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I) IM GEFÄNGNIS DES ALLTAGS

Für jeden von uns sind die Grenzen seines Denkens die Grenzen seiner Welt. Was das betrifft, leben die meisten Menschen in einer winzigen Kammer, halten diese aber für ein beeindruckendes Gebäude. Ein bedauerlicher Irrtum, aber kein grundsätzlich neuer. Er ist ungefähr so alt wie die Menschheit. Schon Plato zeigt uns in seinem berühmten Höhlengleichnis, dass wir Menschen unser ganzes Leben in einer dunklen Höhle verbringen, nämlich dort wo uns unser Denken gefangen hält. Kläglich sitzen wir all die Jahre ums Feuer gekauert. Was wir für die Wirklichkeit halten, sind nur unsere flackernden Schatten an der Wand. Mehr kennen wir nicht. Vor allem, da wir mit dem Rücken zum Ausgang der Höhle sitzen und uns nie umdrehen. Erst dann würde uns klar werden, dass wir in einem Gefängnis sitzen.

Dieser Text möchte Sie dazu einladen, sich umzudrehen.

Sind Sie nicht neugierig, wie aufregend es sein muss, plötzlich am Ausgang der Höhle zu stehen, mit blinzelnden Augen hinaus in die Welt zu blicken, zu sehen, wie sie wirklich ist?

Nun werden viele Menschen, die diese Zeilen lesen, keineswegs der Meinung sein, in einer Höhle zu leben. Sie sind erfolgreich, haben das Dasein gemeistert und ihr Leben im Griff. Ihnen kann man nichts erzählen von solchen Dingen, sie wussten immer schon, worauf es ankommt. Und wir anderen, die nicht so ganz Erfolgreichen, wir wussten es nicht?

In einer Welt scheinbar ohne materielle Grenzen, welche Generation hat solche Freiheiten genossen wie die heutige? Welche hat soviel erlebt, soviel gekauft, soviel gegessen?

Und dennoch, seien Sie ehrlich: Als die Kinder aus dem Haus waren. Ihr Mann von Termin zu Termin hetzte und Sie sich zu Hause täglich mehr gelangweilt haben, haben Sie sich da nie gefragt, ob das jetzt alles war in ihrem Leben? Was sollte denn jetzt noch kommen??

Oder die bewunderte Schauspielerin, ständig im Zentrum der Medienwelt – was ging in ihr vor, als sie auf dem Röntgenschirm den eigenen Brustkrebs beobachten konnte?

Wie war dem erfolgsverwöhnten Manager zumute, als sein Sohn tödlich verunglückte?

Was empfand die junge Millionenerbin, als sie erfahren musste, dass ihr schöner Körper mit Aids infiziert war?

Wahrscheinlich spüren die Menschen in solchen Augenblikken, wie der Boden unter ihren Füßen plötzlich ins Wanken gerät, obwohl sie glaubten, sie ständen unerschütterlich. Vielleicht kommen sie sogar für eine schreckliche Sekunde lang auf den Gedanken, sie stehen gar nicht auf festem Grund, sondern haben sich dies nur jahrelang eingebildet. In diesen Momenten wird uns klar: wenn der Druck nur groß genug ist, stürzen wir ins Bodenlose.

Und später, wenn wir uns aus dem Berufsleben verabschieden, vielleicht sogar verabschiedet werden, was kommt dann? Fragen wir uns da nicht manchmal: War das alles, mehr Geld zu verdienen als man ausgeben kann – und dann doch alt zu werden? Hilflos zusehen zu müssen, wie der Körper langsam verfällt? Die einen in einem trostlosen Heim, die anderen in einer Villa am See. Doch auch der neue Jaguar, die Finca in Mallorca, die Yacht in der Karibik, das geheime Konto in Zürich, das alles kann die Menschen nicht retten, vor dem Verfall, vor der Einsamkeit.

Und die anderen, die grauen Unbekannten in den Versicherungen, in den Ämtern und Büros, die ihr Dasein dem Schreibtisch geopfert haben – war das wirklich alles, was erreichbar war in diesem Leben?

Vielleicht hätten wir doch mehr Möglichkeiten gehabt – wenn wir uns solche Fragen schon früher gestellt hätten, nicht erst unter dem Druck einer Krise.

Ein Unbekannter hat dieses Thema in einem Toilettengraffiti gnadenlos auf den Punkt gebracht:

Fernsehen – Fressen – Autofahren Gibt es ein Leben vor dem Tod?

Vielleicht hat dieser Sprayer geahnt: Indem wir immer mehr konsumieren, Dinge, Länder oder Menschen, kommen wir dem Ausgang der Höhle nicht näher. Wir gehen nur immer weiter in ihr auf und ab. Wohin wir auch fahren, wie erfolgreich wir auch sind – unser Gefängnis nehmen wir immer mit, denn es ist in unserem Kopf. Genauer gesagt, in unserem Verstand, dem treuesten Verbündeten, den wir zu haben glauben, mit dem wir so gerne grübeln über die Welt und wie ungerecht es darin zugeht. Doch das bringt uns leider nicht weiter.

Vielleicht haben wir uns manchmal sogar Fragen über den Sinn unseres Daseins gestellt, aber keine Antwort gefunden. Das sollte uns nicht wundern, denn wir haben die Antworten mit unserem Verstand gesucht – innerhalb unseres Verstands. Das klingt nicht nur merkwürdig, es funktioniert auch nicht.

Wir haben aber doch nichts anderes als unser Denken, könnte man einwenden. Ich möchte Sie einladen, mit mir nach dem Anderen zu suchen. Es könnte uns zum Ausgang der Höhle führen.

Das Lächeln des Sisyphos

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