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Drittes Kapitel

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Mit den Knospen kam der Frühling. Auch Rahels Leib entsprossen die zwei kleinen Knospen, aus denen ihre Brüste werden sollten. Sie verlor kein Wort darüber, sondern wartete, bis ich sie von selbst bemerkte, die kleinen Spitzen, die sich durch ihr Nachthemd abzeichneten. Unwillkürlich streckte ich meine Hand aus und strich sanft darüber. Rahel lachte.

„Möchtest du sie sehen?“, fragte sie. Ich nickte.

Sie streifte das Nachthemd über ihren Kopf und stand nackt vor mir. Rahels Haut war fein und blass. Um die Brustwarzen war sie fast durchsichtig. Die kleinen Brüste sahen tatsächlich aus wie zarte weiße Knospen, die bald aufbrechen und zu blühen beginnen würden. Ich starrte sie an und spürte, wie mich ihr Anblick bewegte. Ich hatte eine Empfindung, die genau so blass und zart war wie Rahels Brüste, eine Empfindung, die noch heute manchmal über mich kommt. Die volle Bedeutung dieses Moments, als sich Rahel vor mir entblößte, um mir zu zeigen, dass sich ihr Körper veränderte, verstand ich damals nicht. War es der Anfang davon, dass sie aufhörte, die kleine Schwester für mich zu sein?

Sie errötete und fragte leise: „Findest du, es sieht doof aus?“

„Was soll daran doof sein?“

„Ich weiß nicht. Wie findest du sie?“

„Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Sie sind richtig süß. Total niedlich.“

„Gefallen sie dir?“

„Sie sind etwas ganz Besonderes und passen genau zu dir.“

Rahel kaute auf ihrer Unterlippe.

„Sag mir, ob du sie magst!“

„Oh ja! Sehr sogar! Ich möchte sie richtig anfassen.“

Rahel schüttelte den Kopf. Sie hob das Nachthemd auf und verschwand in ihrem Zimmer.

Einige Tage später, als ich von der Schule nach Hause kam, erwartete sie mich.

„Ich habe die Mens.“ Es klang so erwachsen.

„Zum ersten Mal?“ Ich hätte mir am liebsten die Zunge abgebissen. Es war so klar. Sie hatte auf mich gewartet, damit es vor mir keiner erfuhr. Ich wusste ja, dass sie bis dahin noch keine Blutungen gehabt hatte. Doch sie sagte nichts, sondern zeigte mir nur eine lange Nase.

„Tut es weh? Ist es schlimm?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Freust du dich?“

Sie nickte. Dann umarmte sie mich. Ich hielt sie fest und drückte sie an mich.

„Dann freue ich mich mit dir.“

Diesmal hatte ich das Richtige gesagt, denn Rahel drückte mir schnell einen Kuss auf den Hals.

Es vergingen ein paar Tage, bis ich darüber nachzudenken begann. Ich hatte wohl verstanden, dass Rahels Brüste zu wachsen begannen und dass sie zum ersten Mal ihre Monatsblutung bekommen hatte. Aber ich hatte nicht realisiert, was das bedeutete. Es war ein merkwürdiger Moment, als ich es begriff. Er glich dem Schrecken, wenn einem einfällt, dass man etwas Wichtiges vergessen hat, und der darauffolgenden Verwunderung darüber, dass einem etwas so Wichtiges überhaupt entgangen sein konnte. Ich suchte nach einem Wort für das, was mit Rahel geschah. „Geschlechtsreif“ war alles, was mir einfiel. Ein Wort mit einem Missklang, der meine Gedanken durcheinanderwirbelte. Sie wird Kinder kriegen. Sie wird dem Baby ihre Brust geben. Dann fiel mir nichts mehr ein. In Wirklichkeit wollte ich nichts davon wissen. Rahel als erwachsene Frau war für mich ein beängstigendes Thema. Ich war den Schlussfolgerungen nicht gewachsen. Aber so weit dachte ich erst gar nicht nach.

