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Erstes Kapitel

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„Jona! Jona! Jona!“

Zu Tode erschrocken schlug ich die Augen auf und sah ins Gesicht meines Vaters, der mich aus dem Schlaf schüttelte. Auf den ersten Blick erkannte ich ihn nicht. Ein solches Gesicht hatte ich noch nie gesehen. Es war blutleer und nass von Tränen, der Rotz lief aus seiner Nase. Ich betrachtete es und fühlte mich mit einem Mal ganz klein und verloren. Es war jedoch Papa, der sich klein und verloren fühlte, so, wie er aussah. Ich fühlte eine schreckliche Angst.

Ich schrie: „Was hast du? Was ist los mit dir? Wo ist Mama?“

Er presste seine Lider fest zusammen, wie jemand, der glaubt, mit geschlossenen Augen sei das Schlimmste leichter zu ertragen. Ich lag rücklings in meinem Bett und konnte mich nicht rühren, weil er mich an meinen Schultern festhielt. Mit aller Kraft stieß ich ihn von mir weg, sprang aus dem Bett und rannte aus meinem Zimmer.

Bei Rahel, meiner kleinen Schwester, fiel das Licht durch die offene Tür. Esther, meine große Schwester, saß auf der Bettkante, hielt Rahel fest ihn ihren Armen und weinte. Wieder schrie ich: „Was ist los? Wo ist Mama? Was ist passiert?“

Hinter mir hörte ich jetzt Vater keuchen: „Mama lebt nicht mehr. Mama ist gestorben – im Auto. Beide sind tot. Mama und Onkel Maximilian. Ein Unfall.“

Vor mir meine Schwestern: die Große, vom Weinkrampf geschüttelt, die Kleine wie leblos in ihren Armen. Ich trat näher und legte Rahel die Hand an die Wange. Ich vergewisserte mich, dass sie bei Bewusstsein war. Vater stand hinter mir, aber ich drehte mich nicht um. Ich wollte ihn auf keinen Fall ansehen. Mir war schon beim ersten Anblick schlecht geworden, beim zweiten würde ich mich sicher übergeben.

Das ist es, was sich mir von dieser Neujahrsnacht ins Gedächtnis grub. Esthers Verzweiflung, Rahel auf ihrem Schoß, die Zartheit ihrer Wange, und hinter mir dieses Stöhnen und Keuchen: „Mama lebt nicht mehr.“

Später mussten wir eine Pille schlucken, von der wir nach ein paar Minuten wegdämmerten. Unser Vater, der Pfarrer Thomas Beck, las uns drei Kindern so lange Psalmen vor, bis wir das Bewusstsein verloren.

Thomas Beck und Maximilian von Wedel hatten ihr Theologiestudium im Jahr 1963 begonnen. Sie waren sich am ersten Tag des ersten Semesters begegnet und schon bald dicke Freunde geworden. Thomas Beck wollte schon immer Gemeindepfarrer werden, Maximilian von Wedel Seelsorger im Gefängnis oder in der Psychiatrie. Nachdem sie ihr Studium abgeschlossen hatten, lernten sie die Schwestern Angelika und Renate Sonntag kennen. Thomas heiratete Angelika und Maximilian heiratete Renate. Beide Ehepaare hatten drei Kinder, die Becks zwei Mädchen und einen Jungen, die von Wedels zwei Jungen und ein Mädchen. Pfarrer Beck bekam seine Gemeinde und Seelsorger von Wedel seine Sträflinge und seine Patienten.

In der Neujahrsnacht 1987 nahmen die Ehepaare an einer Silvesterfeier teil. Kurz nach Mitternacht brachte Thomas Beck seine Schwägerin Renate von Wedel nach Hause, weil sie Migräne bekam. Maximilian von Wedel blieb Angelika Beck zuliebe, weil sie die Party noch nicht verlassen wollte. Er hatte nichts getrunken, sie dagegen hätte nicht mehr fahren dürfen. Wenige Stunden später überfuhr ein schwer alkoholisierter Verkehrsteilnehmer eine Ampel bei Rot. Maximilian hatte Grün und wollte links abbiegen. Sein Auto wurde frontal von dem anderen erfasst. Angelika Beck und Maximilian von Wedel starben an der Unfallstelle. Sie ließen den Pfarrer Thomas Beck als Witwer, Renate von Wedel als Witwe sowie sechs Kinder als Halbwaisen zurück.

