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Zweites Kapitel
ОглавлениеDie Vorweihnachtszeit ertrug ich nicht. Niemand im Pfarrhaus ertrug die Vorweihnachtszeit. Die Beklemmung wuchs von einem Adventssonntag zum nächsten. Vom Heiligen Abend bis zur Neujahrsnacht fehlten nur noch sieben Tage. Genau eine Woche. Jedes Jahr kehrte diese Nacht zurück. Die Nacht, in der der katastrophale Autounfall geschehen war. Trotzdem, oder gerade deswegen, gestalteten wir die Vorweihnachtszeit so festlich wie möglich und besonders an den Adventssonntagen rückten wir alle näher zusammen. Gemeinsam schmückten wir das ganze Pfarrhaus mit Zweigen von Stechpalme, Efeu und Weißtanne. Überall hingen Lichterketten und in den Fenstern große, rote Sterne, die von einer Glühbirne im Innern erleuchtet wurden. Wir bastelten wie die Verrückten und backten Unmengen von Weihnachtplätzchen. So versuchten wir, die bösen Geister zu vertreiben. Ich kann mich nicht an die verschiedenen Jahre oder an einzelne Tage erinnern, sondern nur an Beklemmung und Betriebsamkeit als Ganzes. Die einzige Ausnahme ist der 2. Dezember 1990.
Nach dem Mittagessen fragten Thomas und Renate, ob jemand von uns Lust auf einen Sonntagsspaziergang habe. Esther, Jakob, Mirjam und Benjamin redeten sich heraus, sie müssten an ihren Weihnachtsgeschenken weiterarbeiten. In Wirklichkeit war es ihnen zu kalt für einen Spaziergang. Rahel ging mit, weil sie an Thomas hing und umgekehrt, weil sie sein Liebling war. Ich schloss mich an, weil ich es offenbar nicht lassen konnte, Renate ein wenig den Hof zu machen, seit ich sie beim Sonnenbad beobachtet hatte.
Thomas trug in seiner Freizeit fast immer einen Fotoapparat mit sich. Als wir nun durch den Wald stapften, kam ihm die Idee zu einem Bild. Es sollte wohl nach Hänsel und Gretel aussehen, jedenfalls sollten Rahel und ich händchenhaltend vorausgehen. Der Weg folgte einer Biegung und verlor sich zwischen den Bäumen. Der Betrachter mochte glauben, wir würden immer tiefer in den Wald hineinlaufen und nie mehr nach Hause zurückfinden. Wir fanden die Idee schrecklich und erhoben ein Protestgeschrei. Nie im Leben würden wir uns händchenhaltend ablichten lassen! Als Kompromiss boten wir an, nebeneinander zu gehen, aber ohne uns anzufassen.
Wenn Thomas eine seiner Bildideen umsetzte, machte er das meistens sehr umständlich. Er tüftelte mit Kameraeinstellungen und Bildausschnitten herum und strapazierte unsere Geduld. Auch für dieses Hänsel-und-Gretel-Bild brauchte er eine Ewigkeit. Rahel und ich liefen auf dem Wegstück hin und her, aber Thomas war unzufrieden und bat uns ein ums andere Mal, uns doch die Hände zu reichen. Schließlich sah mir Rahel in die Augen und zuckte die Schultern. Sie hatte genug und wollte, dass ich gute Miene zum bösen Spiel machte. Dann ging es auf einmal ganz schnell. Rahel und ich entfernten uns Hand in Hand. Hinter uns hörten wir das Klicken der Kamera und die Dankesrufe von Thomas.
