Читать книгу Das Lächeln des Sisyphos - Ray Müller - Страница 9

Оглавление

2) Der Mensch als Opfer – des Verstands

Diese Behauptung klingt merkwürdig, denn so fühlen wir uns nicht. Im Gegenteil, wir sind sehr stolz auf unsere Intelligenz. Wer kommt schon auf den Gedanken, dass Gedanken in gewissen Situationen eine Bürde sein können, der Verstand eine Last?

Sehen wir uns näher an, was wir darunter verstehen. Cogito ergo sum war das Motto der Aufklärung: „Ich denke, also bin ich.“ Dies bedeutet, dass unser ganzes Sein vom Denken bestimmt wird. Bis heute glauben wir das immer noch. So leben wir dann auch, Kopfgeburten auf zwei Beinen. Wir sind, was wir denken. Doch wer sich die Mühe macht, sein Bewusstsein zu beobachten, wird feststellen, dass er keine Kontrolle hat über sein Denken. Solange wir uns nicht auf eine bestimmte Sache konzentrieren, kommen und gehen Gedanken wie sie wollen.

Wer oder was denkt in uns also?

Das Gehirn, eine gallertartige Masse, ist ein außerordentlich raffiniert strukturierter biochemischer Organismus. Er besteht aus vielen ineinander vernetzten Untersystemen, die beständig interaktiv reagieren: In unserem Hirn arbeiten 100 Milliarden Neuronen, jede etwa 10 000 mal verknüpft mit 50 verschiedenen Arten von Synapsen. Die Komplexität dieser biologischen Schaltkreise überbietet jeden Computer und stellt unserem Geist Kombinationsmöglichkeiten zur Verfügung, die ins Unendliche gehen.

Schätzungen lassen vermuten, dass die Zahl der dynamischen Zustände, die durch die Wechselwirkung von 1011 Nervenzellen erzeugt werden können, die Zahl der Atome im Universum bei weitem übersteigt. (3) Die Vielzahl der Prozesse, die im Gehirn ablaufen, ist bis heute noch nicht endgültig erforscht. Eben startet eines der ehrgeizigsten und aufwendigsten Wissenschaftsprojekte aller Zeiten, das sogenannte Brain-Activity-Map Projekt. (B.A.M.). Das Mammutprogramm, das von zahlreichen öffentlichen und privaten Organisationen finanziert wird, will die Aktivität jedes einzelnen Neurons im Gehirn untersuchen. Das wird Jahre dauern und was das Ergebnis bringen wird, ist noch völlig offen.

Doch uns geht es nicht um die Architektur neuronaler Systeme. Wir wollen verstehen, warum wir tun, was wir tun, auch wenn es manchmal unsinnig ist.

Wie funktionieren zum Beispiel unsere Augen?

Pupillen sind Photolinsen, die Photonen, also Licht einlassen. Von den 80 Oktaven elektromagnetischer Schwingungen, die wir messen können, nehmen unsere Augen allerdings nur eine einzige (!) wahr. Die Information, die wir bekommen, ist also alles andere als vollständig. Dieser winzige Ausschnitt der Wirklichkeit wird dann zum Gehirn geschickt und dort zu einem Bild verarbeitet.

Hinter dieser schlichten Aussage verbirgt sich eine schokkierende Tatsache: Wir können unsere Umwelt nie direkt wahrnehmen. Die Bilder, die wir sehen, werden von unserem Gehirn konstruiert. Das heißt nichts anderes als: Die Welt, die wir wahrnehmen, machen wir uns selbst. Wie die Realität tatsächlich aussieht, werden wir nie wissen. (4)

Was wir von der Welt sehen, hören, riechen, fühlen ist das, was wir selbst erschaffen.

Von einer „objektiven Wirklichkeit“ zu sprechen, macht in diesem Zusammenhang keinen Sinn. Doch unser Gehirn stellt nicht nur die Welt dar, es speichert sie auch. Unsere Sinneseindrücke werden dort abgelegt wie in einem Archiv. Wenn wir denken, kombiniert der Verstand Teile des Archivs, setzt sie in anderer Konstellation neu zusammen, spielt mit Varianten, führt Hochrechnungen durch. Man könnte sich den Verstand als einen lebendigen Computer vorstellen, der alles speichert, was er bekommt und dann damit arbeitet oder spielt.

Was uns selten bewusst ist: Der Verstand braucht für seine Funktion die Zeit, d.h. die Vergangenheit. In der Praxis sieht das so aus: Wenn wir einem Problem gegenüberstehen, reagiert der Verstand wie jeder Archivverwalter auch: Er sucht nach Daten, die mit der Situation zu tun haben könnten, ruft also alle im Gehirn dazu gespeicherten Informationen auf. Mit diesen stellt er dann Vergleiche an, kombiniert sie neu und versucht, Lösungen vorzuschlagen. Doch hat dieses System einen Nachteil: Der Verstand reagiert auf etwas Neues fast immer mit etwas Altem. Denn er hat nichts anderes.

Deshalb sind wir so verblüfft, wenn in unserem Leben etwas ganz Unerwartetes geschieht, da fällt uns dann buchstäblich nichts mehr ein. Der Verstand findet in seinem Archiv keine Analogsituation, er kann nicht reagieren – bleibt also für einen Augenblick ruhig. Unser Denken steht still. Wir reagieren dann spontan, leicht und souverän, ohne den Ballast von alten Daten, Urteilen und Bewertungen.

Das kann auch passieren, wenn durch die unerwartete, oft auch intuitive Kombination verschiedenster Informationen im Gehirn plötzlich etwas Neues entsteht: Eine Erfindung, eine mathematische Formel, eine geniale Idee. In der Sekunde dieser Erkenntnis läuft eine Welle von Energie und Euphorie durch unseren Körper. Wir sind hellwach, kraftvoll und glücklich. Unser Verstand hat seine Arbeit getan, er schweigt. Jedenfalls denken wir ausnahmsweise nicht und wenn wir uns in diesem Moment beobachten, stellen wir fest, dass auch unser Ego verschwunden ist. Wir spüren eine ungewohnte Freiheit.

Dies sind privilegierte Momente, in denen wir nahe am Ausgang der Höhle sind, wo Leben zur Möglichkeit wird ohne Einschränkung.

(Ob diese tiefe Erkenntnis oder geniale Idee allerdings tatsächlich vom Gehirn produziert wird oder vielleicht aus dem Reservoir eines anderen Bewusstseinsraums stammt, werden wir noch untersuchen.5)

Leider sieht unser Alltag meist anders aus. Euphorie und Glücksmomente sind selten. Sehen wir uns also an, was das heißt:

Ich habe einen Verstand.

In diesem einfachen Satz liegt eine große Sprengkraft. Wenn ich einen Verstand habe, dann ist dieser etwas, das ich beobachten kann und ist damit von mir getrennt. Zum Vergleich: Wenn ich ein Auto habe, ist dieses ein Gegenstand, über den ich verfügen kann. Niemand würde auf die Idee kommen, zu sagen Ich bin mein Auto.

Doch wenn es um unsere Gedanken geht, verhalten wir uns anders. Wir identifizieren uns vollständig mit ihnen. Wäre das nicht so, könnten wir den Verstand benützen, wenn wir ihn brauchen, wären also ihm nicht ausgeliefert. Da wir es aber sind, müssen wir seine Stärken und Schwächen kennenlernen.

Werfen wir noch einmal einen Blick auf unseren Satz: „Ich habe einen Verstand.“

Wenn ich diesen Verstand habe, aber nicht bin – wer oder was bin ich dann? Bin ich mein Körper, meine Gefühle?

Was ist das überhaupt, dieses Unbekannte, das wir „Ich“ nennen?

Wer vor einem Publikum steht und die Besucher fragt: „Wer sind Sie?“ bekommt meist folgende Antwort:

„Ich heiße Brigitte Bauer, bin Angestellte, mein Mann ist bei der Allianz, ich habe zwei Kinder und ein Reihenhaus, das noch nicht abbezahlt ist.“

Die Antworten ähneln sich, die Leute erwähnen stets, was sie tun und was sie haben, aber nicht was sie sind.

Diese Frage haben sie sich nie gestellt. Doch sie ist so alt wie die Menschheit.

Schon vor über 2000 Jahren stand auf dem Orakel in Delphi die Inschrift:

WER BIST DU?

Die Antwort darauf kann ein ganzes Leben dauern.

Zu allen Zeiten haben Philosophen die Maxime „Erkenne dich selbst“ als Tor zur Erkenntnis betrachtet. Dabei geht es nicht um das „Ich“ der Psychoanalyse. Diese spricht Ebenen des Bewusstseins und der Psyche an, die wir haben. Damit variieren wir nur das Problem, kommen ihm aber nicht näher.

