Читать книгу Das pathologische Leiden der Bella Jolie - Ramona Raabe - Страница 10

Die beste Freundin

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Tamara.

Ehrlich gesagt, manchmal verstehe ich dieses ganze Brimborium nicht. Dieses Interesse an ihrer Persönlichkeit. Man könnte meinen, sie hätte Leute abgeschlachtet. Hat sie ja nicht. Sie hat etwas getan, was mittlerweile die meisten Menschen tun. Manche schämen sich, aber fast alle tun es – und sie hat damit übertrieben. Es heißt, ein Mensch, sie, sei nachweislich daran verstorben. Dabei ist auch das natürlich Schwachsinn. So können Sie das nicht stehen lassen. Sie ist letztlich nicht anders gestorben als jemand, der völlig überarbeitet tot zusammenklappt. Ihr braucht gar nicht so zu tun, als würden aus dem Gerät Kügelchen schießen, die uns den Garaus machen.

Und jetzt? Klar ist es schlimm. Es ist sogar richtig beschissen und es tut unfassbar weh. Sie und ich waren jahrelang engste Freundinnen, und manchmal fang ich aus dem Nichts an zu flennen und kann nicht, kann nicht stoppen, kann die Tränen nicht stoppen – aber was geht euch meine private Trauer an? Was interessieren sich die Journale und TV-Reportagen, Promi-Magazine, Uniprofessoren und Haste-nicht-gesehen für Janina? Was fragt ihr mich?

Ihr habt doch diese Sitzungsprotokolle, wenn man das überhaupt so nennen kann, von ihr und ihrem Psycho-Doktor. Übrigens, mit dem fing das Unheil erst an. Ich habe ihr abgeraten, sich auf den einzulassen. Hab ihr geraten, eine richtige Behandlung zu machen. Eine systemische Therapie, oder noch besser eine Verhaltenstherapie. Da war sie stinksauer. War ja der Meinung, dass sie kein Problem habe. War aber stets extrem gereizt, wenn sie nur darauf angesprochen wurde. Sie fand die Therapie hingegen angeblich einfach nur lustig … amüsant, das hat sie, glaube ich, gesagt, ja genau, amüsant, dass dieser Kerl so viel Interesse an ihr zeige. Er unterhalte sie prima, das meinte sie noch. Er habe viel Geist und sei total komisch. Da habe ich ihr zugestimmt, aber ich meinte dabei komisch wie seltsam, nicht komisch wie lustig.

Was wissen Sie über Florian Kramer? Zu dumm, dass Sie ihn nicht mehr befragen können. Wenn Sie mich fragen, hat der sich selbst angezündet. Versehentlich. Das trau ich ihm zu. Bin ihm aber nur einmal persönlich begegnet. In der Stadt, als Janina und ich unterwegs waren und ein paar Einkäufe erledigt haben, wie so häufig. Es war eine unserer letzten gemeinsamen Unternehmungen. Da ist er plötzlich aufgetaucht, wir saßen gerade am Main und haben Frozen Yoghurt gegessen – sie mit Beeren und Bananen, ich mit Keksstücken und Karamellsauce. Sie trug an diesem Tag eine beigefarbene Bluse, die dazu einen wunderschönen Kontrast gegeben hat. Das sah bei dem fantastischen Wetter an dem Tag einfach aus wie aus einer abnormal gelungenen Werbung, in der einfach alles zusammenpasst … einfach … einfach p-p-perfekt … Ist ja auch egal, Entschuldigung, diese Erinnerung kam mir gerade nur hoch, ich … puh … haben Sie vielleicht ein Taschentuch oder … danke … […] schon gut, es geht schon wieder, es geht schon … Jedenfalls … jedenfalls habe ich gleich gemerkt, dass der nicht mehr alle Latten am Zaun hat. Wir saßen gerade am Main mit unserem Eis, und plötzlich stand er da und hat so getan, als wärs ein Zufall.

- ACH, du auch hier! Dich kenne ich doch von instagreet! -

Sie kennen doch diese Nummer. Wir hatten uns gerade mal zwanzig Minuten vorher in dem Café online eingecheckt. Ich habe mal nachgesehen, wie weit entfernt das von seiner privaten Adresse ist. Ist ja dieselbe wie die seiner »Praxis«. Kommt zeitlich jedenfalls hin. Letztlich hat er Janina davon überzeugen können, diese Sitzungen mit ihm zu machen. Er forsche an interessanten Persönlichkeiten, meinte er. Hat ihr natürlich irrsinnig geschmeichelt, hätte sie aber nie zugegeben.

Die »Selfie-Sucht« – so hat er es damals schon ganz ernsthaft genannt – »unserer Generation« sei medizinisch relevant und er habe ein großes Erkenntnisinteresse daran. Dabei war er gar kein richtiger Arzt. Hat abgebrochen – Entschuldigung – unterbrochen, wie er, und später auch Janina, diesen angeblich so strategisch klugen Karriereschritt nannte, um auf eigene Faust über Gespräche und Fallbeispiele Theorien zu entwickeln. Ich find’ das ziemlich dilettantisch, aber Janina war ganz begeistert, dass er sie zu einem seiner Fälle machen wollte. Die Blendefrau wollte er sie nennen. Natürlich wusste er damals noch nicht, wie berühmt sie werden würde. Dass er so einen anonymen Code-Namen nicht mehr brauchen würde. Dass sie sich selbst einen geben würde. Oder dass er sowieso nicht mehr lang zu leben hatte. Wenn ich sage, dass mit ihm das ganze Unheil erst anfing, dann meine ich damit, dass Janina zwar vorher schon ein paar Schlieren auf der Spule hatte, dass sie definitiv irgendeinem Zwang unterlag, sich ständig selbst zu fotografieren, aber dass es so schlimm wurde, das habe ich nicht kommen sehen. Dieser Grad des Desaströsen wurde durch das Interesse an ihrer Persönlichkeit überhaupt erst erwirkt, diese Idee hat erst der Pseudo-Doktor ihr eingepflanzt, und diese Idee hat Wurzeln geschlagen und schlimme Früchte getragen. Die Gerüchte, dass die beiden was miteinander hatten, glaube ich nicht. Das ist nichts als seine kranke Fan-Fiction.