Wir liefen immer weiter den Weg entlang und ließen die anderen hinter uns zurück, bis wir allein waren. Zuerst dachte ich noch darüber nach, wie ich Rahels Hand wieder loswürde, aber zugleich hatte ich Angst, sie könnte es missverstehen, denn ich wollte nicht schroff zu ihr sein. Dann fragte ich mich, ob sie meine Hand überhaupt freigeben würde, denn inzwischen hatte sie ein paar Mal nachgefasst und ihren Griff sogar noch verstärkt. Ich erschrak, als ich mir vorstellte, Rahel würde mich nie mehr loslassen. Mit der Zeit spürte ich immer deutlicher, dass sie an meiner Hand ging, weil sie an meiner Hand gehen wollte. Nach einer Weile spielte es gar keine Rolle mehr, dass es Rahel war. Außer uns gab es weit und breit niemanden, der uns hätte sehen können. Ich malte mir aus, die ganze Menschheit wäre ausgelöscht und die Welt gehöre Rahel und mir. Wir wären frei und wann immer wir wollten, würde uns die Hand des anderen trösten. Irgendwann vergaß ich, dass ich Rahel immer noch an der Hand hielt. Ich ließ sie erst wieder los, als wir zu Hause angelangten. Wir hatten die ganze Zeit weder gesprochen noch uns angesehen. Thomas und Renate waren schon eine halbe Stunde vor uns im Pfarrhaus eingetroffen.
Den Rest des Nachmittags verbrachte ich ausgestreckt auf dem Bett. Allmählich verdüsterte sich der Tag und der Himmel hüllte sich in Finsternis. Außer mir hielt sich niemand in den oberen Stockwerken auf. Von unten drangen die Stimmen und Geräusche der anderen – mal leiser, mal lauter – zu mir herauf. Ich hatte jahrelang gewartet, jedoch ohne das Gefühl zu kennen, das sich jetzt in mir ausbreitete und mich auszufüllen begann. Ich schmeckte ihr bitteres Salz und ihre süße Säure. Sehnsucht. Das war es, was im Wald mit mir geschehen war: Die Sehnsucht hatte mich verzaubert. Später, als ich am gedeckten Tisch saß, kam Rahel und setzte sich neben mich. Während des Abendessens berührten sich unsere Füße. Nach ein paar erstarrten Sekunden streiften wir unsere Pantoffeln ab und begannen, unter dem Tisch zärtliche Zeichen auszutauschen.
Am darauffolgenden Abend kamen wir beide barfuß zu Tisch. Wir hatten uns den Tag über nicht gesehen und uns nicht abgesprochen. Es war offensichtlich. Wir wollten beide wieder miteinander füßeln. Uns war klar, dass wir es nur im Verborgenen tun würden. Wäre es kein Geheimnis gewesen, hätte es nicht diese besondere Bedeutung gehabt. Wir suchten Intimität miteinander, über die wir nichts wussten, außer dass Dritte davon ausgeschlossen waren. Deshalb verhielten wir uns oberhalb der Tischplatte eher reservierter als sonst. Rahel unterhielt sich mit den Familienmitgliedern auf ihrer, ich mit denjenigen auf meiner Seite. Gleichzeitig konzentrierte ich mich auf Rahels Zehen, die zärtlich über meinen Rist strichen.
Von nun an saßen wir beim Abendessen meistens nebeneinander und liebkosten uns mit den Füßen. Was das bei mir auslöste, ist schwer zu beschreiben. Ich fühlte, wie zwischen Rahel und mir ein Band entstand, das von Mal zu Mal fester wurde. Ihre Gegenwart begleitete mich durch den Tag und ich dachte dauernd an sie. Das war etwas Neues, das ich nicht kannte. Ich war noch nie verliebt gewesen und mit sexueller Erregung schien es nichts zu tun zu haben. Als ich die nackte Renate beim Sonnenbad beobachtet hatte, war mein Schwanz groß und hart geworden. Das Verlangen hatte sich erst gelegt, nachdem ich zwei oder drei Samenergüsse gehabt hatte. Sehnte ich mich hingegen nach Rahel, bekam ich keine Erektion. Es war eine viel umfassendere Empfindung, die nicht aus dem Unterleib kam. Ich fühlte die Vorfreude am ganzen Körper, außen auf der Haut und inwendig in meinen Eingeweiden und Knochen. Ich wünschte, dass dieses Gefühl mich nie wieder verlassen, sondern dass es immer größer und größer werden würde. Ich wollte so eng und so stark mit Rahel verbunden sein, dass wir uns nie mehr voneinander lösen könnten.