Der indische Weise Ramana Maharshi stellte die Frage WER BIN ICH? in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Er riet seinen Schülern, sich selbst zu erforschen.

WER ist es, der dieses Bewusstsein hat, das Fragen stellt? (6)

Die Antwort darauf enthält ein tiefes Geheimnis. Es könnte uns zum Ausgang der Höhle führen.

Darauf kommen wir noch zurück. Sehen wir uns zuerst an, wie unser Verstand im Alltag funktioniert. Dabei geht es nicht um neurobiologische Details. Wir wollen uns bemühen, zunächst ohne wissenschaftliche Fachbegriffe auszukommen und den Spielraum zu nutzen, den uns der „gesunde Menschenverstand“ zur Verfügung stellt.

Untersuchen wir also, was die Gedanken mit uns machen, solange s i e unser Leben bestimmen und nicht wir. Wer sich darüber klar ist, wie sehr Sorgen und Ängste unser Leben verdüstern, weiß, wovon wir sprechen. Die meisten von uns haben nämlich keinen Verstand, sondern sind ihr Verstand. Damit sind sie ihren Gedanken hilflos ausgeliefert.

VIDEO 1

Als Laotse die Schalterhalle der Chase Manhatten Bank in der Fifth Avenue betritt, werfen sich die beiden uniformierten Sicherheitsbeamten alarmierte Blicke zu. In gleichzeitigem Einverständnis legen sie die rechte Hand auf den Revolver am Gürtel, um sich zu vergewissern, dass die Welt noch in Ordnung ist. Verständlich, denn diese lange, hagere Gestalt, die gerade durch die Drehtür schreitet, ist nur in ein weißes Tuch gehüllt.

Dies ist auch in New York eine merkwürdige Erscheinung, vor allem im Winter.

Laotse hat seinen Motorradhelm unter den Arm geklemmt, aus dem Kopfhörer des Smartphone, der fast ganz unter den langen, schneeweißen Haaren verschwindet, dröhnen rhythmische Bässe. Ist es das merkwürdige Lächeln auf dem Gesicht des Alten, ist es der lange, weiße Bart, ist es die Ruhe in der Energie der Bewegung, irgendetwas macht die beiden Wachposten stutzig, ohne sie jedoch wirkliche Gefahr wittern zu lassen.

Laotse scheint weder das Erstaunen der Sicherheitsbeamten noch die neugierigen Blicke der vorbeieilenden Geschäftsleute zu bemerken. In seinen abgetretenen Sandalen wandelt er gemächlich über den eleganten Marmorboden der Schalterhalle, in der rechten Hand eine bunte Plastiktüte.

Der junge Mann mit der bunten Krawatte hinter Schalter 7 erlaubt sich einen höflich erstaunten Blick. Doch Laotse ist nicht in Eile. Gelassen nimmt er den Kopfhörer ab, legt das pinkfarbene Smartphone auf den Tisch, holt einen Double-Cheeseburger aus der Plastiktüte und beißt herzhaft hinein. Dann murmelt er mit vollem Mund:

Habt ihr hier auch Optionsscheine auf asiatische IT-Werte?

Der junge Mann hinter dem Schalter hebt die Augenbrauen.

Sie wollen ein Börsengeschäft tätigen?

Laotse schluckt deutlich hörbar seinen Bissen hinunter.

Klar, aber ohne daytrading. Keine Derivate.

Und schon gar keine suprime-papers.

Saubere puts und calls über mindestens 6 Monate.

Sein Gegenüber sieht ihn entgeistert an. Laotse beugt sich vor und zieht dem jungen Mann die Krawatte zurecht, die etwas verrutscht war. Dann lächelt er fröhlich.

Und natürlich keine Swaps.

Irritiert beugt sich der Mann vor.

Keine was?

Laotse lächelt milde.

Swaps, sagte ich doch. Ich habe keinen Bock auf Poker mit Wechselkurseffekten.

Der Schalterbeamte wendet sich ab und tippt etwas in den Computer, als wäre das jetzt unumgänglich.

Selbstverständlich. Verstehe.

Laotse senkt die Stimme.

Das Ganze natürlich erstmal auf Kredit.

Der junge Mann lehnt sich zurück.

Haben Sie Wertpapiere, Immobilien – Sicherheiten?

Laotse kann ein Lachen nicht unterdrücken.

Sicher ist nur, dass wir beide sterben werden, junger Mann.

Er beißt noch einmal herzhaft in seinen Double-Burger, wobei er im letzten Moment geschickt verhindert, dass ein größerer Schwall von Ketchup auf die Marmorplatte tropft.

Einen Augenblick ist Stille im Raum. Dann beugt sich der Bankangestellte vor und wirft einen Blick auf die nackten Füße des Alten.

Für einen Gespräch mit unserem Kreditmanager sind Sie wohl kaum zeitgemäß gekleidet.

Zeitgemäß ?

Mit einer schnellen Geste knallt Laotse seinen Motorradhelm auf die Platte, der Schalterbeamte kann gerade noch seine Hände in Sicherheit bringen. An der Stirnseite des weißen Helms klebt ein leuchtend roter Aufkleber: E = mc2.

Gekrümmte Zeit – das Geilste, was das letzte Jahrhundert an Ideen hervorgebracht hat.

Der starre Blick des Schalterbeamten wandert von der roten Leuchtschrift zu einem großen Klecks Ketchup gleicher Farbe, der eben auf den weißen Marmor getropft ist.

Ich bring ’nen Rap-Song über die Story raus. Wenn der in

den Charts ist, hat den alten Einstein endlich jeder im Ohr.

Und von dort zum Gehirn ist es ja nur noch ein kleiner

Schritt. Sozusagen ein halber Quantensprung.

Aus dem Mund des ehrwürdigen Alten ertönt jetzt ein röhrendes Lachen.

Der junge Mann blickt immer noch gebannt auf den Ketchupfleck. Dann wandern seine Augen wieder hoch zu dem Motorradhelm mit der mathematischen Formel.

Sorry, Sir – aber was soll das alles?

Für einen langen Augenblick sehen sich die beiden stumm an. Dann nimmt Laotse blitzschnell den Helm in beide Hände und stülpt ihn dem Schalterbeamten über den Kopf.

Passt. Weil auch dein Kopf rund ist.

Der Mann springt hoch. Seine weit aufgerissenen Augen leuchten unter dem Visier des Helms. Laotse beugt sich vor und flüstert.

Und warum ist unser Kopf rund?

Damit wir beim Denken öfters die Richtung ändern.

Bei diesem Satz drückt der entsetzte Schalterbeamte auf den Alarmknopf.

Um umzudenken, müssen wir verstehen, warum das nötig ist. Wir müssen uns ansehen, wie der Verstand, auf den wir so stolz sind, uns immer wieder in Schwierigkeiten bringt.

a) Mensch ärgere dich nicht – unser Lieblingsspiel

Der Mann, der dieses beliebte Familienspiel erfunden hat, muss ein intimer Kenner der menschlichen Psyche gewesen sein. Seine Aufforderung klingt wie ein ironischer Aphorismus, wissen wir doch sehr wohl, dass Ärger ein fester Bestandteil unseres Lebens ist. Sich nicht zu ärgern, scheint ein unmögliches Unterfangen zu sein.

Das beginnt am frühen Morgen mit der störrischen Milchtüte, die die frisch gereinigte Bluse ruiniert oder mit dem Autoschlüssel, der sich immer dann versteckt, wenn wir es besonders eilig haben. Es geht weiter mit der Suche nach einem Parkplatz, und dem Anblick der Kollegin im Lift, die dasselbe Kleid aus demselben Sonderangebot trägt. Im Büro ärgern wir uns dann natürlich weiter, über die Launen des Chefs, den frechen Ton der jungen Kollegin, die unmöglichen Termine und die unbezahlten Überstunden.

Auch abends spielen wir gerne. Wir ärgern uns über die dröhnende Partymusik aus der Nachbarwohnung, über die Tochter, die wortlos die Tür hinter sich zuknallt, über die erotische Pflichtübung eines müden Ehepartners oder sein ungerührtes Schnarchen danach. Unser Lieblingsspiel hat Varianten von bestechender Vielfalt.

Wir spielen es von dem Augenblick an, wo wir aufwachen bis zu dem Moment, in dem wir einschlafen. Gab es diese Woche einen Tag, an dem Sie sich nicht geärgert haben?

Ärger scheint zum Leben zu gehören wie das tägliche Brot. Warum eigentlich?