Um mich sicherer zu fühlen, ließ ich meinen Intellekt in einer anderen Richtung suchen. Wie funktionierte das alles? Was genau geschah dabei? Aus dem einen Kind wurde eine Frau, aus dem anderen Kind ein Mann. Es gab Spermien und Eizellen, das wusste jeder. Aber wie sah es im Unterleib einer Frau aus und wozu diente was? Was wusste ich als Sechzehnjähriger eigentlich darüber? Ich kramte in meinem Gedächtnis nach den Fetzen, die ich aus Büchern und Zeitschriften, aus Biologiestunden und Gesprächen mit Ansgar gesammelt hatte und die ich nun zu einem Ganzen zusammenzusetzen versuchte.

Dass es im Pfarrhaus alle Arten von Aufklärungsliteratur gab, war kein Geheimnis. Bücher für Heranwachsende und für junge Paare, für die zweite Lebenshälfte und für das Vorschulalter. Es gab sogar solche mit kunstvollen Fotografien von nackten Liebespaaren sowie von werdenden und gebärenden Müttern. Das Richtige für mich, dachte ich mir, wäre ein Atlas von den menschlichen Geschlechtsorganen. Nachdem ich das Gesuchte gefunden hatte, vertiefte ich mich in die Schautafeln und Texte. Ich lernte bis tief in die Nacht hinein wie für ein Examen. Tatsächlich würde ich nach meinem Selbststudium bis zum Abitur von allen Mitschülern am besten Bescheid wissen, nicht nur über die Fortpflanzung, sondern auch über sämtliche Möglichkeiten, eine Schwangerschaft zu verhüten. Natürlich war mir nicht bewusst, dass ich mich keineswegs mit Gynäkologie befasste, sondern mit etwas, wofür es keine Bezeichnung gab, außer allenfalls Rahelogie. Ich hatte einen Anatomieatlas auswendig gelernt, dabei interessierte ich mich ausschließlich für die Scheide, Gebärmutter und Eierstöcke meiner vierzehnjährigen Schwester.

Die Jungen in meiner Klasse waren ständig in Aufregung darüber, dass es nicht nur Jungen, sondern auch Mädchen gab. Es gab die verschiedenartigsten Mädchen. Schöne, kluge, umgängliche, freche, reife Mädchen und viele andere mehr. Alle meine Klassenkameraden hielten ständig nach ihnen Ausschau, wie Weltraumteleskope nach fernen Galaxien. Sie schlichen ihnen nach, wagten es kaum, sie anzusprechen, hätten aber gern eines der Mädchen zur nächsten Party eingeladen, mit dem Ziel, es anzufassen und zu küssen, falls es sich nicht wehrte. Alle Jungen, die ich kannte, waren entweder mit Anbaggern beschäftigt oder aber damit, eine Abfuhr zu verdauen.

Was war nur mit mir los? Ich fand den Umgang mit Mädchen nicht komplizierter als denjenigen mit Jungen. Nur hatte ich bei manchen Mädchen das Gefühl, es könnte schön sein, mit ihnen zu schmusen. Weil ich ihnen gerne in die Augen schaute. Weil ich ihren Geruch gerne roch. Weil ihre Haut so rein und so weich aussah. Ich war nicht schüchtern und glaubte zu wissen, wie ich vorgehen müsste. Wenn ich „ihr“ über eine gewisse Zeit Aufmerksamkeit schenkte, würde sie sich einladen lassen und mit mir irgendwo hingehen, wo wir uns umarmen und streicheln konnten. Ob das Mädchen meiner Wahl mich mögen würde, fragte ich mich nicht. Doch ich zweifelte auch nicht daran. Jedenfalls mochte ich Mädchen gerne, sah jedoch keinen Grund, mich näher mit ihnen einzulassen. Immer wieder zerbrach ich mir den Kopf darüber, warum alle Jungen hinter den Mädchen her waren, nur ich nicht.

Hätte mich jemand gefragt: „Hast du schon ein Mädchen?“, dann hätte ich verneint. Ich hatte tatsächlich kein Mädchen, keine, mit der ich ging. Es war alles wie immer. Ich war noch nie verliebt gewesen. Ich hatte noch keinen Kuss erlebt. Ich sehnte mich nicht einmal nach einer Freundin. Doch den Grund dafür zu erkennen, war mir damals einfach verwehrt. Nichts lag mir ferner als die Vorstellung, Rahel und ich könnten ein Liebespaar werden.