An die Jahre nach der entsetzlichen Neujahrsnacht 1987 erinnere ich mich kaum beziehungsweise nur ganz schwach und ungenau. Ich weiß eigentlich nur, dass ich meine Gefühle nicht mehr wahrnahm. Ich wusste nicht, was ich fühlte, ob ich überhaupt noch etwas fühlte. Ich fragte mich immer wieder, ob ich noch am Leben war, so unwirklich war das Fehlen meiner sämtlichen Empfindungen für mich. Von den vielen kleinen Begebenheiten und Umständen, die den Familienalltag ausmachten, weiß ich nichts mehr. Aber es geschahen auch unvergessliche Dinge und selbstverständlich habe ich das Gedächtnis an jene Jahre meiner Kindheit nicht vollständig verloren. An Ereignisse außerhalb der Familie kann ich mich eigenartigerweise noch am ehesten erinnern.

Da ich mich weigerte, an der Beerdigung teilzunehmen, wurde ich für ein paar Tage zu Oma Beck geschickt. Sie blieb meinetwegen der Beisetzung ihrer eigenen Tochter fern. Doch das weiß ich nur aus den Erzählungen der Erwachsenen.

Im Gedächtnis haften blieb mir jedoch eine große Sache aus dem Jahr 1988. Das Pfarrhaus war eine riesige, heruntergekommene Villa. Ein Industrieller hatte sie im vorigen Jahrhundert für sich und seine Familie gebaut und sie in seinem Testament der Kirchgemeinde vermacht. Nun zogen Tante Renate und die drei Von-Wedel-Kinder zu uns ins Pfarrhaus. Der Älteste, Jakob, war vierzehn wie ich, Mirjam dreizehn und der Jüngste, Benjamin, neun. Das war eine drastische Veränderung unserer Lebensumstände. Ich war nicht im Geringsten darüber verwundert, sondern es leuchtete mir auf der Stelle ein. Es schien mir die beste Lösung für alle zu sein und ich hatte irgendwie das Gefühl, die Zusammenführung der Familien sei meine Idee gewesen.

Esther, Rahel und ich sprachen unsere Tante mit dem bloßen Vornamen an, einfach Renate. Ebenso riefen Jakob, Mirjam und Benjamin ihren Onkel beziehungsweise unseren Vater bei seinem Vornamen, Thomas. Kaum lebten wir miteinander im Pfarrhaus, benutzten alle sechs Kinder für beide Erwachsenen nur noch die Vornamen. Meine Schwester Esther und mein Cousin Jakob, die beiden Ältesten, hatten damit angefangen und wir Jüngeren ahmten es ihnen nach. Wir alle wollten wohl Gleichgewicht und Gerechtigkeit in die neue Gemeinschaft bringen. Wir Kinder, die mutterlosen wie die vaterlosen, waren bereit, Thomas und Renate untereinander zu teilen. Wozu wir nicht bereit waren, war jemand anderen als die Verstorbenen „Mama“ beziehungsweise „Papa“ zu nennen. Beides konnten wir durch die Verwendung der Vornamen für die beiden verbliebenen Elternteile ausdrücken. Auch das schien mir die beste Lösung für alle zu sein.

Es war ein Glück, dass es funktionierte. Funktionieren konnte es deshalb, weil die beiden Familien seit jeher eng miteinander verbunden gewesen und wir Kinder miteinander aufgewachsen waren. Wir hatten eine Menge Freizeit miteinander verbracht, auch ganze Ferien und Familienfeiern. Dass Thomas und Renate im Jahr 1989 heirateten, überraschte mich kaum. Ich war inzwischen fünfzehn und hatte es kommen sehen. Zudem hatten Esther und Jakob, die zwei Erstgeborenen, kräftig die Werbetrommel für diese Heirat gerührt. Jetzt warteten wir nur noch darauf, dass Renate ihr Baby bekäme, unsere Halbschwester Zarah, wie sich herausstellen sollte.