Sehen wir uns dieses merkwürdige Phänomen genauer an. Wenn wir eine Reihe beliebiger Beispiele für Ärger betrachten, fallen uns zwei Dinge auf:

-Es gibt immer einen Anlass, der den Ärger auslöst.
-Ärger bezieht sich immer auf etwas, das bereits Vergangenheit ist.

Dies zeigt uns, dass Ärger mit der Zeit zu tun hat. Etwas ist passiert und wir ärgern uns darüber. Nachher – denn Ärger ist immer eine Reaktion.

Es gibt Leute, die im Stande sind, sich über etwas zu ärgern, das vor Tagen passiert ist oder gar vor Wochen. Ob der Vorfall eine Minute, eine Stunde oder einen Monat zurückliegt, ist belanglos. Selbst wenn wir glauben, wir ärgern uns jetzt, ist der Anlass in diesem Augenblick schon vorbei.

Stellen Sie sich vor, Ihr Chef stürzt ins Zimmer, macht eine bissige Bemerkung und knallt die Tür dann hinter sich zu. Auch wenn er stehen bliebe – der Satz, der Sie provoziert hat, ist bereits gesagt. Er ist Vergangenheit. Was im Augenblick des Ärgers spontan in uns hochkommt, bezieht sich also auf etwas, das nicht mehr existiert, das unser Ärger auch nie mehr einholen kann. Ärger kommt immer zu spät.

Eine Reaktion, die immer zu spät kommt und außerdem am Geschehen nichts mehr ändern kann, ist ziemlich sinnlos, nicht wahr?

Die andere Voraussetzung für Ärger ist der Anlass – also etwas, das den Ärger in uns hervorruft. Deshalb empfinden wir Ärger als ganz natürliche Reaktion, wird er doch von Menschen oder von Ereignissen in der Außenwelt provoziert. Nicht wir sind schuld an unserem Ärger, schuld sind immer die anderen.

Und weil das so ist und wir nicht anders können, ärgern wir uns immer weiter. Wir leben in einem geschlossenen Kreislauf von Ursache und Wirkung, von Anlass und Ärger. Wie Ratten im Käfig reagieren wir auf ein bestimmtes Signal immer gleich. Wollen wir versuchen, etwas weniger Ratte und etwas mehr Mensch zu sein, müssen wir uns ansehen, wie der Mechanismus von Ärger in uns funktioniert.

Meist sprechen wir über Ärger so:

Das ärgert mich / Du ärgerst mich

Doch sobald wir den Vorgang anders ausdrücken, wird deutlich, was tatsächlich passiert:

Etwas ist geschehen.

Meine Reaktion ist Ärger.

Dies sind zwei verschiedene Sätze, also auch zwei verschiedene Abläufe! Es gibt einen Vorfall und eine Reaktion, zwei voneinander unabhängige Ereignisse.

Unser Verstand formuliert das allerdings anders. Er verkürzt beide Aussagen zu einer und suggeriert einen Zusammenhang.

„Er hat mich beleidigt, deshalb bin ich wütend“

„Ich ärgere mich, weil du schon wieder zu spät kommst“

Damit verknüpft er Tatbestände, die nichts miteinander zu tun haben, sich jetzt aber kausal bedingen. Er suggeriert eine Illusion von Ursache und Wirkung.

In der Realität sieht das Ereignis allerdings so aus:

Du hast etwas gesagt/getan

Ich ärgere mich

Nun gibt es zwischen den beiden Sätzen keine kausale Verbindung mehr. Jetzt erkennen wir auch, was wirklich geschieht: Niemand verursacht unseren Ärger, wir tun es selbst.

Sobald wir die falsche Verknüpfung weglassen, verändert sich etwas Grundlegendes: Wir sind nicht länger in der Rolle des Opfers, sondern selbst verantwortlich für unser Handeln. Nun können wir es auch selbst bestimmen.

Eine schöne Theorie, könnte man sagen, doch was bringt sie? Ärger ist doch ein automatischer Reflex, dagegen kann man nichts machen. Von der Energiewelle, die plötzlich in uns hochkommt, werden wir buchstäblich überrollt. Richtig – und genau das ist der Punkt: Sie kommt in uns hoch.

Es ist ein Vorgang innerhalb unserer eigenen Psyche.

Sind wir denn nicht verantwortlich für das, was in uns geschieht? Wer sollte es sonst sein? Es müsste sich dann tatsächlich die unsichtbare Hand eines Anderen zu unserer Psyche vortasten und dort den inneren Schalter auf die Position ÄRGER stellen.

Das ist offensichtlich Unsinn. Die Hand, die den Schalter auf Ärger stellt, ist meine eigene. Der Einzige, der in mein Inneres vordringen kann – bin ich selbst. Nun gut, dann ärgern wir uns eben selbst. Aber schuld daran sind dennoch die anderen.

Doch auch dies ist eine Falle des Verstands, diesmal täuscht er uns mit einer neuen Illusion: Die Vorstellung, es gäbe nur diesen einen Schalter. Damit sind wir in der gleichen Sackgasse: Wir haben keine Wahl und bleiben Opfer.

Das muss nicht so sein. Wir können nämlich den Inhalt unseres Satzes Du ärgerst mich noch weiter zerlegen:

Etwas ist geschehen.

Ich reagiere – mit Ärger

Wenn wir die letzte Zeile einen Augenblick betrachten, kommt uns vielleicht der Gedanke, dass wir auch mit etwas Anderem reagieren könnten. Vielleicht mit einem Lächeln.

Oder nur damit, dass wir das Ereignis sachlich zur Kenntnis nehmen. Weiter nichts.

Der Mechanismus von Ärger könnte dann so ablaufen:

Es ist etwas geschehen

Ich wähle eine Reaktion: Ärger / Lachen / Ignorieren /

Vergessen

Damit ist etwas grundsätzlich Neues entstanden: Wir haben eine Wahl! Nun sind wir verantwortlich für unsere Reaktion. Als Subjekt kann ich wählen, was ich will, als Objekt bleibt mir nur eine Rolle – die des Opfers, und nur ein Spiel – der Ärger.

Wenn uns bewusst wird, dass am Schaltpult unserer Psyche tatsächlich Knöpfe sind, die wir frei wählen können, sind wir auf dem Weg, unser Leben selbst in die Hand zu nehmen. Sie tun jetzt, was S i e wollen und nicht das, was Ihr Ärger will!

Sobald wir uns darüber klar sind, wie dieser Mechanismus funktioniert, werden wir feststellen, dass wir als Reaktion immer seltener Ärger wählen. Ganz einfach weil er nichts bringt. Und weil uns bewusst wird, was uns diese Wahl kostet.

Wenn wir ganz nüchtern die negativen Situationen betrachten, die wir durch Ärger oder Wut verursacht haben bzw. die guten Momente, die wir dadurch zerstört haben, wird uns klar, welchen Preis wir im Leben für Ärger bezahlen.

In solchen Situationen kämpfen wir nicht nur gegen unser äußeres Umfeld, sondern auch gegen uns selbst – und zwar mit enormem Aufwand. Wer jemals einen Menschen beobachtet hat, der so richtig wütend war, weiß, welche erstaunlichen Energien dabei freigesetzt werden.

Wer nun glaubt, dies alles sei viel zu theoretisch und im rauen Alltag nicht durchführbar, sollte einfach warten – auf den nächsten Ärger. Er kommt bestimmt. Wenn die Gelegenheit da ist, versuchen Sie auf keinen Fall, sich nicht zu ärgern. Das funktioniert nicht. Kämpfen Sie auch nicht gegen den Ärger an, das würde nur dazu führen, dass Sie sich über den Ärger ärgern. Beobachten sie nur, was in Ihnen vorgeht.

Sehen Sie die Energiewelle einfach an, so wie sie ist. Sie spüren, wie ihr Herz schneller schlägt, wie es Ihnen heiß im Gesicht wird, wie Sie die Fäuste ballen – interessante Phänomene, nicht wahr? Wenn wir das kühl feststellen, haben wir bereits die Distanz des Beobachters übernommen und sind nicht mehr direkt betroffen. Nun können wir gelassen zusehen, wie dieser Prozess in uns abläuft, welche Mechanismen unsere Psyche steuern.

Ein gutes Übungsfeld, in dem unser Ego besonders verwundbar ist, kennen wir: Der Straßenverkehr. Stellen wir uns also vor, wir fahren entspannt auf der mittleren Spur einer Autobahn. Plötzlich taucht einer dieser dynamischen Luxuslimousinen im Rückspiegel auf. Der Fahrer blinkt schon von weitem, rast vorbei und zieht dann hart nach rechts auf unsere Spur. Kurz gesagt, der Idiot schneidet uns brutal. Sofort spüren wir eine heiße Energiewelle, unsere Wut. Sie schießt vom Bauch hoch in den Magen, von dort rast sie weiter ins Gehirn.