Eines Abends ging ich zu Rahel hinüber. Sie saß an ihrem Schreibtisch und lernte für die Schule. Das erstaunte mich ein wenig. Es war die letzte Schulwoche vor den großen Ferien und sie hatte ihr Zeugnis schon bekommen.

„Kannst du in zehn Minuten wiederkommen? Dann bin ich mit allem fertig“, fragte sie mich, ohne sich umzudrehen.

Ich setzte mich auf ihr Bett und antwortete: „Ich warte hier.“

Sie murmelte etwas Unverständliches, das jedoch nicht abweisend klang. Also wartete ich und beobachtete sie, wie sie sich über ein Heft beugte, ein aufgeschlagenes Buch neben sich, und schrieb. Was für ein zartes Mädchen sie war! Von den Flügelchen auf ihrem Rücken wanderten meine Augen die Dornfortsätze ihrer Wirbelsäule entlang hinunter. Verwundert nahm ich wahr, dass sie eine Taille bekommen hatte und von hinten schon ein wenig wie eine Frau aussah. Auch ihr Gesäß war breiter und rundlicher geworden. Es war mir bisher nicht aufgefallen. Ich schloss die Augen, um mir den ungewohnten Anblick einzuprägen. Es klappte nicht beim ersten Mal. Immer wieder glitten meine Augen über ihre Rückseite und immer wieder betrachtete ich das Bild mit geschlossenen Augen. Ich fühlte einen Stich im Herzen. Ich fand, dass sie immer schöner wurde, und fragte mich, ob auch das, was ich empfand, immer stärker werden würde, je besser sie mir gefiel. Würde ich irgendwann in Ohnmacht fallen, wenn ich Rahel ansah? Oder würde ich bei ihrem Anblick ersticken? Ich stellte mir vor, sie stünde als antike Göttin auf einer Säule, und ich würde auf die Knie fallen und mich vor ihr verneigen.

Ich hörte sie kichern und schlug die Augen auf. Jetzt stand sie vor mir. Kein Zweifel, sie war ein paar Zentimeter größer als noch an Weihnachten.

„Bist du eingeschlafen?“, fragte sie.

Ich richtete mich auf und schüttelte den Kopf. Eine Weile lang schauten wir uns nur an.

„Du bist das schönste Mädchen, das ich kenne“, stieß ich hervor.

„Hör auf damit! Mirjam und Esther sind viel hübscher.“

Ich dachte nach und erwiderte:

„Ja, vielleicht. Kann sein, dass Mirjam und Esther hübscher sind als du. Aber hübsch ist nicht dasselbe wie schön. Hübsche Mädchen gibt es wie Sand am Meer. Schöne Mädchen sind selten. Du bist ein seltenes Mädchen, Rahel.“

Sie zog die Augenbrauen hoch und musterte prüfend mein Gesicht. „Ehrenwort?“, fragte sie plötzlich. Ich hob die rechte Hand und streckte zwei Finger in die Luft.

„Ehrenwort!“

Wieder kicherte sie.

„Du bist sicher nicht gekommen, um mir zu sagen, dass ich ein seltenes Mädchen bin …“

„Ich wollte dich fragen, ob du mich deine Muschi angucken lässt.“

„Meine Muschi? Was ist mit meiner Muschi?“

„Ich weiß nicht, wie sie aussieht.“

Sie lachte laut auf. „Ich weiß auch nicht, wie meine Muschi aussieht.“

Was wollte sie damit sagen? Verspottete sie mich?

Rahel schien meine Gedanken zu lesen.

„Das ist kein Witz. Ich habe meine Muschi noch nie gesehen. Ich komm da nicht hin, ich kann mich noch so krumm machen.“

„Dann können wir sie zusammen angucken“, schlug ich vor.

Sie setzte sich zu mir auf die Bettkannte und wir überlegten gemeinsam, wie wir es am besten anstellen und was wir dazu brauchen würden. Aus unseren Federbetten würden wir ein Polster formen, damit sie sich mit gespreizten Beinen aufrecht auf das Bett setzen konnte. In Esthers Zimmer hing ein großer Spiegel an der Wand. Wenn wir den Stuhl ans Bett heranzögen, könnten wir ihn dagegen lehnen. Die Lampe mit den drei schwenkbaren Spots aus dem Musikzimmer würde genug Licht abgeben. Wir würden unser Spiel aber heute nicht spielen können, weil zu viele Personen im Pfarrhaus umhergingen. Rahel nannte diese Untersuchung tatsächlich „unser Spiel“. Wir beschlossen, den nächsten Gottesdienst zu schwänzen. Wir würden uns unserem Spiel widmen, während die anderen in der Kirche saßen.

