Читать книгу Das pathologische Leiden der Bella Jolie - Ramona Raabe - Страница 8

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Paul Wachter liest das Vorwort dieses dicken Bandes mit solcher Neugier, als sei der Inhalt ihm gänzlich unbekannt. Dabei weiß er bereits alles, was Margot Wilhelms dort geschrieben hat. Nicht, weil sie jemals mit ihm über diese Arbeit gesprochen hätte, nachdem er nichts dazu beizusteuern wusste. Doch schließlich ist es ein recht allgemein gehaltenes Vorwort. Es holt die Menschen dort ab, wo sie sich bereits sicher fühlen. Er kannte nur noch nicht den genauen Wortlaut, in den es den Inhalt verpackt. Es hat ihn stets mit einer sonderbaren Zufriedenheit erfüllt, unterschiedliche Texte über dieselben Geschichten zu lesen. Meist handelt es sich um grausige, sensationelle Neuigkeiten, einen Mordfall oder einen spektakulären Banküberfall, denn über solche Geschehnisse schreiben gern die unterschiedlichsten Medien in ihren nuancenreichen Stilen journalistischer Berichterstattung und des sensationslüsternen Plauderns. Es bereitet ihm eine gewisse affirmative Freude, denselben ihm bekannten Inhalt in den Worten anderer aufs Neue zu erfahren. Manchmal enthält der eine oder andere Artikel nur eine winzige weitere Information. Paul Wachter betrachtet Geschichten gern aus allen Blickwinkeln. Nun hat er diesen dicken Bildband auf seinen alten Knien liegen, einen Bildband, der genau diesen Versuch unternimmt. Seine Finger ruhen auf Margots Ausführungen. Das Buch ist bereits vor dreiundzwanzig Jahren erschienen, aber aus irgendeinem Grund zögerte er damals, es sogleich zu lesen – als sei noch nicht die Zeit dafür. Und dann – wie es sich mit diesen Dingen häufig verhält – hatte er es für eine Weile in gewisser Weise vergessen. Es war ihm auf jene spezielle Weise entfallen, wie es manchmal bei einer noch zu tilgenden Schuld oder einem besonders anstrengenden, jedoch nicht zwingend notwendigen Vorhaben der Fall ist. Indem Wachter es unterließ, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen, wusste er, dass noch etwas auf ihn wartete. Jetzt aber, das spürt er, muss er die Texte lesen, ehe er dazu nicht mehr in der Lage sein wird.

Paul Wachter ist einundneunzig Jahre alt, und die Vorstellung, dass jeder Moment sein letzter sein könnte, erfüllt ihn weder mit Schrecken noch mit Vorfreude auf eine Erlösung, von der er sich ohnehin nicht sicher ist, ob sie für ihn eintreten wird. Besonders religiös ist er nie gewesen, das hat sich auch im Alter nicht geändert, und eine Erlösung vom irdischen Leben hat er sich auch nie ersehnt. Zwar hat er Schmerzen, aber er lebt gern. Und sie halten sich noch im Rahmen und erinnern ihn daran, dass er gern lebt. Als die Ärzte ihm mitteilten, wie stark erhöht seine BNP-Werte mittlerweile seien und dass sein Herz langsam seines Dienstes müde werde, verspürte er vor allem eine Dankbarkeit dafür, dass er von schlimmeren Schrecken des Alters bislang verschont worden war und sich nun allein mit dem Unvermeidlichen konfrontiert sah: nämlich, dass auch das Altern einmal zu Ende geht … Dennoch wartet er auf die Ungläubigkeit, die Panik, die Angst – alles Regungen, von denen er meint, sie natürlicherweise verspüren zu müssen. Doch bislang fühlt er sich ruhig und gewiss. Vielleicht muss er den Tatsachen, dem schwindenden Ich, erst in die Augen sehen, ehe er sie fürchten kann.

Die Krankenschwester kommt herein. Er weiß ihren Namen nicht mehr, aber der erscheint ihm auch unwichtig. Es gibt niemanden, dem er noch von seinem Leben erzählt, niemanden, für den er diesen Namen gebrauchen könnte. Er wird sie nicht ansprechen. Sie sind einander alle ähnlich: jung (für ihn sind sie wahrlich alle jung), voller Energie und Tatendrang, bewegt von der schimmernden Freude, dass jeder Tag eine neue Chance biete. Für seine Beziehung zu einem Menschen benötigt Wachter mittlerweile nur noch die ihr innewohnende charakteristische Vertrautheit, die er mit einer Person verbindet. Das genügt. Er ist dankbar, dass ein Mensch sich noch um ihn kümmert. Er weiß von Wohnheimen, wo sie mittlerweile Roboter einsetzen. Da muss man sich natürlich den Namen merken. Sonst kommen sie auf Zuruf nicht, nur bei der Notfall-Taste oder bei »Alarm!«. Ihm graust es bei der Vorstellung, wie man dort liegt, einen Herzinfarkt erleidet und der Roboter zuerst schnell angesaust kommt, dann stehen bleibt, regungslos, ohne Mitgefühl, und deinen Körper nach seinem akuten Mangel scannt. Im Glücksfall stellt der Computer im Nu die richtige Diagnose und weiß sofort die erforderliche Hilfe. Hat man aber Pech, gibt es keine Hilfe mehr und man verstirbt allein, einzig mit einer androiden Box aus Blech als Zeugen, die das ganze Elend auch noch filmt.