Und jetzt? Wir erinnern uns an unsere Überlegung und halten eine Sekunde inne. Dabei beobachten wir, was passiert und entscheiden, den Schalter unserer Psyche auf IGNORIEREN zu stellen. Sozusagen als Test, auch wenn unser Ego noch so zappelt und protestiert.

Sobald wir das tun, werden wir feststellen: Die Wut löst sich schnell wieder auf. Wir werden uns kraftvoll fühlen und vielleicht sogar lächeln. Es wird das Lächeln eines Menschen sein, der die Freiheit besitzt, zu handeln wie e r will, nicht wie sein Ärger will.

Wenn wir das üben, hat das Konsequenzen. Unser Verhalten wird sich ändern, nicht nur auf der Autobahn. Unser ganzer Alltag kann sich verwandeln, weil wir uns verwandelt haben.

Doch niemand ist perfekt, Rückschläge sind unvermeidlich.

Trotz bester Vorsätze haben wir eines Tages das Pech, eine gewaltige Beule in den neuen Wagen zu fahren. Das ist nun wirklich sehr ärgerlich, da kann uns auch die schönste Theorie nicht trösten. Darüber ärgern wir uns dann auch noch. Und schon sind wir wieder im alten Fahrwasser. Doch plötzlich halten wir inne, uns wird klar, was hier abläuft. Dann handeln wir entsprechend. Als Reaktion wählen wir, den Unfall sachlich zur Kenntnis zu nehmen. Nicht mehr und nicht weniger. Die Reparatur wird dadurch weder teurer noch billiger. Aber wir sparen eine Menge Energie. Das spüren wir, schon fühlen wir uns wieder ganz gut, trotz der Beule im neuen Wagen.

Wenn wir den Vorfall dann beim Abendessen unserer Frau erzählen, wird diese vielleicht erstaunt feststellen, dass wir darüber lachen.

Menschen nehmen genau wahr, wenn ihr Gegenüber anders reagiert als gewöhnlich. In Augenblicken, in denen bisher nur vorhersehbare Rituale abliefen, entsteht plötzlich eine Öffnung. Sie schafft Freiräume, die vorher nicht denkbar waren.

Lassen wir unsere Phantasie spielen, es gibt erstaunlich viele Varianten, Ärger durch andere Reaktionen zu ersetzen. Dabei können sich Möglichkeiten eröffnen, von denen wir bisher nichts ahnten.

b) Sorgen und Ängste

Menschen sind merkwürdige Wesen. Beobachtet man Exemplare dieser Spezies, wenn sie erregt miteinander diskutieren, fällt auf, dass es meist um Dinge geht, die vor kurzem passiert sind oder die bald, allerdings nur vielleicht, passieren könnten. Über die man sich aber am besten schon jetzt aufregt, als hätte man Angst, später für die Aufregung keine Zeit mehr zu haben. Genauso ist es.

Ärger bezieht sich auf Vergangenes, Sorgen und Ängste haben mit der Zukunft zu tun. Erinnern wir uns an unsere letzte Prüfung. In der Fahrschule, beim Abitur, an der Universität. Schon lange vorher waren wir aufgeregt und nervös. Bei einem wichtigen Examen können manche Menschen Wochen vorher nicht mehr richtig schlafen, andere steigern sich in eine Neurose, die das Examen ernsthaft gefährdet. Aber wenn es dann wirklich soweit ist, in der entscheidenden Stunde, haben wir dann immer noch Angst? Wie war es bei den Prüfungen in der Schule? Sobald die Blätter mit den Fragen verteilt waren, wurden wir da nicht ganz ruhig, meist sogar eiskalt? Ganz unabhängig davon, ob die Fragen schwer oder leicht waren, ob wir die Antwort wussten oder nicht – in dem Moment, in dem wir handeln müssen, handeln wir. Für Angst ist dann keine Zeit mehr.

Angst und Sorgen sind Gefühle, die sich auf zukünftige Ereignisse beziehen.

Werde ich die Operation überstehen?

Wird die Tochter von der Reise gesund zurückkommen?

Wird meine Frau erfahren, dass ich eine Affäre habe?

Solche Ängste kennen wir.

Doch wenn das Ereignis dann wirklich da ist, haben wir dann immer noch Angst? Nein – denn jetzt reagieren wir – wie immer es die Situation erfordert.

Wenn ein wütender Grizzly oder ein eifersüchtiger Taliban auf Sie zukommt, haben Sie keine Zeit für Sorgen oder Ängste, denn dann müssen Sie handeln.

Was bringt uns dieser Gedanke für den Alltag? Da quälen uns Ängste doch ständig, immer wieder machen sie uns das Leben schwer.

Stellen Sie sich vor, Sie sind in einer fremden Stadt. Es ist spät nachts, Sie gehen durch ein düsteres Viertel. Die Straßen sind dunkel und verlassen, in den Häusern ist kaum noch Licht. Sie sind nicht einmal sicher, wo Sie jetzt sind. Nun bekommen Sie Angst. Das scheint ganz natürlich zu sein, vor allem, wenn Sie eine Frau sind.

Sehen wir uns an, was dabei wirklich passiert: Der Verstand fängt an, uns schreckliche Bilder vorzuspiegeln – von Dingen, die geschehen könnten. Vielleicht im nächsten Augenblick, oder erst in fünf Minuten, auf jeden Fall aber in der Zukunft – denn bis jetzt ist ja nichts passiert. Wir gehen friedlich spazieren und haben Zeit, uns Gedanken zu machen, also Zeit, Angst zu haben. Dann werden die Phantasien noch schlimmer.

Plötzlich läuft in Ihrem Gehirn ein ganzer Film ab, lauter schrecklicher Szenen: Sie werden überfallen, ausgeraubt, vergewaltigt.

Der Körper reagiert auf diese Bilder und zwar so, als wären sie real. Sie bekommen einen Schweißausbruch, das Herz schlägt wie wild, Sie geraten in Panik. Schuld daran ist aber nicht die Situation, in der Sie sind, denn es ist ja gar nichts passiert.

Sie gehen weiterhin unbelästigt durch die dunkle Gasse.

Es ist der F i l m in unserem Kopf, der uns in Panik versetzt, nicht die Wirklichkeit. Diese bietet keinerlei Grund zur Beunruhigung. Der einzige Anlass für die Angst sind die Schreckensbilder, die in unserem Gehirn aufflackern. Doch diese sind nicht wirklich, sie sind – ein Trick des Verstands.

Wenn nun aber tatsächlich eine dunkle Gestalt auftaucht und uns belästigt? Dann werden wir handeln – schreien, weglaufen, uns wehren. Es bleibt keine Zeit, Angst zu haben. Im gegenwärtigen Moment kann Angst nicht existieren.

Unter diesen Umständen wäre es doch sinnvoller, unbelastet durch die dunkle Gasse zu gehen. Sie haben sicher mehr Spaß an Ihrem Spaziergang. Wenn Sie überfallen werden, reagieren Sie ohnedies so, wie Sie dann eben regieren. Ob Sie vorher Angst gehabt haben oder nicht, ändert gar nichts. Dieses überflüssige Gefühl könnten wir uns also sparen, da es nichts bringt.

Im Gegenteil: Ein potentieller Angreifer ist eher gewillt, auf eine Person loszugehen, die ängstlich und zitternd vor sich hinstolpert, als auf jemanden, der fest und entschlossen einherschreitet.

Angst bringt nichts, aber trotzdem haben wir sie und lassen uns von ihr quälen.

Wer nun einwendet, Angst sei eine sinnvolle Reaktion, um negative Erfahrungen zu vermeiden, verwechselt Angst mit Vorsicht. Denn es gibt einen Unterschied: Vorsicht lässt uns nicht leiden, davon bekommen wir weder Schweißausbrüche, noch Herzklopfen. Vorsicht ist eine normale Haltung, der Körper reagiert darauf nicht. Nur der Horrorfilm, den uns der Verstand vorspielt, löst Panik aus. Unsere Psyche kann fiktive Wirklichkeit nicht von realer unterscheiden, sie reagiert einfach. Das einzige Werkzeug zur Überprüfung von Wirklichkeit, das wir haben, ist der Verstand. Doch gerade er ist es, der uns mit falschen Bildern täuscht. Was also können wir tun?

