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7. Milch
ОглавлениеGondas hatte die Wagen schon wieder mit allerlei wertvollen Gütern vollgeladen: an vorderster Stelle Bernstein, große Brocken und kleinere, unbearbeitet, dazu, soviel davon Platz fanden, von den nach dem Winter wieder guten Pelzen – er schickte sich an, nach Carnuntum zu reisen, vielleicht sogar bis nach Aquileia, das würde er später entscheiden.
Gondas rief erneut die stärksten Männer der benachbarten Stämme desselben Namens, desselben Blutes im Heiligen Hain zusammen, vollgesogen mit den Prophezeiungen der Ahnen und alter Furcht. Ein abgelegener Ort, niemand störte sie hier, und die Götter waren hier besonders nahe. Natürlich würde es mehr Gewinn abwerfen, die Waren nach Aquileia zu bringen, dort kann man den Bernstein direkt an die Handwerker verkaufen, die ihn später bearbeiten. In Carnuntum bekamen sie erheblich weniger dafür, die römischen Zwischenhändler wollten ja auch etwas verdienen. Sie hatten schon einmal Bernstein nach Aquileia gebracht und waren dafür so reich belohnt worden, dass die Achsen ihrer Wagen auf der Rückreise fast gebrochen wären, sie hatten nicht nur Geld und Glasgeschirr mitgebracht, sondern auch Kupfer, Zinn und Zink, das reichte den örtlichen Meistern für Jahre, so viele Messingarmreife, Broschen, Anhänger und anderen Schmuck konnten sie daraus fertigen, mehr als es Leute gab, die Frauen und Männer schmückten sich jeden Tag mit etwas anderem.
Für Selija hatten die Meister damals ein wunderschönes Brustband gefertigt, wie sie es nur in anderen Ländern hatten kennenlernen können, aber auch von sich noch vieles hinzugefügt, sie verstanden nicht weniger von ihrem Handwerk: An den Seiten je zwei Nadeln mit einem runden, perforierten Kopf, eine für die linke, die andere für die rechte Brustseite. An den Köpfen je ein Anhänger befestigt, halbkreisförmig, ebenfalls mit einem hübschen Lochmuster. Auf der flachen Seite je fünf Kügelchen, von denen lange Ketten aus kleineren Kügelchen ausgingen, fünf an der Zahl, von unterschiedlicher Länge, die die ganze Brust bedeckten. Selija trug das Brustband, wenn sie guter Stimmung war oder auch, um zu zeigen, wer im Stamm das Sagen hatte.
Selija stand hinter einem Baum und horchte. Sie wusste, dass sie das nicht durfte, na und? Eine andere Frau mitbringen, das durfte man ja auch nicht, aber wer hörte schon auf sie? Wie sehr sie sich auch immer zu beruhigen versuchte, sie bekam eine Gänsehaut. Die Bäume rauschten irgendwie zornig, und dann war da noch diese Eule, ›U-huuu‹, wie verhext. Warum konnte sie nicht einfach still sein? Sie machte ihr Angst und störte sie beim Zuhören. Und auch die Männer wurden leiser, sie redeten weiter, aber halblaut, sodass Selija kaum noch etwas verstehen konnte.
Es werde immer schlimmer, sagte Gondas, die Germanen witterten die Händler: die Lugier, die Burgunden, die Markomannen, die Quaden – alle warteten nur darauf, die Wagen zu überfallen und die Männer zu erdolchen oder gefangen zu nehmen und den Bernstein für sich zu behalten, als hätten sie ihn selbst eingesammelt. Die Markomannen und die Quaden drangen ins Römische Reich ein, zogen mit ihren Kriegern bis nach Aquileia. Auf dem Weg dorthin traf man jetzt schon nicht mehr nur auf germanische Räuberbanden, sondern auch auf ganze, gut bewaffnete Armeen, den Bernstein und den Proviant, den sie immer mit sich führten, wollten alle. Von so einer Reise konnte man nicht nur ohne Reichtümer, sondern auch gar nicht mehr zurückkehren. Sie sollten sich besser nach Osten wenden, meinte Gondas, über die Berge ziehen, das dauere länger, mindestens fünfzig Tage in eine Richtung, aber so sei nun einmal das Leben, es lasse uns eben oft keine Wahl.
Verhandelt, abgemacht, die Trinkhörner standen bereit, mit Met gefüllt, um die Vereinbarungen zu bekräftigen.
Selija weinte, das hatte ihr gerade noch gefehlt, den Mann zu verlieren, Bentis war noch zu klein, Getier schlich um ihre Beine, im Wald funkelten die Augen der wilden Tiere, Selija rannte, so schnell die Beine sie trugen, nach Hause, völlig außer Atem.
Am Morgen kehrte Gondas müde, aber ruhig zurück – nach der Entscheidung war ihm leichter ums Herz –, er sagte Selija nur, in ein paar Tagen werde er sich mit den besten Männern auf den Weg machen. Selija weinte, bat ihn, nirgendwohin mehr zu gehen, sie hätten auch so schon genug, sogar mehr als genug.
»Was wäre ich für ein Anführer, wenn mich nicht nach mehr dürstete?«, fragte Gondas, und damit war alles entschieden.
Damit auch Selija zu wollen lernte, ließ sie Gondas zu den Wagen gehen, die die Soldaten selbst für alle Fälle abwechselnd bewachten, und sich nach Belieben zu bedienen. Gondas hatte Recht, er war nicht umsonst der Anführer, ohne Grips wird man nicht zum Besten. Zuerst nahm Selija ein paar von den allergrößten Stücken zur Hand: »Aber die kannst du dir nicht um den Hals hängen, und zum Zerteilen sind sie zu schade«, meinte Gondas. Worum es Gondas schade war, darum war auch ihr schade. So gebot es die Pflicht der Ehefrau.
›Vielleicht sollte ich ja, wenn Gondas weg ist, wieder bei der Alten mit den Wolfsbissen an einem Bein vorbeischauen, vielleicht würde sie ja etwas für Glesum zusammenbrauen, damit alles ruhig und schmerzlos vorbei wäre?‹ Später, jetzt war der Bernstein an der Reihe.
Und dann sah Selija das, was sie brauchte. Ein kleines Stück Bernstein, weiß wie Milch, auf dem Wagenboden, gut, dass sie tiefer gegraben hatte. Selija drückte ihn fest in ihrer Hand, den Tropfen, so voller Leben, die allerliebste Milch, am Rand entlang ein feiner Streifen, rot wie geronnenes Blut. Selija würde zu Handwerksmeistern gehen, sich nicht bei ihnen anstellen, das musste sie nicht, die anderen mussten warten, sie würde zu ihnen gehen und sie bitten, einen Anhänger für sie zu fertigen, mit feinen Ketten, damit sie ihn immer um den Hals tragen konnte als Zeichen – sollen die Menschen und Götter nur sehen, wer hier das Sagen hat.