Doch bevor es soweit war, kam uns der Zufall zu Hilfe. Das war am Abend des letzten Schultags. Unsere älteste Schwester Esther berichtete bei Tisch von ihrem Besuch bei der Gynäkologin. Es hatte sich um eine Routineuntersuchung gehandelt. Die Ärztin hatte ihr gezeigt, wie sie sich selbst untersuchen konnte und ihr ein Spekulum mitgegeben, ein einfaches aus transparentem Kunststoff.

„Ich leihe es euch auch gerne aus, aber macht es nicht kaputt“, warf sie in ihrer provokanten Art in die Runde, ohne sich an eine bestimmte Person zu richten. Wer würde sich als Nächstes äußern und wie? Als sich Thomas räusperte, hielt ich unwillkürlich den Atem an.

„Seid ihr nicht ein wenig zu alt für Doktorspiele?“, fragte er, sah dabei aber Jakob und Mirjam an. Doch die beiden grinsten nur. Renate runzelte die Stirn. Auch wir, Rahel und ich, fixierten Jakob und Mirjam. Die zwei waren die Verdächtigen, nicht Rahel und ich. Also hatte noch niemand den übermächtigen Geist bemerkt, der uns zusammenhielt. Sie konnten ihn nicht bemerkt haben, denn schon seit einem halben Jahr schwiegen Rahel und ich uns an, wenn Dritte dabei waren. Unser Geist bewirkte auch, dass wir die Sache mit dem Spekulum nicht zu besprechen brauchten. Es war selbstverständlich, dass Rahel zu Esther gehen würde. „Darf ich mir das Ding einmal ansehen?“, würde sie fragen und sich einprägen, wo Esther das Spekulum herausholte und wo sie es wieder verstaute. Esther würde verstehen, dass Rahel neugierig darauf war.

Wir hatten uns gut vorbereitet. Rahel brachte Esthers Spiegel und das Spekulum, während ich die Leuchte holte. Gemeinsam bauten wir aus unserem Bettzeug die Rückenstütze für Rahel. Unser Spiel konnte beginnen. Sie zog sich vollständig aus, auch den Pullover und das Hemd und die Strümpfe. Sie tat es für mich – und weil es ihr gefiel, ein seltenes Mädchen zu sein, dachte ich. Sie nahm ihre Position ein und saß jetzt nackt vor mir, die Beine gespreizt, so weit sie konnte.

„Bitte, zieh dich auch aus, Jona.“ Es klang unendlich zärtlich. Ich verstand augenblicklich. Ich beugte mich über sie und küsste sie auf den Mund. Sie erwiderte den Kuss.

„Du hast recht, Rahel“, flüsterte ich und begann, aus den Kleidern zu schlüpfen. Als ich nackt war und mich aufrichtete, sah ich, dass sie sich die Lippen leckte. In diesem Moment spürte ich den Kuss, den ich ihr gegeben hatte, als eine Art Echo auf meinem Mund. Rahel sah mich aus aufgerissenen Augen an. Mein Herz begann wild zu hämmern und meine Gedanken liefen Sturm. Ich hatte sie zwar zum ersten Mal geküsst, aber es war doch nur ein Küsschen gewesen, ein Hauch von Mund zu Mund, eine Sekunde, höchstens drei. Oder nicht? So, wie Rahel vor mir saß und mir ihr Geschlecht darbot, bedeutete dieser Kuss etwas anderes. Aber was? Ich wollte etwas sagen, doch meine Stimme hatte mich verlassen.

Rahel hielt die Lippen geschlossen und nickte so schwach mit dem Kopf, dass ich es kaum erkennen konnte. Sie legte die Hände auf ihre Knie und zog ihre Schenkel noch weiter auseinander. Ich kauerte mich neben dem Spiegel nieder und begann mit unserem Spiel, das jetzt aufgehört hatte, ein Spiel zu sein.