Aus Erfahrung wissen wir, dass uns Angst in manchen Situationen einfach überfällt. Der Verstand spult seine Bilder ab, ohne uns zu fragen. Wir scheinen unseren Ängsten völlig ausgeliefert zu sein. Sehen wir uns an, wie wir uns auch hier wieder von unseren Gedanken und ihren Formulierungen täuschen lassen. Das Gefühl von Angst formulieren wir so

Wir haben Angst

Aber so verhalten wir uns nicht. Die Wirklichkeit sieht anders aus:

Die Angst hat uns

Sie hält uns fest, nimmt uns die Luft, hat uns in der Hand.

Ein erster Schritt, mit Angst umzugehen, könnte also sein, wieder verantwortlich zu werden.

Ich habe Angst. (Es ist so, ich akzeptiere das einfach.)

Das ist keineswegs ein banaler Trick. Wenn wir Angst akzeptieren (dieses Schlüsselwort wird uns noch öfters begegnen), dann haben wir sie einfach. So wie andere Leute eine Warze haben.

Denn genau das ist der Unterschied: Ein Mensch, der eine Warze hat, lässt sein Leben nicht von dieser Warze bestimmen. Er handelt, wie e r will – nicht wie die Warze will.

Wenn wir akzeptieren, dass wir in manchen Situationen Angst haben, dann haben wir sie eben! Wichtig ist, dass wir weiterhin so handeln, wie w i r wollen, nicht wie unsere Angst es will. Damit geschieht etwas Überraschendes: Wir werden langsam frei – von dieser Angst. Zwar ist sie noch da, sie behindert uns aber nicht mehr. Wir nehmen sie jetzt einfach mit, wie einen Rucksack. Wir gehen hin, wo wir wollen, nicht wohin der Rucksack will. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Vorher bestimmte die Angst die Richtung und wir waren der Rucksack. Wenn wir uns daran gewöhnt haben, Angst zu akzeptieren, können wir handeln – als hätten wir keine.

Wenn wir den psychischen Mechanismus von Angst durchschauen wollen, müssen wir die Situation wahrnehmen, wie sie wirklich ist. Wenn Sie also wieder einmal Angst haben, beobachten Sie, was in diesem Augenblick tatsächlich passiert. Unterscheiden Sie zwischen den künstlichen Bildern in Ihrem Kopf und der Realität, in der Sie sich befinden.

Dafür müssen wir nicht unbedingt nachts allein durch den Wald gehen. Ängste beherrschen unseren ganz normalen Alltag. Manche Leute haben Angst, jemanden anzusprechen, andere wagen es nicht, dem Chef die Meinung zu sagen, andere wiederum haben Angst, Beziehungen zu beenden und dem Partner die Wahrheit zu sagen. Gelegenheiten gibt es genug. Die Mechanismen, die Ängste und Sorgen auslösen, funktionieren immer gleich. Deshalb genügt es, wenn wir in solchen Momenten genau beobachten, was wirklich geschieht – jetzt.

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Eisenbahnabteil und lesen Zeitung. Wie so oft, wandern Ihre Gedanken zu allen möglichen Dingen, die mit der eigentlichen Situation nichts zu tun haben. Besonders gerne kreisen sie um Sorgen und Ängste. Vielleicht spielt Ihnen der Verstand immer wieder den Film eines Ereignisses vor, über das sie sich kürzlich so geärgert haben. Oder die Bilder einer Situation, vor der Sie Angst haben. Eine Aussprache mit Ihrem Mann, ein Besuch beim Arzt, die Konfrontation mit dem Personalchef. Ob im Zug oder Auto, die Gedanken sind immer woanders.

Doch es gibt eine Lösung: Wenn wir das Leben wahrnehmen, wie es wirklich ist, jetzt, in diesem Moment, werden wir erstaunt feststellen, dass es jetzt nichts, aber auch gar nichts gibt, was Sorge oder Ärger verursachen könnte.

Wir sitzen gemütlich in unserem Abteil, aus dem Radio klingt Musik, die alte Dame gegenüber putzt ihre Brille, der Kaffee im Plastikbecher vibriert und die Zeitung auf unseren Knien rutscht langsam zu Boden. Alles nicht besonders aufregend.

Was also wirklich passiert, ist dies: Wir sitzen im Zug und bewegen uns fort. Das ist alles – das ist die einzige Wirklichkeit. Sie ist real spürbar. Wir können die Häuser draußen vorbeiziehen sehen, fühlen die Wärme des Kaffees in unserer Hand, das Papier der Zeitung in der anderen. An den Füßen spüren wir den warmen Luftzug der Heizung, unter uns die bequemen, aber etwas zu weichen Polster des Abteils. Es riecht leicht nach Parfum, denn jetzt hat die Dame gegenüber ein Erfrischungstuch aus der Tasche geholt. Das ist Realität in diesem Augenblick. Wir können sie sinnlich wahrnehmen.

Wo aber sind Ängste, Ärger und Sorgen geblieben?

Sobald wir beobachten, was wirklich i s t, sind sie verschwunden. Die ins Gehirn gespulten Szenen aus der Vergangenheit (Ärger) oder Projektionen aus der Zukunft (Sorge) werden erkannt, als das was sie sind: Phantasiebilder, die mit unserer gegenwärtigen Situation nichts zu tun haben, diese aber sinnlos belasten.

Illusionen eben – Kopfgeburten des Verstandes.

Diese kleine Übung zeigt uns, wie leicht sich Problemberge, die uns manchmal fast erdrücken, in Luft auflösen können. Wenn wir es wollen. Wie frei könnten wir sein, wenn es uns gelänge, ganz in der Gegenwart zu leben, unbelastet von Vergangenheit und Zukunft? (7)

Doch wir haben nun einmal unseren Verstand und damit auch die Fähigkeit zur Imagination und Phantasie. Diese eröffnen uns faszinierende Möglichkeiten und sind die Grundlagen unserer Kreativität, können uns aber auch sehr quälen. (Wer jemals Depressionen hatte, weiß, wie zerstörerisch negative Gedanken sein können.) Deshalb müssen wir erkennen, wie der Verstand funktioniert. Wir müssen seine Manipulationen verstehen, erst dann haben wir die Chance, sein Potential sinnvoll zu nutzen.

c) Ein Problem – was ist das?

Probleme sind etwas, das wir haben, solange wir leben. Sie beschäftigen uns so sehr, dass wir darüber oft und lange nachdenken. Wenn wir dabei besonders viel Energie verbrauchen, nennen wir den Vorgang grübeln.

Es gibt Menschen, die Tag und Nacht über komplizierte Probleme nachdenken, die sich ihren Kopf darüber buchstäblich zerbrechen. Ihre Gesichter haben einen sehr ernsten, vom Gewicht des eigenen Problembergs gezeichneten Ausdruck. Für Heiterkeit ist unter solchem Druck kein Platz. Die ganze Kraft dieser Leute scheint sich ganz im Grübeln zu erschöpfen. Schade, denn gerade das bringt nichts.

Grübeln ist eine Illusion, die vortäuscht, wir würden uns mit dem Problem beschäftigen. Das hat einen Haken. Ein Problem lösen wir nicht durch grübeln, sondern indem wir es anpacken, also handeln.

Wer im Schwimmbad auf dem 10m Turm steht und überlegt, ob er springen soll oder nicht, wird der Lösung dieses Problems nicht näher kommen, wenn er dort oben eine Stunde grübelt. Zwar könnte er die Aufprallgeschwindigkeit seines Körpers berechnen und die Zeit, die er im freien Fall verbringt, wie tief er eintauchen wird und wie lange er dann die Luft anhalten müsste. Doch werden solche Überlegungen seine Entscheidung erleichtern? Sicher nicht. Diese Situation ist allein durch Handeln zu lösen, durch Aktion im gegenwärtigen Augenblick.

Entweder der Mann springt oder er steigt wieder herab. Beide Handlungen lösen das Problem. Oben zu stehen und zu grübeln, löst das Problem auf keinen Fall, selbst wenn der hartnäckige Denker dort tagelang ausharren würde.

Vielleicht ist uns bei diesem Beispiel aufgefallen, dass hier wieder der Faktor Zeit ins Spiel kommt. Der Mann auf dem Sprungturm kann sein Problem nur lösen, indem er handelt und zwar jetzt, in der Gegenwart. Damit ist das Problem gelöst.

Für jemanden, der in einer Situation sofort, also spontan und intuitiv handelt, taucht es gar nicht auf. Erst wenn er sein Tun in die Zeit verlagert, nämlich in die Zukunft indem er grübelt „Soll ich oder soll ich nicht?“ – wird aus einer Entscheidung ein Problem. Dabei spielt oft Angst eine wichtige Rolle, doch auch dieses Gefühl ist, wie wir gesehen haben, an die Zukunft gekoppelt.