In den drei Wochen bis Heiligabend gingen wir uns aus dem Weg. Wir taten beinahe so, als würden wir uns nicht kennen. Die Wirkung des Füßelns auf unsere Beziehung war stark und verstörend und schüchterte uns ein. Wir redeten nicht miteinander, weil wir nicht über etwas anderes hätten reden können. Wir hätten uns Fragen stellen müssen. Was wird nach dem Füßeln kommen? Wollen wir das Steuer aus der Hand geben und es geschehen lassen? Wirst du den nächsten Schritt machen oder soll ich es tun? Hätten wir miteinander geredet, wären vielleicht auch unsere Furcht und unsere Ungeduld zur Sprache gekommen. Wir ahnten bereits, dass diese Adventszeit nur ein Aufschub des Unvermeidlichen war.
Wir waren verstummt und verständigten uns vor allem mit den bloßen Füßen, aber nicht nur. In gewisser Weise war ich blind gewesen und jetzt passte das Bild, dass ich mir von ihr gemacht hatte, nicht mehr zu meiner Sehnsucht. Ich wollte lernen, Rahel zu sehen, und brauchte Zeit, um meinen Blick zu verändern. Wenn ich bedenke, welche Herausforderung das bedeutete, dann waren drei Wochen sehr wenig Zeit. Doch Rahel verstand, es mir leicht zu machen. Vor dem Zubettgehen verbrachte sie eine Viertelstunde im Badezimmer. Ich wartete so lange, wie sie brauchte, um sich auszuziehen, dann klopfte ich an die Badezimmertür. Sie ließ mich ein und schloss hinter mir wieder ab. Ich setzte mich auf den Rand der Badewanne und starrte sie an. Sie beendete ihre Toilette, ohne mich zu beachten. Jedes Mal, wenn ich sie musterte, brannte sich ihr Anblick tiefer in meine Netzhaut.
Rahel war dreizehn Jahre alt und sah auch aus wie ein Mädchen ihres Alters. Das klingt banal, aber für mich war es eine Überraschung. Ihr Gesicht war noch kindlich und ähnelte dem einer Puppe. Mund, Nase und Kinn waren klein und weich. Sie hatte lange, dichte Wimpern, aber so helle dünne Augenbrauen, dass man sie fast nicht sah. Sie war kleiner als ich, denn sie hatte ihre endgültige Körpergröße noch nicht erreicht. Auch Hüfte, Taille und Brüste fehlten noch. Nur ihre Extremitäten waren schon ausgewachsen und deshalb unverhältnismäßig lang. Aber nicht nur das, es waren die Arme und Beine einer jungen Frau. Sie waren so gleichmäßig und gerade, dass ich mich zurückhalten musste, sie nicht anzufassen. Rahel war schlank und knochig. Zwischen Schultern und Brustbein ragten ihre Schlüsselbeine hervor und hinterließen darüber und darunter tiefe Rinnen. Beim Betrachten dieser Körperpartie schnürte es mir die Luft ab und mir wurde schwindelig. Auch ihre Schulterblätter hoben sich deutlich von ihrem Rücken ab, sodass ich glaubte, ihr würden bald Flügel wachsen.
Aber am stärksten wurde mein Blick von der Stelle angezogen, wo sich unten am Becken die Innenseiten der Oberschenkel berührten. Dort war ein kleiner Hügel mit einer Kuhle darunter. Ich hatte sie manchmal beim Lesen oder beim Fernsehen beobachtet oder wenn sie nur dasaß und träumte. Dann bedeckte sie diese Stelle mit der Hand. Es schien genau die richtige Stelle zu sein, um die Hand darauf zu legen.
Wenn Rahel fertig war, ließ sie mich allein im Badezimmer zurück. Offenbar hatte sie kein Interesse daran, mich nackt zu sehen. Doch umgekehrt schien sie zu wissen, wie wichtig es war, dass ich mich mit ihrem Körper vertraut machen konnte.
