Читать книгу Das pathologische Leiden der Bella Jolie - Ramona Raabe - Страница 7

Vorwort der Herausgeberin

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Statistiken weisen seit dem Jahr 2010 einen exponentiell ansteigenden Trend der sogenannten »Selfies« auf, also von zumeist mit der Kamera eines Mobiltelefons aufgenommenen Selbstfotografien. Während diese allseits beliebte Tätigkeit für die meisten Menschen problemlos Teil ihres vor allem privaten und sozialen Lebens ist, wissen wir heute, dass sie ebenfalls zu einem zwanghaften Verhalten führen kann, welches die Betroffenen erheblich einschränkt und ihnen schadet.

Die pathologische Impulskontrollstörung (»Selfie-Sucht«), welche erst 2024 als solche von der Medizin anerkannt wurde, ist als Phänomen bis heute nicht ausreichend erforscht. Der Fachbegriff Autokatoptromanie setzt sich zusammen aus griech. αυτός, autos, »selbst«, κάτοπτρον, katoptron, »Spiegel«, und μανία, manía, »Raserei, Wahnsinn«.

Durchbrechend und crossmedial wahrgenommen als ernsthaftes, durch alle Gesellschaftsschichten persistierendes Problem wurde die Störung erst durch den Fall der im Jahr 2019 an den Folgen ihrer Sucht verstorbenen 29-jährigen »Bella Jolie«, kaum bekannt unter ihrem bürgerlichen Namen Janina Ast.

Ast, deren Sucht exzessive Ausmaße annahm, entfernte sich in den Monaten August bis November 2019 kaum mehr von einer Steckdose in ihrer Wohnung auf der ostfriesischen Insel Juist, um ihr Mobiltelefon ohne Unterlass mit Strom zu versorgen und den Kameramodus funktionsfähig zu halten.

Mehrere Tage verbrachte die damalige Studentin an jener Stelle und beschäftigte sich in den letzten Wochen – so ließ sich den Daten auf dem verbliebenen Gerät sicher entnehmen – mit nichts anderem als der Selbstfotografie und dem Löschen von Fotos zwecks Erschaffung neuen Speicherplatzes. Bis zu 11.000 Fotos innerhalb von 24 Stunden soll die Studentin in ihren letzten Tagen von sich selbst gefertigt haben, und sie hörte auch nicht damit auf, um lebensnotwendigen vegetativen Tätigkeiten nachzukommen. Besonders tragisch werden somit diese letzten Fotografien, die eingehend die schwindenden Kräfte einer Frau porträtieren, die den Obduktionsergebnissen zufolge letztlich dehydriert war. Die nur wenigen und kurzen Pausen zwischen den letzten Fotostrecken weisen außerdem auf akuten Schlafmangel hin.

Es lässt sich wohl mit Gewissheit sagen, dass ein Tod nie eindringlicher dokumentiert worden ist. Der 2020 im Brahmann-Verlag erschienene Band »Die letzten Stunden der Bella Jolie. Ein Leiden in Bildern, Sekunde um Sekunde« wurde nach einer Klage der verbliebenen Familienangehörigen wegen Verletzung des Persönlichkeitsrechts posthum wieder vom Markt entfernt. Die Ansammlung von Fotos wurde vom verantwortlichen Richter Peter Kreuzer im nachfolgenden Prozess aufgrund eines medizinischen Gutachtens für ein zwanghaftes Symptom einer Krankheit befunden, und nicht als Zeugnis eines freiwilligen Exhibitionismus.

Ein Teil der Fotos darf im vorliegenden Band mit freundlicher Genehmigung der Familie Ast nun erstmals wieder veröffentlicht werden. So dokumentieren einige Abbildungen die letzten Stunden Janina Asts, während es sich bei den meisten Fotos um weitgehend unbekannte Beispiele ihrer Selbstporträts handelt, welche uns einen Menschen näherbringen, dessen Persönlichkeit uns Aufschluss geben könnte über eine Abhängigkeit, die in den letzten Jahren zunehmend Verbreitung gefunden hat.

