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Der Vermieter

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Paul.

In sich zusammengesunken, lehnt die junge Frau auf dem Dielenboden an der Wand, wie ein dünnes Stück Stoff, das eine Weile im Wind getanzt und sich nun endgültig hinabgesenkt hat. Wie eine Marionette, der mitten im Spiel die Fäden abgeschnitten worden sind. Kein Leben pulsiert mehr in ihr. Kein Zittern. Kein Hauch von einer Haltung. Das Haar ist vor ihr Gesicht gefallen wie ein Vorhang. Es ist honigblond, goldbraun. Strähnig und fettig hängt es von ihrem Kopf herunter. Schuppen haben sich in ihm eingenistet. Er weiß, dass sie schön ist, bevor er ihr Gesicht zu sehen bekommt. Beinahe ist es so, als könne er es ihrem Kopf ansehen. Oder den blassen Armen, die leblos von den Schultern hängen. Die fragilen Finger, von denen manche noch sanft das Gerät berühren, das sie in der Hand hält. Es ist kein Revolver. Es ist dasselbe Gerät, das auch er vorm Schlafengehen zu Rate zieht. Und auch jeden Morgen, um das Wetter zu erfahren, und die Nachrichten aus der Nacht. Der Körper, der das Handy im Schoß fürsorglich umschließt wie eine Mutter ihr Kind, ist spindeldürr. Nichts hält ihn mehr.

So erinnert er sich an das erste Mal, als er sie sah. Es war das beste und somit für ihn das originäre Bild ihrer Statur und ihres Gesichtes. Mit den vielen publik gemachten Selbstfotografien von ihr konnte er nichts anfangen. Die abertausenden öffentlichen Fotos. Und die wenigen – aber dafür sehr bekannten –, welche die Medien immer wieder zeigen würden. Auf Titelbildern ihrer Blätter. Als Bilder ihrer Blogbeiträge. Als Illustration eines Artikels in einem Schulbuch. Die junge Frau und ihr forschender, fragender Blick in die Kamera, die zu ihrem täglichen Spiegel geworden war. Warum sie genau diese drei, vier bekannten Fotos immer wieder wählten, war ihm unklar. Es waren Fotos, auf denen sie lächelte. Dabei tat sie das auf den meisten Porträts nicht. Jedes Kind hätte sie auf einem dieser Fotos erkannt, aber auf anderen wäre sie im ersten Moment eine völlig Fremde geblieben. Nur ein anderer von viel zu vielen Menschen. Auf den bekannten Bildern ist sie Bella Jolie, die Bella Jolie. Die Menschen mögen wohl Wiederholungen. Sie mögen das Wiedererkennen. Es gibt ihnen das Gefühl, über ein Wissen der Abläufe zu verfügen. Dieses Wissen lässt sie glauben, sie hätten der Nichtplanbarkeit des Lebens etwas Unumstößliches entgegenzusetzen. Als könnten sie nicht so schnell überrascht werden. Natürlich ist so ein Foto in der Illustrierten keine Wissenschaft. Aber zweifelsohne versuchen sie es zu einer zu machen. Es gibt in dieser medial überfluteten Welt irgendwo noch ein Gespür für eine gemeinsame Heimat im Vertrauten, auch wenn sie aus denselben Posen und Possen besteht. Also immer wieder dieselben Bilder der Bella Jolie.

Vor der Ikonographie dahinter graust es ihm. Für ihn war dies das erste Bild: das leblose Mädchen auf dem verstaubten Fußboden, der erste Eindruck, der sich unwiderruflich in ihn brannte. Leblos, leblos, wunderschön. Ein Dornröschen, das nie auf einen Prinzen gewartet hat. Eine junge Frau, eigentlich. So, wie sie da lag, eher ein Mädchen. Für immer ein Mädchen. Wie sagt man? Nur Tote bleiben ewig jung.