In dieser Zeit veränderte sich ihr Geruch. Plötzlich nahm ich Ausdünstungen an ihr wahr, die vorher nicht da gewesen waren. Jetzt roch sie manchmal streng nach Schweiß und Harn, aber auch nach Angst und Kampf. Damit löste sie zwiespältige Gefühle in mir aus, so, als ob ich diesen Stoff kosten müsste und gleichzeitig fürchtete, er könnte gefährlich für mich sein. Der Geruch war so scharf und er steuerte meinen Blick auf eine Weise, dass ich eine ganz klare Vorstellung von ihrem Körper bekam. Jetzt begriff ich, warum ich dauernd die Kuhle zwischen ihren Schenkeln anstarren musste. Dort war die Stelle, die niemand berühren durfte.
Schließlich wurde es Heiligabend. Damit rückte aber auch der Jahrestag der Todesnacht näher. Es war die erste Weihnacht mit Zarah. Renate und Thomas kamen mir dieses Jahr noch bedrückter vor als sonst, und auch die Kinder verhielten sich auffallend grüblerisch, die älteren, Esther und Jakob, ebenso wie die jüngeren, Mirjam und Benjamin. Nur Rahel und ich verfielen nicht der jährlich wiederkehrenden Trauer. Nicht, dass wir fröhlich oder gar ausgelassen gewesen wären. Aber vielleicht zog uns die Zukunft so sehr in ihren Bann, dass wir keinen Raum für die Vergangenheit mit ihren bösen Erinnerungen hatten.
Ich kann mich an nichts von diesem Heiligabend erinnern, außer dass Rahel und ich uns als Einzige weigerten, mit zum Mitternachtsgottesdienst zu gehen. Thomas und Renate wichen der Auseinandersetzung aus und ließen uns gewähren. Vorher, bei der Bescherung, hatte Rahel mir etwas zugeraunt. Es klang so beiläufig, dass ich nicht einmal überrascht war:
„Du bekommst mein Geschenk, sobald die anderen weg sind. Ich warte oben auf dich. Mach kein Licht.“
Im Dunkeln fand ich den Weg in Rahels Zimmer und dort vernahm ich ihre Stimme. „Komm her und leg dich auf mich!“
Ich näherte mich dem Bett. An ihrem Umriss erkannte ich, dass sie auf dem Rücken lag und die Arme seitlich ausgebreitet hatte. Ich tat, was sie mich geheißen hatte.
Als die Kirchenglocke zum Vaterunser läutete, wechselten wir uns ab. Jetzt lag ich auf dem Rücken und sie bäuchlings auf mir. Als die Glocken den Segen und damit das Ende des Gottesdienstes verkündeten, sagte Rahel: „Das war der erste Teil von meinem Geschenk. Wenn du mehr davon willst, dann komm zu mir und wir tun es wieder.“
Ich lachte und bedankte mich und Rahel lachte mit. Wir waren beide erleichtert, weil es so einfach gewesen war. Es war nichts. Kinderkram. Wir lagen in unseren Kleidern auf Rahels Bett. Einer von uns lag unten und trug das Gewicht des anderen. Nach einer Weile tauschten wir. Das war alles. Wir waren so erleichtert, weil wir nichts getan hatten, wofür wir uns schlecht fühlen mussten.
Vor uns lagen fast zwei Wochen Weihnachtsferien. Das Haus war groß und die Familie war groß. Wir konnten immer wieder mal für eine Weile verschwinden, ohne aufzufallen. Ganz so einfach wurde es dann aber doch nicht, denn wir konnten nicht genug bekommen. Kaum war ein Schäferstündchen beendet, drängte es uns auch schon zum nächsten. Am liebsten hätten wir Tag und Nacht pausenlos aufeinandergelegen. So feierten Rahel und ich Silvester und Neujahr. Wir waren so erfüllt von dem, was wir miteinander erlebten, dass wir nicht nur unsere tote Mutter vergaßen, sondern auch alle, die am Leben waren.
Bei uns im Pfarrhaus herrschte ein sicherer Zusammenhalt aller untereinander. Daneben gab es natürlich Beziehungen, die viel stärker und enger waren als andere. Wir verwendeten das Wort Geist, um diese Nähe zwischen einzelnen Familienmitgliedern zu bezeichnen. Zum Beispiel hatten Jakob und ich schon immer einen speziellen Geist, weil wir gleichaltrige Jungen waren und keinerlei Berührungsängste voreinander hatten.