Rahel, meine drei Jahre jüngere Schwester, bekam ihre ersten Reitstunden. Zu ihrem zehnten Geburtstag, wenige Monate nach der Neujahrsnacht 1987, wurde sie in dem Reitsportzentrum angemeldet. Warum kann ich mich ausgerechnet daran erinnern? Vielleicht weil Rahel und ich auf diese Weise eine eigene Sphäre außerhalb des Pfarrhauses bekamen? Das Reitsportzentrum lag außerhalb der Stadt und die Anfahrt war umständlich. Thomas und Renate wollten nicht, dass Rahel allein unterwegs war. Eines der älteren Geschwister musste sie dorthin begleiten. Keine Ahnung, ob ich mich freiwillig meldete oder ob ich dazu verdonnert wurde. Ich glaube nicht, dass ich aus freien Stücken reiten lernen wollte, aber es schien einfach zu meinen Aufgaben als Bodyguard dazuzugehören.

Rahel erwies sich als talentierte Pferdesportlerin und machte schnell Fortschritte. Das halbe Reitsportzentrum lag mir in den Ohren, was für ein Wunderkind sie sei. Und später bekam ich auch noch zu hören, welch hübsche kleine Amazone sie sei. Mir war das natürlich peinlich. Sie war das jüngste Mädchen von uns sechs Kindern. Nur unser Cousin Benjamin war noch jünger. Rahel sei etwas Besonderes, hieß es immer wieder. Ich hätte gerne gewusst, was die Leute damit meinten. Doch irgendwie war ich derselben Ansicht. Ich fühlte, seit ich denken konnte, einen gewissen Stolz auf Rahel.

Im Reitsportzentrum verkehrten lauter Frauen und Mädchen. Der einzige Junge zu sein, war mir immer ein wenig unangenehm. Doch nach zwei Jahren tauchte endlich ein anderer Junge auf. Er wurde von seiner Mutter chauffiert. Sie fuhr meistens ein silbernes Coupé mit breiten schwarzen GT-Streifen auf Kühlerhaube, Dach und Heck und mit vier zusätzlichen Rallye-Scheinwerfern vor dem Kühlergrill. Manchmal kam sie auch mit ihrem neuen Amischlitten. Unten war er in glitzerndem Gold lackiert und oben hatte er ein weiß bezogenes Dach. Die Typenbezeichnung habe ich mir bis heute merken können. Es war ein Oldsmobile Ninety-Eight Regency Brougham Sedan, Baujahr 1986.

Der Junge, der abwechselnd im Sportwagen und im Straßenkreuzer zum Reitsportzentrum gebracht wurde, hatte einen unmöglichen Vornamen, für den er sich schämte und mir leidtat: Ansgar. Ich war einen halben Kopf kleiner als er und ein Jahr jünger. Er sah blendend aus, wie ein Model. Für sein Alter hatte Ansgar ein viel zu männliches Gesicht, kantig und knochig, mit einem markanten Kinn und einer hohen Stirn. Sein Haar bestand aus unzähligen blonden Strähnen, die kein Kamm bändigen konnte. Wir wurden in kürzester Zeit enge Freunde. Genauer gesagt hatte ich während der Pubertät außer Ansgar keine Freunde und umgekehrt war auch ich sein einziger Freund.

Er hatte eine Schwester, Astrid, die gleich alt war wie Rahel. Auf ähnliche Weise wirkte auch Astrids Gesicht für ihr Alter viel zu weiblich. Wie das ihres Bruders war es breit, mit weit auseinanderliegenden Augen, einem breiten Mund und einem betonten Kinn. Sie sah aus wie die vierzehnjährige Kate Moss, die damals als Model für Calvin Klein ihre Karriere begann. Gleichzeitig gab Astrid das weibliche Pendant zu ihrem Bruder ab. Aus heutiger Sicht konnte nichts und niemand verhindern, dass wir uns irgendwann näherkommen würden. Damals war das jedoch unvorstellbar für mich.