Am Anfang ließ sie mich machen. Sie sprach nur, wenn ich ihr die Sicht auf den Spiegel verdeckte. Ich zog ihre Schamlippen auseinander und strich sie glatt, damit der Eingang zur Scheide frei lag. Ich sah mir alles genau an. Ab und zu bewegte Rahel das Becken, damit sie eine bestimmte Stelle besser sehen konnte. Weil sie so knochig war, wölbte sich der Venusberg hoch empor, als wolle er alle Blicke auf sich ziehen. Die Haut, die sich darüber spannte, war ganz glatt und weich. Auch Rahel schien davon angetan, denn sie begann, ihr Schambein zu streicheln. Das sah schön aus. Dann befingerte sie ihre Muschi überall. Ich schaute zu, wie sie sie in die Länge und Breite zog. Es sah aus, als wolle sie sie schließen und öffnen. Schließlich reichte sie mir das Spekulum.

„Sei vorsichtig“, sagte sie leise. Ihre Stimme war belegt.

Wir hätten wissen müssen, dass wir mit dem Spekulum nicht weit kommen würden. Wir hatten beide nicht daran gedacht, nicht daran denken wollen. Schon nach wenigen Zentimetern stieß ich gegen das Hymen. Das war die Bezeichnung, die in meinem Anatomiebuch dafür verwendet wurde. Das Wort hatte mit einem Gott der alten Griechen zu tun. Rahel stieß einen Seufzer aus. Vorsichtig öffnete ich das Spekulum millimeterweise, bis ich hineinspähen konnte. Unwillkürlich holte ich tief Atem. Das Häutchen! Es gab kein unpassenderes Wort als dieses. Das musste Rahel auch sehen. Ich half ihr, das Becken anzuheben und sich gleichzeitig nach vorn zu beugen, während sie das Spekulum selbst in die Hand nahm und ausrichtete. Sie erstarrte und rührte sich sekundenlang nicht. Gebannt starrte sie in den Spiegel. Ich wusste, was sie sah. Das Hymen schien aus Leder zu sein, aus zähem, hellem Leder. Es verschloss Rahels Scheide vollständig, bis auf zwei kleine ovale Schlitze in der Mitte. Einen jungfräulicheren Schoß konnte man sich nicht vorstellen.

Rahel zog das Spekulum heraus, ließ sich zurückfallen und streckte sich auf dem Rücken aus. Sie streckte mir ihre Arme entgegen.

„Komm, Jona, komm!“

Wir waren nackt. Das war nicht mehr unser Ritual. Als ich auf ihr lag, schloss ich sie in meine Arme, sehr zärtlich und sehr bestimmt. Auch Rahel schlang ihre Arme um mich und hielt mich fest. Nach ein paar Minuten wurde der Schlag unserer Herzen wieder langsamer. Dann begann die Kirchenglocke, das Vaterunser zu läuten. Wir schwiegen und lauschten. Als sie wieder verstummt war, flüsterte mir Rahel ins Ohr: „Vater unser, vergib uns unsere Schuld!“

Sie kicherte und fügte hinzu: „Bleib auf mir liegen, bis zum Ende.“ Sie meinte das Ende des Gottesdienstes.

Es war Mitternacht. Noch den ganzen Tag hatte ich Rahels Haut auf meiner gespürt. Es war höchste Zeit, um nach ihr zu sehen. Das ganze Pfarrhaus lag in schlafender Stille. Ich huschte zu ihrem Zimmer und lauschte. Kein Geräusch. Lautlos drückte ich die Klinke hinunter und stieß die Tür auf. Jetzt konnte ich ihre Atemzüge hören und ihr Geruch stieg mir in die Nase.

„Rahel!“, flüsterte ich, „Rahel!“

Keine Antwort. Ich schlich zu ihrem Bett und kniete mich am Kopfende hin. Gleichmäßige, friedliche Atemzüge. Es war stockdunkel. Ich schloss die Augen und stellte mir die Umrisse ihres Körpers unter dem Federbett vor. Ich hätte sie gerne berührt, ihr Gesicht gestreichelt, ihre Hand genommen. Aber ich wollte sie nicht aufwecken. Ich ging in mein Zimmer zurück, legte mich ins Bett und hing meinen Gedanken nach.