Seit Renate mit ihren Kindern zu uns ins Pfarrhaus gezogen war, hatte sich zwischen Esther und Mirjam eine innige Beziehung entwickelt, obwohl sie drei Jahre auseinander waren. Sie hatten jetzt auch ihren eigenen Geist.
Damals, als Benjamin zur Welt gekommen war, hatte die vierjährige Mirjam ihr Brüderchen „adoptiert“ – von Anfang an und für immer. Sie hörte tatsächlich nie auf, ihn zu bemuttern, während Benjamin umgekehrt immer noch total auf Mirjam fixiert war. Dieser Geist war besonders mächtig.
Rahel war ein Sonderfall, zwei Jahre jünger als Mirjam und zwei Jahre älter als Benjamin. Sie war ein typisches jüngstes Mädchen mit älterem Bruder: unabhängig, frühreif und individualistisch. Sie hatte mit unserem Vater Thomas Beck einen gemeinsamen Geist, was ihr eine starke Position in der Familie gab. Niemand glaubte, sie würde sich jemals mit einem anderen von uns verbinden.
Bevor unsere Mutter gestorben war, hatten Rahel und ich wenige Berührungspunkte gehabt. Sie hatte mich kaum beachtet. Nun trieben wir schon seit vier Jahren Reitsport zusammen und hatten uns mit Ansgar und Astrid befreundet. Im Augenblick orientierten wir uns nicht nur aufeinander zu, sondern ebenso weg von der Familie. Man hatte uns nur zwingen müssen, Hand in Hand durch den Winterwald zu spazieren, um diesen fremdartigen magischen Geist aus seiner Flasche zu befreien.
Sie war kein fremdes Mädchen und ich kein fremder Junge. Wir kannten weder Abstand noch Ausweichen. Wir begegneten uns nach dem Aufstehen und vor dem Schlafengehen. Wir verbrachten unsere Zeit miteinander. Wir akzeptierten uns mit den geheimnisvollen Seiten ebenso wie mit den gewöhnlichen. In dieser Alltäglichkeit geschah die intime Annährung zwischen Rahel und mir wie von selbst. So war es möglich, dass mich Rahel mitten im Kreis der Familie während der Heiligabendfeier zu sich einlud: „Ich warte oben auf dich.“
Wie wir den Übergang von den Weihnachtsferien zum gewohnten Schulalltag schafften, kann ich mir heute kaum vorstellen. Es könnte zuerst eine Pause eingetreten sein, die für Rahel und mich mit Erleichterung verbunden war. Denn am Ende der Ferien waren wir ausgelaugt gewesen. Nicht das Aufeinanderliegen hatte uns gerädert, nicht die halbe Stunde, in der wir still verharrten, sondern die Abstände dazwischen. Unsere Sinne waren ständig überreizt, weil wir unablässig am Auskundschaften waren, was im Pfarrhaus geschah. Wir mussten wissen, wie viele Familienmitglieder zu Hause und womit sie beschäftigt waren. Wir waren dauernd am Kombinieren, um herauszufinden, wann sich das nächste Treffen einrichten ließ. Im Grunde genommen taten wir zwei Wochen lang nichts anderes, als miteinander auf dem Bett zu liegen und danach den nächsten günstigen Zeitpunkt abzupassen. In den Zeiträumen dazwischen waren wir unruhig und angespannt. Wir hielten das Warten, bis wir uns wieder nahe sein würden, nur schwer aus.
Als wir wieder zur Schule gehen mussten, sahen wir uns morgens nur kurz beim Frühstück. Beim Abendessen saßen wir so, dass wir uns weder berühren noch anschauen konnten. Thomas und Renate reagierten beunruhigt. Sie glaubten, wir trügen auf diese Weise einen unlösbaren Konflikt aus, womit sie ja irgendwie sogar recht hatten. Rahel und ich ahnten bereits, dass unsere Sehnsucht eine Flamme war, die plötzlich zu einer Feuersbrunst ausarten konnte, die uns aufzehren würde, wenn wir nicht auf die Flamme achteten. Wir mussten das Feuer immer wieder begrenzen, was uns Dank unseres Spiels mit der vorgetäuschten Distanz tatsächlich leichter fiel. Vielleicht ahnten wir auch, dass die Flamme unser Geist war, der uns der Verlockung und der gegenseitigen Anziehung aussetzte.