Ansgar besuchte eine andere Schule, sodass wir uns nur in unserer Freizeit sahen. Er kam mehrmals pro Woche zu uns ins Pfarrhaus, weil er sich ein wenig in Mirjam verschossen hatte. Er verbarg es vor mir, weil es ihm peinlich war. Zu Recht, denn ich hätte zu jener Zeit nicht verstanden, wie sich ein Junge in meine Stiefschwester verlieben konnte. Jahre später, als Mirjam achtzehn war, verlangte er von mir, für sie und ihn den Kuppler zu spielen. Aber das ist eine Geschichte für sich. Damals bemerkte ich nichts davon. Überhaupt war mir die Sache mit dem Verlieben ein Rätsel. Ich lebte mit drei Mädchen in einem Haus und fühlte mich ihnen nah. Mädchen waren nichts Besonderes für mich. Ich sah in ihnen so etwas wie Jungen, die keine Jungen waren. Dass ich weitergehend darüber nachgedacht hätte, kann ich mir nicht vorstellen. Ebenso wenig beschäftigte es mich, dass Astrid kein Junge, sondern ein Mädchen war. Bei Ansgar dagegen spielte das Geschlecht eine entscheidende Rolle, denn zu diesem Zeitpunkt brauchte ich ganz bestimmt keine Freundin, sondern einen richtigen Freund. Selbst wenn ich vieles vergessen habe, was Ansgar und ich miteinander unternahmen und worüber wir sprachen, an eines erinnere ich mich genau: Es war schön, ihn zum Freund zu haben. Dieses Gefühl schlägt auch heute noch in meinem Herzen weiter.

Vieles jedoch, was in mir vorging, verstand ich nicht. Für mich als Jugendlicher zwischen zwölf und sechzehn waren Gefühle eine Energie, die mich entweder Katastrophen befürchten oder allenfalls an Wunder glauben ließ. Gefühle, ob erdrückend oder berauschend, wurden mir immer wieder zu viel. Es gab damals einen Song, dessen Text meine Befindlichkeit auf den Punkt brachte:

„Ich möchte ein Eisbär sein im kalten Polar.

Dann müsste ich nicht mehr schrei’n. Alles wär’ so klar.“

Doch so einfach ist es nicht. Was, wenn die Eisbärenjungen ihre Eltern verlieren? Niemand hat geschrien, glaube ich, weder meine Schwestern Esther und Rahel noch Jakob, Mirjam und Benjamin. Vielleicht habe ich es aber auch einfach vergessen. Noch heute, dreißig Jahre danach, weiß ich nicht, was der Tod bei jedem von meinen Geschwistern auslöste und wie jedes einzelne den Verlust verarbeiten konnte oder auch nicht. Irgendwie erscheint es mir undenkbar, dass es in unserer Familie für so etwas Großes und Schweres wie Trauer Raum gab. Stattdessen blieb mir in Erinnerung, wie Renate mit ihren drei Kindern zu uns ins Pfarrhaus zog und wie die entstehende Patchworkfamilie, die Heirat von Thomas und Renate, die Schwangerschaft und die Geburt der kleinen Zarah uns in Atem hielten.

Wir lebten schließlich nicht auf dem Packeis. Im Gegenteil, in unserer Kinderstube mit den drei Jungen und den drei Mädchen ging es immer heiß her. Der tragische Verlust hielt uns nicht von den wildesten und erfinderischsten Spielen ab. Wir Kinder hielten bedingungslos zusammen. Jedes einzelne war für alle anderen da. Dass wir oft miteinander in ein Bett krochen, um zu zweit oder zu dritt darin zu schlafen, das habe ich nicht vergessen. Diese Art von Trost war überlebenswichtig für uns. Überhaupt waren es nicht die Erwachsenen, sondern allein wir selbst, die uns in unserer Trauer selbstverständlich und ohne viel Worte gegenseitig stützten und nährten. So entstanden übermächtige Bindungen zwischen uns Kindern. Umso verwunderlicher, dass ich heute keinen Kontakt zu meinen Geschwistern habe. Manchmal ist es nicht zu verhindern, dass gerade die innigsten Beziehungen sich in nichts auflösen.