Der Vater hatte angerufen, ganz aufgelöst, ja, man muss schon sagen: hysterisch. Dass man umgehend in dieser Wohnung nachschauen müsse! Hinterhaus, dritte Etage rechts, Sie erinnern sich doch sicher an meine Tochter. Er müsse sofort dahin, dies sei ein Notfall, er müsse nachsehen, ob die Mieterin in dem Objekt anzutreffen sei. Die Mutter sorge sich so fürchterlich. (Das klang nach einem Vorwand zur Relativierung der eigenen Panik.) Seit Wochen sei die Tochter verschwunden! Ja, er wisse, dass sie erwachsen sei, er sei schließlich der Vater (dies war ein Wort, dessen Wirkmacht er anscheinend nicht ausreichend zur Kenntnis genommen sah). Nein, sie hätten mittlerweile keinen persönlichen Kontakt mehr. Nein, das liege nicht daran, dass es einen Streit gegeben hätte. Das Verhältnis sei sehr innig. Nicht unproblematisch, zugegeben, aber innig. Es liege daran, dass niemand mehr persönlichen Kontakt zu seiner Tochter habe. Ob er keinen Zweitschlüssel habe? Ja, es habe Lebenszeichen gegeben, die Tochter veröffentliche noch Fotos. Nein, der Account könne nicht gehackt sein, die Fotos zeigten sie selbst! Vor einiger Zeit noch mehrmals am Tag! Der Schlüssel, hat er keinen Schlüssel? Ihr Gesicht, immerzu ihr Gesicht! Und meistens ein wenig Hintergrund. Aber immer weniger, immer weniger davon. Die Enge des Zooms macht sich breit. Trotzdem: ein bisschen Hintergrund. Auch wenn dieser sich in den letzten Wochen nicht verändert hat. Eine weiße Wand. Raufasertapete. Zu Hilfe doch, es muss jemand sofort nachschauen! Nach den Fotos zu urteilen, scheine das Töchterchen die Räumlichkeiten in den letzten Wochen nicht mehr gewechselt zu haben. Mehr wisse man doch auch nicht. Nur so viel: Es war, als habe er als Vater durch die Bilder an ihrem Leben teilhaben können, und doch war sie zum Geist geworden, aber immerhin zu einem mitteilsamen, regulär einkehrenden Geist. Aber seit dreiundsiebzig Stunden, seit dreiundsiebzig gab es kein neues Foto mehr. Das war zu lang, viel zu lang. Das war undenkbar. Damit galt Janina Ast als vermisst.

Auf sein Klingeln und Klopfen reagierte sie natürlich nicht mehr.

Rückblickend wünschte er sich damals, er wäre ihr vorher schon einmal persönlich begegnet. Oder er wäre ihr überhaupt einmal begegnet. Bei Toten lässt sich wahrscheinlich nicht mehr von Begegnungen sprechen. Er wünschte also, er hätte sie einmal lebendig erlebt, als Persönlichkeit mit Ausstrahlung und Aura. Oder zumindest vorher einmal gesehen, einen Organismus, durch den das Leben pulsiert, mit warmer Haut und charakteristischer Haltung. Dann, findet er, könnte er behaupten – wie es so viele schwer getroffen nach dem Ableben eines Menschen tun –, dass er sie gekannt habe. (Und dass sie ein wunderbarer Mensch war, ein wunderbarer Mensch! Viel zu früh von uns gegangen. Welch eine Tragödie. Doch, nun, wenn man so darüber nachdenkt … ein bisschen seltsam war sie doch, nicht wahr, ein bisschen seltsam?)

Aber er hatte nur zweimal mit ihr telefoniert: einmal, als sie eine kurze Nachfrage bezüglich der Internetverbindung in der Wohnung hatte – Kabelanschluss oder WiFi? –, und einmal, als sie den Stromzähler suchte.

Ansonsten hatten sie alles auf dem elektronischen Wege geregelt: die Anfrage, die Zusendung der Unterlagen, Einkommensnachweise, Mietschuldenfreiheitsbescheinigung, Schufa-Auskunft, Personalien, Vertrag und Leistung der Unterschrift, all das. Weil er zu dem Zeitpunkt selbst nicht in der Gegend war, hatte die Schlüsselübergabe eine mit Vollmacht ausgestattete Bekannte für ihn übernommen. Natürlich wusste er nicht, dass Fräulein Ast die Arbeitsstelle als studentische Hilfskraft bereits gekündigt worden war. Ihre Dokumente hatten ihm aber auch keinerlei Anlass zu Misstrauen gegeben, oder dazu, irgendwelche Nachforschungen anzustellen. Auf den ersten Blick präsentierte sich ihm (dem Papier nach, ein Foto hatte sie nicht beigelegt) der vertrauenswürdige Durchschnitt unter den Überdurchschnittlichen. Recht jung, mit sehr überzeugender elterlicher Bürgschaft, Single, nicht weiter auffällig.