Später dachte ich oft über diese Magie in unserer Beziehung und über das Paradoxon der Sehnsucht nach. Normalerweise empfinden wir Sehnsucht, wenn ein bestimmter Mensch unerreichbar ist. Die Sehnsucht wächst zusammen mit der Unerreichbarkeit und löst sich mit zunehmender Erreichbarkeit wieder auf. Unsere Sehnsucht, Rahels und meine, war anders geartet. Sie verhielt sich genau umgekehrt. Je näher wir uns kamen, desto durchdringender wurde die Notwendigkeit, noch näher und inniger beieinander zu sein. Wenn wir dabei waren, miteinander zu verschmelzen, wuchs der Wunsch nach Nähe zum anderen ins Unendliche. Hingegen verschwand die Sehnsucht, wenn wir uns aus dem Weg gingen.
Das meine ich mit dem Paradoxon der Sehnsucht. Man glaubt, jemanden zu vermissen, den man fest in den Armen hält. Und man vermisst ihn nicht mehr, wenn man ihn nicht in die Arme nehmen kann. In jenen Weihnachtsferien, als Rahel und ich mehrmals täglich, eben so oft wir konnten, aufeinanderlagen, wuchs unsere Sehnsucht über uns hinaus, sodass wir ganz winzig wurden und darin verloren gingen. Doch genau das wollten wir, in der Sehnsucht verloren gehen. Deshalb kam es einer Rettung gleich, als die Ferien zu Ende waren und die Schule wieder begann.
In dem Zeitraum zwischen Dreikönigstag und Karfreitag praktizierten wir das Aufeinanderliegen nur noch am Wochenende und jeweils nur ein Mal. Am Freitagabend also wurde Rahel allmählich wieder erreichbarer und mein Verlangen nach ihr begann zu drängen. Wir schauten uns wieder an und setzten uns am Tisch nebeneinander. Ich bekam Herzklopfen und einen heißen Kopf, Rahels Augen wurden glasig und ihr Körpergeruch stärker. Aber wir sprachen weiterhin kein Wort miteinander. Wenn wir bis Sonntagabend durchhielten, war das Erlebnis besonders süß und schwer. An einem Wochenende im Februar fanden wir keine ruhige Lücke, in der wir hätten verschwinden können. Am Sonntagabend waren wir kurz davor durchzudrehen. Doch dann flüsterte mir Rahel ins Ohr, ich solle warten, bis alle im Bett seien.
Das Pfarrhaus war dunkel und still, als ich gegen Mitternacht zu ihr hinüberging. Natürlich trugen wir um diese Uhrzeit unsere Schlafanzüge. Dieses Zusammensein übertraf alle vorherigen. Wir trafen uns, während die anderen schliefen. Es war schon fast mit Händen zu greifen, dass wir vor der ganzen Familie ein Geheimnis hatten und dass wir alles daransetzen würden, dass es ein Geheimnis blieb. Wir waren zwar nicht nackt, aber es war doch ein ganz anderes Gefühl, dass uns nur die Schlafanzüge trennten. Das Erlebnis traf uns mit einer solchen Wucht, dass wir uns Versprechungen machten.
Rahel sagte zu mir: „In der Heiligen Nacht habe ich dir versprochen, dass du zu mir kommen kannst, wenn du mehr davon willst. Ich schwöre dir, dass das die Wahrheit ist und nichts als die Wahrheit.“
„Und ich schwöre dir, dass ich immer zu dir komme, solange ich lebe“, erwiderte ich.
Von da an trafen wir uns nur noch um Mitternacht von Sonntag auf Montag. Manchmal stelle ich mir vor, wir hätten uns an unsere Schwüre gehalten. Sonntag für Sonntag und Jahr für Jahr. Sogar in diesem Moment träume ich davon, wir würden unser Ritual immer noch auf die gleiche Weise praktizieren wie damals, vor 25 Jahren.