Der Trost meiner Geschwister war nicht der Grund dafür, dass ich nicht geschrien habe. Was wirklich mit mir los war, das erkannte ich erst viele Jahre später. Ich fand die Lösung des Rätsels, als ich wieder einmal darüber nachdachte, weshalb ich mich geweigert hatte, an der Beerdigung teilzunehmen. Ein Teil von mir akzeptierte die Wahrheit nicht. Mama lebte noch! Während ich mit den Meinigen weiterlebte, entwickelte ich insgeheim eine zweite Persönlichkeit, die auf Mamas Rückkehr wartete. Meine Seele führte ein Doppelleben. Tief in meinem Inneren glühte die Gewissheit, dass Mama zurückkehren würde. Damit sie auch tatsächlich zurückkommen konnte, musste ich ihr treu bleiben und ihr Andenken bewahren. Meine Liebe würde ihr den Heimweg weisen. Ich ging davon aus, dass es lange dauern würde bis zu ihrer Rückkehr. Umso besser. An der Größe meiner Geduld würde sie die Größe meiner Liebe erkennen. Auf meine Mutter zu warten, war mein wichtigstes und mein einziges Vorhaben. Mit allem, was ich mit meinen Geschwistern oder mit Ansgar und Astrid unternahm, schlug ich nur die Zeit tot. Ich konnte mich schließlich nicht hinsetzen, nichts tun und einfach nur noch warten, denn ich wusste zu diesem Zeitpunkt ja gar nicht, dass ich nur noch lebte, um zu warten. So spaltete ich mich auf in einen ewigen Muttersohn, der sich in der Totenwelt verbarg, und in einen heranwachsenden Pfarrhaussohn, der Rahel zum Reitsportzentrum begleitete und dort seinen Freund Ansgar traf.

Von meinen Stimmungsschwankungen weiß ich nur, weil Renate später manchmal darüber sprach. Sie hätten kurze Zeit nach dem Unglück begonnen und seien nach vier Jahren wieder verschwunden. Ich war schon vorher ein ruhiges Kind gewesen. Doch nun durchlebte ich Phasen, in denen ich mich völlig in mich selbst verkroch, mich für nichts interessierte und mich an nichts erfreuen konnte. Ich wurde dauernd gefragt, was mich denn beschäftige. Wenn ich darüber nachdachte und nach einer Antwort suchte, wurde mir klar, dass ich an nichts dachte. Stattdessen fühlte ich diese Leere in mir, die mich vollkommen ausfüllte.

„Es ist nichts“, erwiderte ich dann. Doch Thomas, der Pfarrer, berichtigte mich, indem er Kierkegaard zitierte:

„Ja, es ist Nichts, aber nicht nichts, sondern das Nichts.“

Er wiederholte das so oft, dass es mir in Erinnerung geblieben ist.

Die Stimmungsschwankungen kamen und gingen in Zyklen. Ich war wochen- oder monatelang präsent, bis ich ohne Vorankündigung in düsteres Brüten versank und während einer längeren Episode nichts fühlte außer der Leere und Schwärze in mir. So wirkte es sich aus, dass ich Mutters Tod leugnete und meine Existenz ganz dem Warten auf ihre Rückkehr widmete. Aber das konnte niemand wissen, die Erwachsenen nicht und ich selbst war am allerwenigsten in der Lage, es wahrzunehmen.

Als Thomas und Renate heirateten, sprachen wir Beck-Kinder manchmal über die Unterschiede zwischen unserer Mutter und unserer Stiefmutter. Wir zählten alle möglichen Vorzüge und Fehler der beiden Schwestern auf. Wir stellten uns viele Fragen, auf die wir keine eindeutigen Antworten fanden. Wer hatte es besser getroffen? Die Beck-Kinder oder die von Wedels? War es von Vorteil, Angelika zur Mutter und Renate zur Tante zu haben? Oder umgekehrt? Esther behauptete, Thomas und Maximilian hätten mehr Gemeinsamkeiten als Angelika und Renate. Die beiden Männer seien sich im Temperament, in ihren Interessen und sogar vom Aussehen her sehr ähnlich. Die beiden Schwestern dagegen seien wie Tag und Nacht.

Ich bin heute so alt wie Renate damals und betrachte die Dinge aus einem anderen Blickwinkel. Meine Tante war mit Mitte vierzig eine auffallend jugendliche Frau, immer charmant, oft auch kokett, eine attraktive Frau mit sinnlicher Ausstrahlung. So war sie schon vor dem Unglück gewesen und danach war sie nicht anders. Als Zwölfjähriger hatte ich noch kein Gespür für diese Art von Weiblichkeit. Mein Augenmerk galt auch nicht ihr, sondern Thomas, denn er war nicht mehr derselbe. Da ich mich nicht mehr an die Zeit unmittelbar nach dem Unglück erinnern kann, weiß ich nicht, was Angelikas Tod bei Thomas auslöste. Esther hat es mir später erzählt. Er habe regelrecht unter Schock gestanden und sei ungefähr ein Jahr lang schweigsam und niedergeschlagen gewesen. Im Übrigen hätte ich selbst ähnlich reagiert wie er, halb erstarrt und halb betäubt.

