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Prolog

Die Vergangenheit erfüllt mich vollkommen. Die Wirklichkeit besteht aus dem, was ich nicht mehr sehen, nicht mehr hören, nicht mehr riechen und nicht mehr berühren kann. Die einstige Sehnsucht, das einstige Verlangen, das vergangene Glück und der vergangene Schmerz, sie sind mein Leben. Brauche ich mehr?

In mir steigen Bilder auf, alte Bilder. Vor zwanzig oder dreißig Jahren waren die Lebewesen und die Gegenstände in diesen Bildern Wirklichkeit. Vor Jahrzehnten waren auch die Stimmen und die Geräusche, die ich noch heute hören kann, und die Gerüche, die ich immer wieder einatme, Wirklichkeit. Auf meiner Haut klingen Berührungen aus einer unvergessenen und doch fernen Welt nach. All diese Empfindungen, die unauslöschlichen Spuren von damals, sie bedeuten mir alles. Tatsächlich bin ich das, was ich war. Ein Anderer oder mehr als das, was ich war, kann ich nicht sein.

Ich bin 42 Jahre alt. Die Wirklichkeit von 42 Lebensjahren besteht aus so vielen Bewegungen und Begegnungen, dass kein Mensch sie erfassen kann. Wir bemerken nur den geringsten Teil von dem, was an uns vorbeizieht. Auf das Gedächtnis können wir uns nicht verlassen. Es hält die Dinge nicht fest, es lässt sie verloren gehen. Zudem erzeugt es zahlreiche falsche Erinnerungen an Dinge, die es nie gegeben hat. Also bin ich nicht das, woran ich mich erinnere, sondern das, was ich vergessen habe. Die Erinnerungen sind nichts als die Brosamen vom mächtigen Brot der Vergangenheit. Die Brosamen sind mir geblieben, das Brot habe ich verzehrt.

Darum ist diese Fotografie so wichtig für mich. Es ist ein Glück, dass ich sie besitze. Jeden Tag betrachte ich sie. Die Szene, die darauf zu sehen ist, hat sich tief in meine Seele eingeprägt. Sie war der Anfang von allem. Hätte ich die Fotografie nicht, würde ich vielleicht zweifeln an dem, was damals geschah. Sie wurde im Dezember 1990 an einem Sonntagnachmittag aufgenommen, wenige Wochen nach meinem sechzehnten Geburtstag. Sie ist der einzige Beweis für etwas, was damals entfesselt wurde, etwas Endgültiges und Folgenschweres.

Ich sehe einen Waldweg im Winter. Es liegt zwar kein Schnee, aber man kann die bittere Kälte fühlen. Die nackten Bäume muten wie erfroren an und auf dem Boden liegt totes Laub, mit Raureif überzogen. Die Luft ist in ein fahles Grau getaucht. So sehen die kürzesten Tage des Jahres aus: Das wenige Licht kehrt zur Finsternis zurück, bevor es seinen Schein richtig verbreitet hat. Der Waldweg verliert sich in einer leichten Biegung zwischen den Bäumen. Zwei Menschen entfernen sich, dem Weg folgend, vom Betrachter. Ich blicke ihnen hinterher.

Es sind junge Menschen, das erkennt man sofort. Das Mädchen ist halb Kind, halb Teenager. In seinen Kleidern, einem etwas zu kurzen Rock, wollenen Strumpfhosen und gefütterten Stiefeln, wirken seine Beine zu dünn und zu lang. Der Junge, einen Kopf größer als das Mädchen, sieht mit seinen breiten Schultern schon fast wie ein Mann aus. Mütze, Schal und Handschuhe des Mädchens haben dieselbe dunkelrote Farbe. Es sind die einzigen bunten Kleckse in dem Bild. Die beiden halten sich an der Hand, während sie in den Wald hineingehen. Dass sie fotografiert werden, scheint sie nicht zu kümmern. Vielmehr wirken sie so, als seien sie ganz allein auf der Welt.

Welches Glück, dass ich die Fotografie besitze!

Jona Beck, 2. Dezember 2016

Seltene Mädchen

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