Janina Ast begab sich bereits 2017 in eine Art therapeutische Behandlung. Allerdings handelte es sich bei dem damals einunddreißigjährigen und mittlerweile verunglückten Florian Kramer, der seinen Bildungsweg im zweiten Ausbildungsjahr seines Facharztes der Psychiatrie unterbrach, um einen selbsternannten Forscher, der in Frau Ast vornehmlich eine Interviewpartnerin zur Erschließung seiner Theorien sah, und weniger eine hilfsbedürftige Patientin. Sie hingegen, die bis kurz vor ihrem Tod noch daran festhielt, an keinem ernsthaften Problem zu leiden, ließ sich von Herrn Kramer für die insgesamt zehn Sitzungen, die vordergründig seiner eigenen Recherchearbeit dienten, monetär entlohnen. Begegnet sind die beiden sich nach bisherigem Ermittlungsstand auf dem seinerzeit sehr beliebten sozialen Netzwerk »instagreet«, auf welchem der junge Arzt auf seiner Suche schließlich Fräulein Ast traf, die unter dem Usernamen »memento1990« zu diesem Zeitpunkt noch mehrere Dutzend Selbstporträts am Tag veröffentlichte.

In dem Bemühen, die Ursachen solcher Verhaltensweisen zu begreifen, habe ich viele Weggefährten Janina Asts zu ihrer Person befragt. Ich bin keine Ärztin und keine Psychologin, interessiere mich aber für Menschen und ihre Motivationen – dabei bin ich der Überzeugung, dass ein Versuch, das Leiden der jungen Frau exemplarisch nachzuvollziehen, für ein Verständnis dieses gesamtgesellschaftlichen Problems unabdingbar ist.

Den Mitschriften meiner Gespräche sollte ein kurzer Abriss der Biographie Janina Asts vorausgeschickt werden. Die Vita knapp drei gelebter Jahrzehnte ist überschaubar und trotz oder gerade in ihrer Unentschlossenheit gradlinig: Janina Ast wurde 1990 als einziges Kind eines selbstständigen Datenbankmanagers und einer Biologielaborantin in Salzwedel geboren. Die Eltern trennten sich, als Ast neun Jahre alt war, und behielten das gemeinsame Sorgerecht. Nach ihrem sehr guten Abitur zog die junge Frau nach Frankfurt am Main, um an der dortigen Goethe-Universität zunächst Jura zu studieren. Im vierten Semester erfolgte der Wechsel zum Studium der Humanmedizin, welches sie trotz guter Ergebnisse nach dem ersten Semester abbrach, woran sich ein Neustart in Form eines Bachelorstudiums der Politikwissenschaft anschloss. Letzteres hat Janina Ast innerhalb der Regelstudienzeit erfolgreich abgeschlossen. Danach arbeitete sie für zwei Jahre in einer PR-Agentur als Assistentin der Geschäftsführung, sowie für kurze Zeit als Teamassistentin in einem Internet-Start-up-Unternehmen, das innerhalb eines Jahres aufgrund mangelnder Liquidität aufgelöst wurde.

Daraufhin begann Ast ein Masterstudium in International Management und arbeitete als wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl eines ihrer Professoren. Zum Zeitpunkt ihres Todes war sie noch für diesen Studiengang immatrikuliert, hatte allerdings seit über einem Semester nicht mehr an Lehrveranstaltungen teilgenommen.

Wie viele andere Menschen auch, war ich über den bis dato beispiellosen Todesfall erschrocken.

Wer war diese Frau, die ihren Anblick scheinbar so sehr liebte, dass er sie letztlich das Leben gekostet hat? Was bringt einen Menschen dazu, sich immer wieder selbst fotografieren zu müssen? Welches unverzichtbare Vergnügen lag in dieser Tätigkeit?

Der Textteil dieses aktualisierten Bildbandes ist in zwei Teile gegliedert.

Der erste widmet sich den Schilderungen jener Menschen, die Janina Ast am besten kannten. Auf unserer Webseite finden Sie die Original-Videoaufnahmen der von mir durchgeführten Interviews.

Der zweite Teil besteht aus verbliebenen Mitschriften der Sitzungen mit Florian Kramer. Diesem zweiten Teil werde ich an gegebener Stelle noch ein paar Anmerkungen vorausschicken.

München, im September 2025

Margot Wilhelms

Das pathologische Leiden der Bella Jolie

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