Die namenlose, aber wegen ihres Mensch-Seins sehr geschätzte Krankenschwester bringt ihm also auf einem Tablett sein Abendessen. Oder ist es das Mittagessen? Er betätigt eine Taste an seinem Bett, sodass die Rollladen hochfahren. Dann fällt ihm ein, dass die bloße Tatsache, dass die Rollladen noch unten sind, wohl anzeigt, dass es noch Morgen ist. Der Tag beginnt. Ist er mit dem Bildband in den Händen eingeschlafen? Gestern ist er endlich angekommen. Eine der wenigen Print-Ausgaben.

»Der Bella-Jolie-Band?« Die Schwester stellt sein Frühstückstablett neben ihm ab und schaut interessiert auf das wuchtige Objekt in seinem Schoß. »Meine Tante hat sich lange Zeit mit dem Fall beschäftigt. Meine Cousine hatte vor einigen Jahren einen schlimmen allergischen Schock. Wenn sie nicht Sekunden zuvor ein Foto von sich gepostet hätte, auf dem die ersten Symptome schon sichtbar waren, wäre vielleicht jede Hilfe zu spät gekommen! Davor hat meine Tante immer geschimpft, das gab ständig ein Riesentheater. Dass meine Cousine nicht so weitermachen könne mit den ganzen Fotos, sonst werde sie noch eine Bella Jolie

Die Schwester lacht amüsiert, hört aber schlagartig auf, als sie sieht, dass Wachter dies ganz und gar nicht witzig findet.

»Verzeihung«, murmelt sie rasch. »Gab es in Ihrer Familie … Ich meine, es geht mich nichts an, ich wollte nur nicht –«

»Nein«, entgegnet Wachter trocken. »Bei uns gab es nur die herkömmlichen Abhängigkeiten. Alkohol, Liebe …«

Sie lacht etwas nervös, denn sie ist sich nicht sicher, ob er lustig sein will. »Wissen Sie, ich dachte nur, wegen Ihrer Angewohnheit. Dann wäre es natürlich selbstverständlich, wenn Sie, nun, etwas empfindlich, also … Wie geht es uns denn heute?«, wechselt sie eilig das Thema.

»Mir geht es gut«, erwidert Wachter. »Wie es Ihnen geht, weiß ich nicht.«

Die Krankenschwester sagt nicht mehr viel, nur noch, dass sie nachher die neuen Tabletten bringe, dass sie vor dem Abendessen einen Spielfilm im Gemeinschaftsraum zeigen werden, dass sie gerne seine VR-Brille noch putzen und ihn nachher abholen werde. Er versteht den Sinn dieses Gemeinschaftsraums bei einer immersiven Filmvorführung nicht, doch angeblich soll es sehr wohl einen Unterschied machen, ob ein Film im tatsächlichen Raum gemeinsam erlebt wird oder nicht; das weiß er, sie haben es ihm erklärt, es leuchtet ihm aber nicht ein.

Als die Schwester fort ist, fühlt Wachter sich ein wenig mies. Ihn beschleicht das unangenehme Gefühl, möglicherweise unfreundlich gewesen zu sein. Die Unfreundlichkeit entwischt seinen Lippen manchmal wie ein etwas muffliger Atem, der sich aufgestaut hat und, auf seinen Auftritt lauernd, an seinen Gaumen geklammert hält, um dann, kaum dass Wachter zu einem der wenigen Momente, an denen er mit jemandem spricht, den Mund öffnet, ihm ungezügelt aus der Klappe zu entwischen.

Im nächsten Augenblick hat er diese Sorge vergessen. Er schlägt den Bildband auf. Neben Fotos (vielen Fotos von Bella Jolie, absurd vielen Fotos) und Abschriften von Interviews enthält er Links mit Passwörtern, unter denen er sich Ton- und Bildaufnahmen ebendieser Gespräche in einem Internetportal ansehen kann. Doch bevor er sich anschaut, wie ihre Weggefährten Bella Jolie erlebt haben und was ihre Störung nach Ansicht dieser ihm Fremden ausgemacht hat, möchte er sich seine eigene, erste und einzige Begegnung mit ihr ins Gedächtnis zurückrufen. Einzelne dieser Bilder sind über die Jahre immer wieder in seinem Gedächtnis aufgeflackert, mal sind sie diffus bedrohlich und nahezu formlos, mal einschneidend wie Schnappschüsse, die sich wie von selbst brutal, gleich einer aufgezwungenen Diashow, vor sein inneres Auge rammen. Jetzt will er diese Tür zu seiner Erinnerung ein Stück weit öffnen. Kein anderer Eindruck soll diesen seinen eigenen überschreiben dürfen.

Das pathologische Leiden der Bella Jolie

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