Auch sonst hörte er, mit Ausnahme dieser zwei kurzen Telefonate, nichts mehr von ihr. Nein, er hat sie nicht gekannt und weiß nichts über sie. Auskunft kann er nicht geben. Sie war aus dem Süden hergezogen – dabei sollte er sagen, dass alles unterhalb von Juist für ihn zum Süden zählt –, und danach gab es keine Meldung mehr. Von ihr nicht und auch von den Nachbarn nicht. Das befand er für ein gutes Zeichen. Zumindest, das kann man nun sagen, hat diese wohlerzogene junge Frau zu Lebzeiten niemandem jemals Probleme bereitet.


In seiner linken Brust schmerzt ihn etwas, ein unangenehmes Ziehen, womöglich das Herz. Das beunruhigt ihn nicht weiter, doch es hält ihn davon ab, sich auf das Material zu konzentrieren. Je tiefer er einatmet, desto unangenehmer spürt er es. Vielleicht doch nur ein eingeklemmter Muskel. Das Buch liegt auf seinem Schoß. Die Größe überrascht ihn noch immer: ein opulenter Bildband mit unendlich vielen Fotos, von denen die meisten ihn langweilen, zeigen sie doch immer wieder dasselbe Gesicht, das in der Zeit zwischen diesen Fotos offenbar zu wenig Erfahrung sammelte, um einen neuen Ausdruck zu finden. Ihn interessieren vielmehr die Videos und Abschriften der Gespräche, die in ihnen gezeigt werden. Margot Wilhelms war in ihrem unerschöpflichen journalistischen Eifer und ausgestattet mit ihrer Kamera von Wohnung zu Wohnung marschiert, um Wegbegleiter Bella Jolies zu der verlorenen Freundin und Tochter zu befragen. Immerhin, es sollte tatsächlich ihr größter und lang erarbeiteter kommerzieller Erfolg werden, und er hat sich ehrlich für sie darüber gefreut. Wachter vertieft sich in Texte und Bilder und ordnet sie zunächst in willkürlicher Reihenfolge an, so, wie es sich für ein richtiges Puzzle gehört. Es sprechen in separaten Wohnungen und separaten Erinnerungen die als »beste« betitelte Freundin Tamara Markow und die Mutter Renate Ast. Die Kamera zeigt sie in einer Halbtotale und zoomt immer wieder amateurhaft ganz nah an die Gesichter, sobald sich Emotionen in ihnen regen. Mit ihrer feurigen und motivierten Art, ihrem Bestreben, innovativen und investigativen Journalismus zu betreiben, war Margot eine gewitzte und ausdauernde Fragestellerin und eine mittelprächtige Autorin, aber für die dokumentarische Schönheit, die sich erst durch die Zurückhaltung der Kameralinse entfalten kann, fehlte ihr das Gespür.


Als die Schwester wenig später in sein Zimmer kommt, um ihn für die Filmvorführung abzuholen, ist er in einen Schlaf gefallen, aus dem auch ihr unsanftes Klopfen an die Schranktür ihn nicht holt. Das bringt die junge Frau in eine befangene Lage: Es behagt ihr ganz und gar nicht, für einen der Bewohner entscheiden zu müssen, ob er die gemeinschaftliche Aktivität nun verpasst oder nicht, indem sie ihn entweder aufweckt oder es unterlässt. Weckt sie ihn aber, um ihn darauf hinzuweisen, könnte er ungehalten werden. Sie will es dennoch versuchen. Er wird wütend, aber nicht richtig wach, ruft Nein, nein, nein!, schlägt um sich und murmelt wirres Zeug mit klarer Stimme, murmelt auf uneindeutige, aber phonetisch unmissverständliche Weise: Eine Schönheit wie ein grauer Wasserfall im November bei zwei Grad Celsius, wie ein grauer Wasserfall im November, gerade überm Gefrierpunkt! Schön, schön, schön sind alle deine Augen!

Wortlos und ohne den Ausfall persönlich nehmen zu müssen, zieht die Schwester sich zurück.

Das pathologische Leiden der Bella Jolie

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