In den nächsten Tagen würde Rahel zu Oma Beck aufs Land fahren und so lange dortbleiben, bis sie genug von den Äckern, Obstbäumen und Beerensträuchern hatte. Indem Rahel den Bauern in den Obstgärten half, konnte sie sich ein gutes Taschengeld verdienen. Die Erntezeit hatte schon begonnen. Die Kirschen waren reif und vor allem die Beeren. Rahel liebte Beeren und würde beim Pflücken so viele davon naschen, dass sie Bauchschmerzen bekäme. Ich wusste nicht, wann sie wieder zurückkommen würde. Sie wusste es ja selbst nicht. Letztes Jahr war sie bei Oma Beck geblieben, bis die Schule wieder losging. War Rahel nicht bei mir, das wusste ich aus Erfahrung, dann vermisste ich sie nicht. Ich dachte zwar dauernd an sie, aber ich hatte nicht dieses Gefühl, ich wolle lieber sterben, als auf unser Wiedersehen zu warten. Es war vielleicht das Richtige, dass Rahel für eine Weile verreiste, nach dem, was wir heute getan hatten. Jedoch nicht nur heute, sondern die ganze Zeit, all die Monate seit Heiligabend. Bestimmt würde ihr ein wenig Abstand guttun. Ich für meinen Teil brauchte eine Denkpause. Jedenfalls redete ich mir das ein und kam mir dabei sehr vernünftig vor.

Wir waren eine neunköpfige Familie und konnten es uns nicht jedes Jahr leisten, in Urlaub zu fahren. Mir war das recht, denn ich fand Ferien mit der ganzen Bande ziemlich anstrengend. Auch Rahel fuhr lieber allein zu Oma Beck. Ich hatte nichts Konkretes geplant. Aber Ansgar und Astrid hatten seit Pfingsten eigene Reitpferde und wir konnten uns bei der Pflege und beim Training ein wenig abwechseln. Mit diesen Gedanken schlief ich ein.

Jemand rüttelte an meiner Schulter. Rahels Stimme gellte in meinen Ohren. „Aufstehen! Schnell! Du kommst zu spät zur Schule! Jona, wach endlich auf!“

Völlig verwirrt versuchte ich, mich aufzurappeln.

„Was für ein Tag ist heute?“, stieß ich hervor.

„Heute ist Montag. Heute ist der erste Ferientag“, rief Rahel und begann, schallend zu lachen. Ich konnte mich nicht dazu durchringen, ihren Scherz komisch zu finden. Mit saurer Miene wartete ich darauf, dass sie sich wieder beruhigte. Doch je griesgrämiger ich dreinschaute, desto mehr musste sie lachen. Nach einer Weile versuchte ich ein Lächeln.

„Okay, du hast mich reingelegt. Guter Trick.“

Rahel legte einen Zeigfinger an ihren Mund.

„Hör zu, Jona. Wir gehen zusammen weg. Du begleitest mich zu Oma Beck. Sie hat vorhin angerufen und sich erkundigt, wann ich komme. Sie hat gefragt, ob ich alleine käme oder ob noch jemand von uns mitkommen möchte.“

Ich begriff nichts. Gewiss hatte ich mich verhört. Rahel schaute mich an und brach wieder in Gelächter aus.

„Raus aus dem Bett, Jona! Du musst deinen Koffer packen. Nach dem Mittagessen fahren wir los, nur du und ich, zu Oma aufs Land.“

Von einer Sekunde zu andern war ich von unbändiger Freude erfüllt. Ich erglühte innerlich. Plötzlich fühlte ich mich ganz leicht und ganz warm. Wir würden Tage und Wochen miteinander verbringen, vielleicht die ganzen Ferien. Ohne Thomas, ohne Renate, ohne Geschwister. Nur Oma Beck und Rahel und ich.

„Aber was geschieht dort?“, fragte ich mich dann. „Was werden wir tun? Haben wir das überhaupt noch im Griff?“ Doch ich brachte keinen Ton über die Lippen.

Sie musste schon wieder lachen. „Du bist ja kalkweiß im Gesicht. Hast du Schiss vor mir?“

Seltene Mädchen

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