Wie auch immer. Was fragt ihr uns, wer sie war? Was für eine naive Frage ist das bitte? Wie soll ich das über jemand anderen beantworten, wenn ich das kaum für mich selbst kann? Aber so macht ihr das. Wenn irgendjemand etwas Ungeheuerliches angestellt hat, dann stapft ihr los und fragt die Nachbarn. Habt ihr auch diesmal gemacht, hab ich mitbekommen. Ihre Nachbarn von der Inselwohnung. Haha! Glaubt ihr etwa, die haben sie jemals kennen gelernt? Zu dem Zeitpunkt hat sie das Haus doch quasi gar nicht mehr verlassen. Na, dann würde ich auch sagen, dass sie ja immer so reizend und nett war! Weil sie mal geholfen hat, den Kinderwagen hochzutragen, als der Aufzug kaputt war und sie noch nicht zu schwach dafür. Weil sie immer lieb gegrüßt hat! Meine Fresse.

Falls es das ist, was Sie hören wollen, kann ich Ihnen natürlich bestätigen, dass Janina nicht der Engel war, zu dem diese Pseudo-Freunde sie machen. Manchmal war sie sogar ein richtiges Biest. Nicht immer die Ehrlichste. Ein Mensch, der Prioritäten abwägte, und wenn du dich auf der falschen Seite der Wippe befunden hast, dann musstest du selber sehen, wo du bliebst. Tschüdelüüü! (Das ist eine fröhlichere Variante für ein schroffes TSCHÜSS.) Aber das musst du doch jetzt bitte nicht persönlich nehmen. Das hat nichts mit dir als Mensch zu tun!

Janina hatte die herausragende Gabe, dich unfassbar schnell auf 180 zu bringen, aber sie war noch begabter darin, dich wieder für sich zurückzugewinnen. Ich glaube, sie ist die abstoßendste und charmanteste Persönlichkeit, die mir je begegnet ist. Und ich vermisse sie jeden Tag.


Wachter schaltet das Video aus, drei Sekunden bevor es sich selbst beenden würde. Ein zweites von Tamara Markow findet sich auf dem Portal, wie er in dem Menü erkennt. Manche Wegbegleiter wurden mehrfach befragt. Wer hatte das entschieden? Wer erhielt mehr Sprechzeit? Jene, die sie wirklich besser kannten, oder jene, die sich lieber reden hören? Margot war stets auf der Suche nach den lauten Geschichten. Das gab den Schwätzern mehr Raum, oder den Tagträumenden, die sich Zuhörer suchten. Draußen trommelt sanfter Regen auf die Straßen und Dächer. Wann hat er das letzte Mal Regen auf seiner Haut gespürt? Regen, nicht Duschkopf-Geplätscher. Das Nass, das aus dem Himmel über die Welt hereinbricht. Aus der Natur, die ihr Zelt über alle Landschaft spannt, die wir unsere Erde nennen. Die sogenannte höhere Gewalt. Nein, von dieser höheren Gewalt wird er ferngehalten. Als ließe sich in einem Bunker aus Beton das Niedere vor dem Höheren verstecken. Sonne bekommt er öfter zu spüren, obgleich er dennoch einen chronischen Vitamin-D-Mangel aufweist. Das zeigt der Universal-Scan ihm regelmäßig an. An Tagen mit schönem Wetter kommt es öfter vor, dass einige von ihnen für ein paar Stunden rausgehen. Manchmal machen sie einen gemeinsamen Ausflug auf eine Wiese oder ein Schiff. Wachter freut sich dann und redet mit keinem. Aber geregnet hat es an diesen Tagen nicht, und niemals kam jemand auf die Idee, ihn bei grauem Himmel und fallenden Tropfen zu fragen, ob er davon etwas mitbekommen wolle. Wachter hat eine Sehnsucht nach etwas, was sich am besten als das ungeformt Haptische beschreiben lässt. In den schützenden Räumen des Wohnheims ist alles glatt und trocken. Die Dinge sind gelackt und gut verarbeitet, kantig und wuchtig. Alles fügt sich so, wie es sich gehört, alles ist hart und handfest, zeigt sich aus tiefer Überzeugung materiell. Nur sein Kissen ist weich und nachgiebig, aber nicht wie ein Wassertropfen, der aus dem Himmel fällt. Und so fragt er sich, als auch an diesem grauen Nachmittag die Klänge des leichten Regens in seinem Zimmer vernehmbar sind und er sich dafür bereit macht, die weiteren Videos anzusehen, ob er jemals wieder spüren soll, wie echte Regentropfen sich in seinem Haar ein feuchtes Nest schaffen.

Das pathologische Leiden der Bella Jolie

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