Natürlich spricht nichts dagegen, sich die Folgen einer möglichen Handlung zu überlegen. Das kann durchaus Vorteile haben. Wir können damit Problemlösungen im Kopf durchspielen, ohne alle Varianten in der Realität ausprobieren zu müssen. Im Bereich der Technik haben Computersimulationen den Bau aufwendiger Modelle und langwierige Versuchsreihen überflüssig gemacht. Menschen hatten schon immer die Fähigkeit, sich Ereignisse gedanklich vorzustellen und Reaktionen mental zu simulieren.

Im Überlebenskampf der Evolution war das ein enormer Vorteil. Doch wie jede Fähigkeit birgt auch diese die Gefahr des Missbrauchs. Wohin das führt, wissen wir: Zu Phänomenen wie Angst und Ärger – oder eben das Grübeln über Probleme, die erst entstehen, weil man nicht handelt, sondern grübelt.

Was also ist ein Problem?

Probleme sind Kopfgeburten unseres Verstandes. Sie sind nicht real, existieren nicht in der wirklichen Welt wie ein Apfel, ein Stein oder ein Vogel. Dennoch belasten uns diese Phantasiegebilde enorm.

Nun könnte man einwenden, dass es durchaus Probleme gibt, die sehr real sind: Die frisch geschiedene Ehefrau, die neben ihrer Arbeit plötzlich drei Kinder erziehen soll, die kranke Rentnerin, der die Wohnung wegen Luxussanierung gekündigt wird, der arbeitslose Familienvater, der zum Alkoholiker wird, der Flüchtling, der mit seiner Familie in ein Krisengebiet abgeschoben werden soll – sie alle haben sehr reale Probleme.

Doch Vorsicht: Wir dürfen Probleme nicht mit Schwierigkeiten verwechseln. Schwierigkeiten sind Teil des Lebens, damit müssen wir uns abfinden. Unser Dasein ist zweipolig: Tag und Nacht bedingen einander, ebenso wie plus oder minus, leicht und schwer, gut oder schlecht.

Schwierigkeiten werden wir also immer begegnen, mit ihnen müssen wir uns auseinandersetzen. Das bedeutet aber nicht, sie zum Problem zu erklären, endlos darüber nachzugrübeln oder sich permanent darüber zu ärgern.

Damit vergeuden wir nur unsere Kraft, die Schwierigkeiten aber werden nicht beseitigt.

Geht es hier nur um Wortklauberei? Der Unterschied zwischen Hindernissen und Problemen ist derselbe, wie zwischen Denken und Grübeln. Das eine macht Sinn, das andere nicht. Schwierigkeiten werden wir immer wieder haben, unser ganzes Leben ist ein Hindernislauf. Ob uns das passt oder nicht, ist dem Leben egal.

Ein Hindernis zu überwinden, bedeutet, ihm entweder auszuweichen oder die Ärmel hochzukrempeln, um es zu beseitigen. Es bedeutet handeln und nicht grübeln. Natürlich kann diesem Handeln oft ein rationaler Denkprozess vorausgehen, der entscheidet, welche Aktion der Situation angemessen ist. Das ist völlig normal, damit nutzen wir nur unsere Fähigkeit, die Konsequenzen einer möglichen Handlung virtuell durchzuspielen.

Erst wenn sich die Gedanken im Kreis drehen und sich zu einer endlosen Spirale verknoten, entsteht ein Problem. Nun fangen wir an zu grübeln und stehen ratlos da wie der Mann auf dem Sprungturm. Dabei sind wir mit unseren Überlegungen nur noch zu keinem Ergebnis gekommen. Das ist alles.

Wenn wir jedoch zulassen, dass unser Verstand diese Fakten verstellt durch Konzepte wie Ungeduld, Erwartung, Angst, Ärger oder Sorge – dann haben wir ein Problem. Vermeiden wir das, sind wir nur mit der Realität konfrontiert. Und die ist, wie sie ist. Ob wir uns aufregen oder nicht.

Bei großen Hindernissen kann es manchmal länger dauern, bis wir eine Lösung gefunden haben. Dies geschieht aber nicht durch grübeln, sondern indem wir das Hindernis genau betrachten und es als das akzeptieren, was es ist: Ein Hindernis – aber kein Problem. Wir sollten uns gelassen die Fakten ansehen und handeln, sobald sich eine Gelegenheit bietet.

Wie ein Tiger, der eine Beute belauert und im richtigen Augenblick zum Sprung ansetzt. Er beobachtet, lautlos und präzise – dann handelt er. Ich glaube nicht, dass ein Tiger grübelt, ob er springen soll oder nicht.

Was uns oft nicht klar ist: Probleme entstehen nicht einfach, wir schaffen sie uns selbst. Auch sie sind eine Falle des Verstandes. Sehen wir an, wie das geschieht.

Viele Probleme tauchen auf, weil wir mit einer festen Vorstellung durch das Leben gehen: Schwierigkeiten und Hindernisse sollten nicht sein – wenigstens nicht in unserem Leben. Wir mögen sie nicht, außerdem haben wir das alles nicht verdient, das Schicksal ist ungerecht. Damit tappen wir in die nächste Falle.

Wer hat jemals behauptet, dass das Leben gerecht ist?

Wir erwarten das einfach. Doch die Bewertung, dass etwas „gerecht“ ist, „gut“ oder „schlecht“ ist eine Erfindung des menschlichen Verstands. Tiere werten nicht. Außerhalb des menschlichen Verstands ist auf der Welt nichts gut, schlecht oder ungerecht – weder auf diesem Planeten noch sonst irgendwo im Universum.

Die Skala von negativen und positiven Wertungen gibt es nur in unserem Kopf – in der realen Welt existiert sie nicht.

Schon von Geburt an teilt der Mensch die Welt ein in gut oder böse. Dies geschieht mit dem binären Code des kindlichen Ego: Ich will / ich will nicht.

Was ich will, ist gut, was ich nicht will, schlecht.

Bewertungen sind ein perfektes Mittel, uns unglücklich zu machen. Oder glücklich, wenn sie positiv ausfallen.

Doch das muss nicht so sein. Nehmen wir Bewertungen, als das, was sie sind: Ein Werkzeug des Verstands, um sich in der Umwelt besser zurechtzufinden und aus vielen Optionen eine auszuwählen.

Auch ich trinke lieber einen guten Wein als einen schlechten, ziehe eine attraktive Wohnung einer Bruchbude vor, unterhalte mich lieber mit geistreichen Frauen, als mit solchen, die nur ihren Schmuck oder Körper spazieren führen.

Die Bewertung von Umständen ist also nicht sinnlos. Der Mensch hat diese Begriffe entwickelt, weil er sie braucht. Grundlage für eine Gesellschaft ist, dass man gewisse Wertvorstellungen teilt. Ethik ist die Basis von Zivilisation. Ein komplexes Sozialgefüge könnte in Anarchie nicht existieren. Auch wenn es außerhalb unseres Verstands kein GUT oder BÖSE gibt, brauchen wir diese Begriffe. Nur so können wir vernünftig handeln. Tiere können das nicht, sie handeln nur nach Instinkt.

Wertungen sind ein Konzept unseres Verstands, ein Werkzeug zum Überleben. Wenn wir es sinnvoll anwenden, ist es nützlich, andernfalls schafft es Probleme.

Das sieht dann ungefähr so aus: Stellen Sie sich einen Menschen vor, der zu dem Spaziergang aufbricht, den wir Leben nennen. Auf dem Rücken trägt er einen schweren Rucksack voller Ängste und Sorgen, über den Schultern balanciert er eine riesige Kiste mit Problemen. An seinem Gürtel hängen große Taschen, sie sind voller Konzepte, Prinzipien und Erwartungen, die ihn mit ihrer Last nach unten ziehen. Um seinen Bauch ist eine schwere Eisenkette gewickelt, daran hängt eine lange Reihe von Idealvorstellungen – Traumfrau/mann, Traumjob, Traumwagen, Traumhaus.

Stolpernd und keuchend zerrt Mann/Frau diese ganzen Lasten mit sich herum.

Das Erstaunliche dabei ist: Obwohl er sich nur mühsam auf den Beinen halten kann, würde er jederzeit behaupten, er ginge frei und unbeschwert durchs Leben.

Dieser Mensch sind wir.

Wie entgeistert würde uns dieser Mann wohl ansehen, wenn wir ihm klar machen, er muss diesen sinnlosen Ballast loswerden, um wirklich frei zu sein?