Ich hatte noch nie Erwachsene gesehen, die sich wie Teenager benahmen. Doch hier handelte es sich nicht um irgendwelche Erwachsenen, sondern um den Pfarrer Beck mit der Witwe seines besten Freundes beziehungsweise mit der Schwester seiner unlängst verschiedenen Ehefrau. Ihre Anzüglichkeiten gaben mir das Gefühl, alle Familienmitglieder wären in das Böse verstrickt und würden für diesen unabwendbaren Sündenfall bestraft und verdammt. Ich befand mich in einem Traum, in dem man fieberhaft nach dem Rückweg in die Wirklichkeit sucht, bis man endlich erwacht. Aber dann stellt man fest, dass das Erwachen bloß ein Teil des Traums ist und das Grauen weitergeht.

Ich war dazu verdammt zuzuschauen, wie Thomas Renate anfasste und küsste, wie er ihr Zeichen gab, woraufhin sie im Schlafzimmer verschwand und er ihr Minuten später folgte. Ich konnte sehen, wie gierig er war, als hätte er all die Jahre seiner Ehe unter Entbehrungen gelitten. Vorher war er mein Vorbild gewesen, jetzt war er mir fremd. In meinen Gebeten hatte ich mir immer gewünscht, so zu werden wie er. Von Neujahr 1987 an betete ich ohnehin nicht mehr. Das Beten war einfach unpassend geworden. Es hatte seine Grundlage und seine Bestimmung verloren. Hätte ich noch gebetet, dann hätte ich mir vermutlich gewünscht, nicht so zu werden wie Thomas, jedenfalls nicht so, wie ich ihn neuerdings erlebte.

Esther war schon in der Pubertät und wollte genau wissen, was vor sich ging. Sie beobachtete und belauschte das Paar so schamlos, wie sie konnte, ohne dabei entdeckt zu werden. Alle paar Tage versammelte sie Jakob, Mirjam und mich um sich, um uns das Liebesleben von Thomas und Renate in allen Farben zu beschreiben. Rahel und Benjamin ließ sie aus dem Spiel. Esther schien erklären zu können, warum sich die Erwachsenen so unanständig benahmen. Seltsamerweise war ich ihr dafür dankbar, obwohl es mich nicht wirklich erleichterte, im Gegenteil. Einerseits steckte sie mich mit ihrer Sensationslust an, andererseits nahm auch bei mir die Geschlechtsreifung ihren Verlauf. Esthers Aufregung bildete den Nährboden, auf dem meine erotische Fantasie zu keimen begann.

Eines Morgens im Frühjahr 1988, als die von Wedels schon bei uns im Pfarrhaus lebten, erwachte ich mit einer Erektion. Es war das erste Mal und ich brauchte ein paar Minuten, bis ich das Phänomen einordnen konnte. Bald erwachte ich täglich mit einer „Morgenlatte“. Die Bezeichnung hatte ich von Jakob, der sie von Esther hatte, wie er freimütig zugab. Als Nächstes bekam ich jeweils vor dem Einschlafen einen Ständer. Da ich nicht aufhören konnte, mit meiner Eichel zu spielen, kam es irgendwann zu meinem ersten Samenerguss. Bei der nächsten Gelegenheit fragte ich Jakob: „Du, sag mal, wie machst du das, dass bei deinem Schniedel Saft herauskommt?“

Er gab mir die gewünschte Auskunft und wir tauschten unsere dürftigen Erfahrungen aus. Doch ich argwöhnte, dass er mir etwas verheimlichte, und bedrängte ihn, damit herauszurücken. Es war nicht weiter schwierig. Offenbar wartete er nur darauf, das Geheimnis zu lüften.

„Pass mal auf!“, sagte er. „Es geht um deine große Schwester. Aber du musst dichthalten. Gib mir dein Ehrenwort!“

Er bekam es umgehend.

„Ich gehe zu Esther, wenn ich einen Ständer habe, und zeige ihn ihr. Meistens tut sie so, als ob sie sich davor ekelt, oder sie behandelt mich einfach wie Luft. Aber manchmal fasst sie ihn an. Sie nimmt ihn in die Faust und drückt zu.“

„Tut das nicht weh?“, fragte ich. Er grinste breit.

