Inspiration werfe ich ein paar Tonnen Werte an die Wand: Reichtum, Macht, Liebe, Einfluss, Anerkennung, Familie, Kinder, Abenteuer, Freiheit und so weiter. Dann bitte ich die Leute, auf ihrem vollgeschriebenen Blatt sechs Kreuzchen zu verteilen und so die sechs Werte rauszupicken, die ihnen am wichtigsten sind. Diese sechs zentralen Werte müssen sie dann auf die sechs Zettelchen schreiben. Und dann noch mal überprüfen: Sind das wirklich Endwerte, also Werte, die eine echte Basis bilden, oder sind es ›Mittel-zum-Zweck-Werte‹, die dazu da sind, höher eingestufte Endwerte zu erreichen.

Reichtum, Macht, Liebe, Einfluss, Anerkennung, Familie, Kinder, Abenteuer, Freiheit.


Beispiel: Ist Reichtum für diesen Menschen wirklich ein Wert an sich? Oder ist Reichtum dazu da, Macht oder Einfluss oder Anerkennung zu bekommen? Oder gar, sich Liebe zu erkaufen?

Anderes Beispiel: Familie. Für manche ein Wert an sich, für andere eine Möglichkeit, Nähe und Geborgenheit zu erfahren. Klar?«

Victor nickt nervös. Er will mehr hören.

»Gut, schon das ist für manche ein hartes Stück Brot. Aber dann geht es weiter. Wir machen eine Gedankenreise. Ich lade die Leute zu einer Kreuzfahrt ein. Sie sollen sich vorstellen, wo sie hinfahren wollen und wen sie mitnehmen wollen.«

»Ach, so ein Wunschziel-Spielchen, was? Habe ich auch schon mal gemacht. Kenn ich.« Victor winkt ab.

»Mein lieber Victor. Die Kenn-ich-Masche ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass ich mit meiner Geschichte bei dir genau ins Schwarze treffe. Das ist ein Widerstand, allerdings nur ein schwacher. Glaub mir, du kennst es nicht, sonst würdest du nicht so im Nebel deines Lebens rumstochern und hättest vor Wochen bei mir keinen Double Vision bestellt. Einverstanden?«

»Okayokay, mach schon weiter.«

»Gut. Wir sind im Hafen, es ist Abreisetag, das Wetter ist super, die Gäste und die Crew sind nett, das Schiff ist ein Traumschiff, alles super.

Ein paar Tage später sitzen sie beim Frühstück. Da kommt eine Durchsage durch die Lautsprecher: Seenotrettungsübung. 11 Uhr, Treffpunkt Deck 6 mitsamt den Rettungswesten!

Die Leute gehen ganz ohne Hektik in ihre Kabinen und holen die Westen. Aber stell dir vor, mein Freund, bei dir in der Kabine gibt es keine Weste. Du gehst zum Offizier und berichtest ihm. Der sagt: Ohne Rettungsweste geht es nicht. Du sagst: Okay, dann geben Sie mir eine. Er sagt: Gut, ich gebe Ihnen eine, aber das kostet einen Preis. Du: Was soll’s denn kosten? Er: Zwei Werte.

Also musst du zwei von deine kleinen Wertzetteln weglegen. Welche beiden bist du am ehesten bereit zu opfern? Überlege genau.

Dann geht’s weiter. Ein paar Tage später wird’s ernst. Wieder eine Durchsage. Diesmal ist es keine Übung, sondern todernst. Das Schiff sinkt und muss evakuiert werden. Gut, dass wir das geübt haben! Du holst deine Weste, diesmal in echter Hektik, hastest zum Rettungsboot und musst feststellen: Alle Boote sind voll. Sie werden gerade abgeseilt. Panik steigt in dir hoch. Ein Offizier steht daneben und brüllt, dass er noch etwas für dich tun kann. Ein paar Plätze sind noch frei. Aber das kostet dich noch mal zwei Werte.

Du denkst kurz und heftig, wägst ab und legst zwei weitere Zettelchen weg. Zwei bleiben übrig.

Dann wird das Rettungsboot abgelassen. Der Schiffsrumpf neigt sich bereits, es ist schwierig. Das Boot schwankt und knallt gegen den Schiffsrumpf, du fällst ins Wasser. Aber das Wasser ist saukalt, du musst so schnell wie möglich wieder raus, sonst erfrierst du. Dein Boot hängt noch auf halber Höhe fest. Einer von einem anderen Boot winkt dir zu, du schwimmst um dein Leben. Der Mann packt dich am Ärmel und wird dich gleich rausziehen, allerdings kostet dich das, du ahnst es, einen weiteren Wert.

Welchen der beiden übrigen Werte wärst du bereit zu opfern? Welcher bleibt übrig? Welches ist dein höchster Wert?

Am Ende hast du also ein Ranking deiner wichtigsten Werte.

Und dann frage ich die Leute: Was genau tun Sie heute und tagtäglich unter Einsatz von Zeit, Geld und Kraft, um diesem höchsten Wert auch in der Realität zu zeigen, dass er ihr wichtigster ist?

Und dann will ich Antworten. Und schaue oft in lange Gesichter.«

Victor sitzt ganz ruhig da. In seinem Kopf rattert es, aber äußerlich ist großer Frieden eingekehrt. Er schaut ganz gelöst aus, die Wolken haben sich verzogen.

Shake your Life

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