Verhalten wir uns nicht ziemlich absurd? Wir vergleichen die Realität mit unseren Konzepten und stellen dann betrübt fest, dass es eine Diskrepanz gibt. Das gefällt uns nicht, also haben wir ein Problem und leiden. Da wir die Realität oft nicht ändern können, müssen wir versuchen, unsere Konzepte zu ändern. Überlegen Sie, wie viel Ärger und Frustration würden verschwinden, wenn Sie das Konzept fallen lassen Im Leben muss alles gerecht sein.

Oder – gut, oder – angenehm?

Gibt es einen ungerechten Baum, einen schlechten Stein, eine enttäuschten Fisch?

Andere Manifestationen des Lebens haben kein Bewusstsein wie wir. Deshalb sind sie auch nicht den Fallstricken des Verstandes ausgeliefert. Sie denken nicht daran, das Leben jeden Augenblick an einer Skala selbsterfundener Werte zu messen.

Doch erinnern wir uns: Was wir haben, können wir auch wieder loswerden. Wenn wir die Erwartung fallen lassen, in unserem Leben müsste es immer gerecht zugehen, es sollte am besten ganz ohne Schwierigkeiten ablaufen, ändert sich bereits viel. Wenn wir Hindernisse nicht mehr als schlecht oder ungerecht einstufen, sind wir weniger enttäuscht, wenn welche auftauchen. Dann nehmen wir das einfach gelassen zur Kenntnis und akzeptieren sie.

Damit haben wir den Schlüssel gefunden, mit dem wir auch viele andere Probleme im Leben lösen können:

Die Akzeptanz.

Dabei geht es keinesfalls um phlegmatische Passivität, um ein willenloses Hinnehmen von Dingen und Ereignissen. Im Gegenteil. Gefordert ist ein waches Bewusstsein, ein glasklarer Geist, der sich nicht manipulieren lässt – weder von Stimmungen und Launen, noch von Ängsten und Sorgen. Ein Geist, der souverän beobachtet und sich konzentriert auf das, was wirklich geschieht. Daraus resultiert eine kraftvolle Haltung, voller Energie. Diese können wir dann einsetzen, um die Dinge zu verändern, die wir glauben verändern zu müssen.

Dies gelingt uns oder es gelingt uns nicht. Doch daraus müssen wir dann kein Problem machen.

Wenn wir das Leben akzeptieren, wie es ist – dann läuft es einfach ab. Mit all den Vorfällen und Schwierigkeiten, die es eben gibt.

Es ist etwas geschehen.

Wir nehmen es zur Kenntnis und handeln.

Oder auch nicht.

Das ist alles.

Die Interpretation oder Wertung des Vorfalls als Problem ist überflüssig und hat mit dem wirklichen Ereignis nichts zu tun.

Davon abgesehen – können wir im Augenblick des Geschehens überhaupt beurteilen, ob etwas gut oder schlecht für uns ist? Stellt sich dies nicht oft erst nach größerem zeitlichen Abstand heraus? Vielleicht dann, wenn wir ein einzelnes Ereignis mit all seinen Konsequenzen in unsere Biographie einordnen können?

Erinnern wir uns an unsere Jugend, als unsere erste große Liebe zerbrochen ist. Haben wir da nicht geglaubt, jetzt wäre alles zu Ende, diese Enttäuschung werden wir nie überleben?

Und war es nachträglich nicht gut, dass es so kam, sonst hätten wir nicht den Partner kennengelernt, mit dem wir jetzt zusammen sind?

Ein Mann, der entlassen wird und plötzlich arbeitslos auf der Straße steht, wird dies sehr wohl als negatives Ereignis werten. Erst Jahre später wird ihm vielleicht klar, dass dieser Vorfall ihn aus der Lethargie seines Büroalltags gerissen hat und durch diesen Schock ungeahnte Energien in ihm freigesetzt wurden. Diese wiederum haben ihn zu beruflichen Initiativen befähigt, die er sich vorher nicht vorstellen konnte. Mit dem Resultat, dass ihm schließlich eine Position angeboten wurde, an die er früher nicht zu denken gewagt hatte.

Natürlich gibt es tatsächlich Ereignisse, die sich negativ auswirken. Doch wissen wir das im dem Augenblick, in dem sie geschehen? Welchen Sinn hat also die Bewertung von Ereignissen, die wir permanent vornehmen?

Wenn wir schon unbedingt werten müssen, sollten wir es auf eine Art tun, die uns das Leben erleichtert. Wir könnten uns zum Beispiel fragen, warum ausgerechnet wir jetzt vor diesem Hindernis stehen. Ist das Zufall oder geht es zurück auf ein früheres Ereignis, das wir verdrängt haben?

Wenn es uns gelingt, hinter dem Hindernis einen Sinn zu vermuten, dann wird aus einem negativen ein positives Ereignis. Ein Vorfall, der uns zwingt, etwas zu lernen. Wer glaubt, alles im Leben sei Zufall, mag das tun. Niemand kann das Gegenteil beweisen. Doch als Denkmodell ist diese Haltung nicht besonders konstruktiv, denn wir sind dann wieder nur Opfer – Opfer des Zufalls.

Erinnern wir uns an den Mechanismus von Ärger: Wie wir auf ein Ereignis psychisch reagieren und wie wir einen Vorfall beurteilen, muss nichts zu tun haben mit dem, was wirklich passiert ist. Sobald wir auf diese Reaktion verzichten, können wir mit dem Ereignis sachlich und effizient umgehen. Ohne den unnützen Ballast einer Wertung, die negative Energiewellen wie Ärger, Enttäuschung oder Frustration in uns hervorruft, die uns nur hemmen oder blockieren.

Wenn wir uns darin üben, Ereignisse wertfrei zu akzeptieren – vielleicht nur aus Neugierde, um zu sehen, was passiert – können erstaunliche Dinge geschehen.

Henry Miller, dieser im Alter zu einem Weisen gewordene Erotiker, hat das so formuliert:

„Ein ganzes Leben lang rennen wir mit dem Kopf gegen die Wand und wundern uns, dass wir dauernd Kopfweh haben. Wenn wir uns einfach hinsetzen und gelassen die Mauer betrachten, werden wir vielleicht erkennen, dass es gar keine Mauer ist, sondern eine Brücke.“ (8)

VIDEO 2

Als die tief stehende Sonne auf ihrem Weg in den Pazifik sich hinter die Autobahnbrücke des Hollywood Freeway senkt, verlässt Laotse die Schnellstraße und biegt in den Sunset Boulevard ein. Gelassen zieht er seine schneeweiße Kawasaki auf die rechte Spur und lässt die schwere Maschine in die Zufahrt der Walmart-Filiale neben den KCET Studios rollen. Auf dem Parkplatz des Supermarkts kommt die Maschine vor einem schwarzen Truck zum Stehen, ein Pick-up mit hochgelegtem Fahrwerk und überdimensionierten Chromfelgen.

Elegant schwingt sich der Meister aus dem Sattel und nimmt den weißen Helm ab. Er stellt ihn auf den Beifahrersitz, die Sonnenbrille legt er daneben. Dann zieht er seine Sandalen aus und setzt sich vor dem überdimensionierten Hinterrad des Trucks auf den Boden. Sekunden später schließt Laotse die Augen und nimmt die Lotusstellung ein. Er beginnt zu meditieren.

Als am Strand von Malibu der inzwischen tiefrote Ball der Sonne den Horizont des Pazifiks berührt, rasen achtzehn schwarze Harleys der FUCK SATAN BROTHERS über den Sunset Boulevard, der jetzt seinem Namen endlich Ehre macht.

Die Gang donnert geschlossen durch das Rot der Ampel vor dem Supermarkt, dann biegen die Maschinen scharf nach rechts ab und erreichen dröhnend den Parkplatz.

Auf das Gesicht von Laotse, der mit geschlossenen Augen bewegungslos dasitzt, fällt ein Schatten. Zentimeter vor den nackten Füßen des Meditierenden kommt die Maschine des Gangleaders zum Stehen. Little Big Devil schaltet zuerst die dröhnende Stereoanlage aus, dann den Motor. Plötzlich ist es ganz still.

Nur die zwei schweren Eisenketten, die vom Hals des Anführers baumeln, klirren leise unter der offenen Lederjacke. Eine Phalanx von achtzehn Augenpaaren starrt unter achtzehn schwarzen Stahlhelmen auf die dürre Gestalt im Lotussitz.

Little Big Devil steigt ab. Sein mächtiger Schatten verschluckt die Silhouette des Meisters auf dem Betonboden. Er hebt den rechten Fuß und drückt seine Stiefelspitze hart gegen die Nase des Meditierenden. Laotse öffnet die Augen. Sein Blick fällt auf zwei silberne Sporen, die dicht vor seinem Gesicht in den letzten Strahlen der Sonne funkeln.