„Deine Schwester ist stark und gemein. So schnell lässt sie nicht wieder los. Aber davon wird meiner riesengroß. So dick krieg ich ihn selbst nicht hin, und es geht nicht mehr weg, bis zu einer Stunde, ich habe die Zeit gemessen. Es ist echt der Hammer!“

„Das ist verboten!“, schrie ich aufgebracht. Damals hielt ich alles Sexuelle für Sünde. Jakob tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn und lachte mich aus.

„Verboten? Meine Cousine ist deine Blutsschwester. Bei dir tut sie es bestimmt nicht.“ Er amüsierte sich großartig.

Das traf mich unvorbereitet und ich bekam die Sache in den falschen Hals. Als ich nämlich darüber nachdachte, welche Mitglieder unserer neuen Großfamilie wie miteinander verwandt waren, traf es mich wie der Blitz, dass Renate nur meine Tante und Stiefmutter war. Zuerst war es nur ein Pickel auf der Seele. Doch unmerklich begann ein Ausschlag die ganze Haut zu überziehen, aufzubrechen und zu schwären. Es endete damit, dass ich mir ausmalte, wie ich zu Renate ins Badezimmer schlich, um ihr meine Morgenlatte oder meinen Gutenachtständer zu zeigen, und wie sie mich bei meinem Geschlecht packte und mich nicht mehr freigab.

Ende August 1990, kurz vor meinem sechzehnten Geburtstag, erfüllte ich mir einen lang gehegten Wunsch. Es war ein normaler Wochentag und wir mussten alle zur Schule gehen. Es sollte einer der letzten heißen Tage werden, bevor der Herbst dem Sommer den Garaus machen würde. Nach der großen Pause verließ ich die Klasse und schwänzte die letzten Unterrichtsstunden. Ich wusste, dass Thomas nicht zu Hause war, Renate aber wohl. Ich rechnete damit, dass sie im Garten auf einer Liege lag und ein Sonnenbad nahm. Esther hatte fest behauptet, dass sie den Bikini auszog, wenn sie allein war. Ich schlich ins Haus, in die obere Etage und in das Zimmer mit der besten Sicht auf ihre Sonnenliege. Ich hatte schon morgens alle Jalousien herabgelassen und schräggestellt, sodass ich bequem darunter hindurchspähen konnte. Eine Stunde lang lag sie direkt unter meinen Augen, zuerst von vorn, dann von hinten und zum Schluss wieder von vorn. Ich hielt mich zwar in Deckung, aber dass sie mich trotzdem bemerkte, war durchaus möglich. Genau das machte, zusammen mit dem Anblick ihres entblößten Geschlechts, den Bann dieser Situation aus. Noch tagelang rätselte ich daran herum, wie sie sich verhalten hätte, wenn sie mich gesehen hätte. Es gab unzählige Varianten, die ich mit einer Mischung aus Erregung und schlechtem Gewissen alle durchspielte.

Wegen meiner erotischen Gefühle für Renate wurde meine Beziehung zu Thomas noch komplizierter. Ich verstand das alles nicht. Ich wusste nicht, dass vor allem Neid und Eifersucht im Spiel waren. Ich missgönnte Thomas die Lust, mit der Renate sein Begehren erwiderte. Insgeheim wollte ich ihm den Platz streitig machen, den sie ihm in ihrem Herzen, aber auch in ihrer Scheide einräumte. Diese Dinge durchschaute ich jedoch erst, als ich erwachsen geworden war.

Man ist nicht das, woran man sich erinnern kann. Ich war und bin bis heute das, was ich nicht mehr sein konnte, das Kind meiner Mutter. Ich ging nicht zu ihrer Beerdigung, wohl weil ich insgeheim glaubte, dass sie noch lebte und irgendwann zurückkäme. Ich müsste nur lange genug auf sie warten. Doch hätte sie wirklich zurückkommen können? Sie hätte den Ehemann in den Armen ihrer Schwester vorgefunden. Im Pfarrhaus hätte sie sechs, mit Zarah sogar sieben statt dreier Kinder angetroffen. Mich hätte sie aufgespürt, als ich in den Anblick ihrer nackten Schwester vertieft war. In Tat und Wahrheit hatten wir Angelika die Rückkehr längst versperrt. Deshalb war ich fortan bei ihr, dort in der Unendlichkeit. Doch mich an diesen Zustand zu erinnern, war mir immer unmöglich, damals wie heute.

Seltene Mädchen

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