Wenn ich jetzt noch einen halben Muskel spanne,

hast du nichts mehr im Gesicht, womit du rotzen kannst,

Motherfucker.

Eine Sekunde später knallt der Stiefel den Kopf des Meisters brutal gegen die Chromfelge. Trotz des stechenden Schmerzes im Hinterkopf blickt Laotse ruhig auf den Fuss, der sein Gesicht eisern festhält. Dann wandert sein Blick hoch zu dem verschwitzten Gesicht des massigen Riesen, das unter dem schwarzen Stahlhelm, der dunklen Brille und dem mächtigen Bart fast verschwindet.

Dies ist sowohl richtig, als auch falsch.

Verdutzt vermindert Little Big Devil den Druck seines Fußes für einen Augenblick.

Ohne Nase hätte ich wohl kein Bedürfnis mehr,

mich mit dieser zu schneuzen.

Little Big Devil ist es einerseits nicht gewohnt, länger auf einem Fuß zu stehen, andererseits ist er sich nicht sicher, ob er in den Reihen der Gang hinter seinem Rücken nicht doch ein leises Kichern vernommen hat. Wütend beugt er sich vor, packt den alten Mann am Gewand und reißt ihn hoch.

Komm mir bloß nicht mit klugen Sprüchen, du Wichser.

Typen wie dich zerdrück ich mit der bloßen Hand.

Laotse blickt neugierig auf die Eisenketten, die jetzt auf der nackten, dicht behaarten Brust heftig hin und herschwingen.

Für Jemanden, der so viel Kraft hat wie du,

ist das doch kein Problem.

Das wäre wirklich nichts Besonderes.

Die zwei Totenköpfe von der Größe eines Golfballs, die Little Big Devil als Ohrringe, trägt, wackeln heftig, als er den Alten jetzt wild hin und herschüttelt.

Das Besondere ist dann, dass du deine verdammten

Sprüche jetzt gleich im Sarg murmeln kannst.

Mit einem verächtlichen Blick auf die dürren Rippen, die sich unter dem halb offenen Kimono abzeichnen, fügt er grinsend hinzu:

Wenn es sich überhaupt noch lohnt,

deinen Knochenhaufen irgendwo einzubuddeln.

Laotse‘s Blick wandert von den Totenköpfen zurück zu den zusammengekniffenen Augen unter der dunklen Brille.

Natürlich kannst du meinen Körper zerstören.

Das kann aber jedes Auto auch. Oder eine Gewehrkugel

Sogar ein kleiner, unsichtbarer Virus kann das.

Daran ist doch wirklich nichts Besonderes.

Little Big Devil spuckt seinen Kaugummi vor die nackten Füße des Alten und zieht Laotse jetzt so nah zu sich heran, dass sich ihre Gesichter fast berühren.

Sag noch ein verdammtes einziges Wort Mann, und es war

dein letztes. Ich schwör’s bei Satan, motherfucker.

Laotse sieht ihn lächelnd an.

Ich habe zwar diesen Körper, aber ich bin nicht dieser Körper. Zudem ist er schon etwas alt und abgenützt, Deshalb kann ich auch auf ihn verzichten, wenn es sein muss. Du musst dich wegen mir nicht beherrschen, wenn dir das große Mühe bereitet.

Für den Bruchteil einer Sekunde schließt Little Big Devils die Augen. Er spürt hinter seinem Rücken ein verhaltenes Grinsen auf den Gesichtern der Gang. Mit leicht zitternder Hand läßt er Laotse zu Boden sinken. Dabei fällt sein Blick auf die weiße Kawasaki, dann auf die beiden Reisstrohsandalen neben dem Vorderrad.

Ist dieses japanische Stück Scheiße etwa deines?

Laotse nickt freundlich.

Ein breites Grinsen macht sich auf dem Gesicht des Gangleaders breit.

Mal sehen, was dir jetzt einfällt, motherfucker.

Blitzschnell zieht er ein Bajonett aus dem Gürtel und stößt die Spitze in den Tank der Maschine. Sofort sprudelt ein Schwall Benzin über den Motorblock.

Ein betroffenes Raunen geht durch die Reihen der Gang.

Sieht geil aus, Motherfucker, nicht wahr?

Laotse blickt ruhig auf sein Motorrad.

Ich sehe ein Motorrad, aus dem Benzin läuft.

Mehr ist dazu nicht zu sagen.

Little Big Devils Augen blitzen gefährlich.

So, so, mehr fällt dir dazu nicht ein. Schade.

Mit einem Satz ist er bei der demolierten Maschine, schiebt sie auf eine freie Fläche zwischen die geparkten Limousinen und läßt sie dort zu Boden fallen. Einen Augenblick ist nur das leise Blubbern des ausströmenden Benzins zu hören, das schnell eine größere Pfütze um den Motorblock bildet.

Der Gangleader beugt sich zu Laotse herab, zündet ein Streichholz an und hält ihm die Flamme triumphierend vor das Gesicht.

Und was sehen die schlauen Augen des motherfuckers jetzt?

Immer noch lächelt Laotse.

Ein brennendes Streichholz und einen Menschen, der sehr aufgeregt ist.

Die Adern am Hals des Gangleaders scheinen im Licht der flackernden Flamme kurz aufzuleuchten.

Gleich wirst du noch ein bisschen mehr sehen, you fucking old bastard.

Little Big Devil springt auf und wirft das brennende Streichholz in die Benzinlache unter der Maschine.

In der Sekunde, in der die winzige Flamme durch die Luft fliegt, lassen sich achtzehn FUCK SATAN BROTHERS wie auf ein Kommando zu Boden fallen und pressen ihre erschrockenen Gesichter auf den Boden.

Einen Augenblick später ist der grelle Feuerblitz des explodierenden Motorrads bis zu den Hügeln von South-Hollywood zu sehen.

Als Little Big Devil die Augen wieder öffnet, sitzt Laotse mit dem Rücken zu den Flammen im Lotussitz und setzt seine Meditation fort. Der Gangleader starrt ihn fassungslos an. Dann kniet er sich hin, packt den Meister an den Haaren und reißt ihm den Kopf zur Seite.

Sag was, du Scheißkerl, verdammt nochmal,

sag, was du jetzt siehst, motherfucker.

Laotse öffnet die Augen und überlegt eine Sekunde.

Ein Motorrad brennt.

Mehr ist dazu nicht zu sagen.

Eine kleine Pause unterstreicht das freundliche Lächeln, das sich wieder auf seinem Gesicht ausbreitet. Mit einem Schrei knallt Little Big Devil seinen Kopf gegen die Stirn des Meisters. Für eine Sekunde starren sich beide Augenpaare regungslos an.

Es ist d e i n Motorrad, das jetzt im Arsch ist.

Your own fucking piece of shit, man.

Die Stirn des Meisters blutet, aber seine Stimme ist ruhig und freundlich wie immer.

Mein Körper braucht kein Motorrad.

Er kann sich auch anders fortbewegen.

Ganz langsam lässt Little Big Devil sein Gegenüber los. Die schweren Ketten auf seiner Brust blitzen im Schein des lodernden Feuers, das immer noch von kleinen Explosionen unterbrochen wird. Laotse wirft einen kurzen Blick auf die brennende Maschine, dann wischt er sich das Blut aus dem Gesicht und sieht den Gangleader freundlich an.

Übrigens, vor mir brauchst du nicht zu knien.

Du hast doch schon genügend Probleme mit deinem

kräftigen Körper.

Little Big Devil blickt entgeistert auf Laotse‘s Hand, die jetzt sanft und mitfühlend über die Tätowierungen auf dem gewaltigen Muskel seines nackten Oberarms streicht.

Wer ist stärker, du oder deine Muskeln?

In diesem Augenblick ertönt im Hintergrund eine Polizeisirene.

Die Mitglieder der Gang starten ihre Motoren. Mit einem Ruck springt Little Big Devil auf und läuft zu seiner Maschine.

Wir werden nie wissen, ob er den Satz noch gehört hat, den Laotse leise hinzugefügt hatte.

Ich hoffe, dir bleibt genügend Zeit, das herauszufinden.

Als die FUCK SATAN BROTHERS mit röhrenden Motoren auf dem Sunset Boulevard nach Santa Monica donnern, versinkt dort die Sonne im Pazifik.

Laotse schlüpft in seine Sandalen. Dann holt er das pinkfarbene Smartphone aus seinem Beutel, drückt sich die Lautsprecher ins Ohr und geht auf die Ausfahrt des Hollywood Freeway zu. Als er hoch zu dem im letzten Glanz des Tages glühenden Himmel blickt, ist ein friedliches Lächeln auf seinem Gesicht zu erkennen.

Das Lächeln des Sisyphos

Подняться наверх