Читать книгу Voll super, Helden (1). Einer muss den Job ja machen - Rüdiger Bertram - Страница 8
ОглавлениеUmsteigen, Einsteigen, Aussteigen
Auf der Fahrt las ich vier von den neuen Comics. Es hätten noch mehr sein können, aber ich hielt es für klüger, mir meinen Vorrat einzuteilen. Es war ja möglich, dass es am Meer auch mal regnete und ich gar nicht an den Strand konnte. Dann war es besser, wenn ich bei schlechtem Wetter nicht auf dem Trockenen saß.
Als ich nach drei Stunden in einen Bummelzug umsteigen musste, tat mir jeder Knochen weh, weil ich die ganze Zeit auf dem Boden gehockt hatte. Während der Fahrt hatte ich wegen der spannenden Comics gar nicht gemerkt, wie unbequem das war. Das spürte ich erst jetzt, als ich aufstehen wollte. Meine Beine waren eingeschlafen und ich war heilfroh, dass ich mich ein bisschen bewegen konnte.
Ich hielt Ausschau nach dem Wollmützenmädchen, konnte sie aber nirgendwo entdecken. Wahrscheinlich war sie schon vorher irgendwo ausgestiegen und natürlich hatte sie mir NICHT Bescheid gesagt. Mir war es egal. So wild war ich auf ein Wiedersehen mit ihr sowieso nicht. Das Mädchen roch nach Ärger und dem ging ich wie jeder vernünftige Mensch lieber aus dem Weg.
Der Anschlusszug wartete bereits am Gleis gegenüber, da konnte ich mit meinem schweren Koffer direkt wieder einsteigen. Ich freute mich, dass meine Reise so reibungslos über die Bühne ging. Mal abgesehen von der Sache mit der Reservierung. Doch ansonsten gab es echt keinen Grund zum Meckern. Ich konnte meine Beine wieder bewegen, hatte meinen Anschluss erreicht und schon in einer Stunde würde ich das Meer sehen. Ich war sehr zufrieden mit mir und hätte gerne meine Eltern angerufen, um ihnen zu sagen, dass alles in Ordnung war. Aber kurz vor der Abreise war mein Handy kaputtgegangen und meine Eltern hatten keine Zeit mehr gehabt, mir ein neues zu kaufen. Und auch kein Geld, vermutete ich.
Ich stieg in die Bahn und suchte mir einen Platz. Im Gegensatz zu dem Schnellzug war der Wagen fast leer. Ich setzte mich ans Fenster, öffnete meinen Koffer und holte eine Tafel Zartbitterschokolade heraus. Ich wollte einfach ein bisschen aus dem Fenster schauen und dabei meine Schokolade essen, Stückchen für Stückchen.
Meine Mutter hatte mir die Tafel für die Fahrt eingepackt, obwohl es bestimmt schwierig gewesen war, die zu besorgen. Schokolade war in den letzten Wochen knapp geworden, auch wenn keiner genau wusste, warum eigentlich. Umso mehr freute ich mich. Zartbitter ist nämlich meine Lieblingssorte, und weil Kinder die ja eher selten mögen, muss ich die nur ganz selten teilen.
Der Zug war schon angefahren, als ich das Wollmützenmädchen sah. Sie hatte einen Rucksack auf dem Rücken und kam den Gang entlang, genau auf mich zu. Ich tat so, als würde ich sie nicht sehen, und starrte aus dem Fenster.
»Ich habe eine Reservierung für den Platz, auf dem du sitzt«, begrüßte sie mich.
Ich drehte mich zu ihr. Ich konnte gar nicht anders. Sie stand jetzt direkt vor mir.
»Hier in dem Zug kann man gar nicht reservieren«, erwiderte ich.
»War ja auch nur ein Scherz, entspann dich mal.« Sie ließ sich auf dem Fensterplatz mir gegenüber nieder. »Bist du etwa immer noch sauer?«
»Ich musste die ganze Zeit auf dem Boden hocken, mir tut immer noch alles weh«, schwindelte ich, weil die Schmerzen inzwischen längst verschwunden waren.
»Du solltest mir lieber dankbar sein.« Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht, und so wie sie mich ansah, schien sie wirklich ein aufrichtiges Dankeschön zu erwarten.
»Wieso denn dankbar?«, fragte ich verständnislos.
»Mir gegenüber saß so eine alte Oma, die hat mich die ganze Zeit vollgetextet und mir ihr halbes Leben erzählt. Da ist dir echt was erspart geblieben.« Das Mädchen beugte sich zu mir herüber und brach, ohne zu fragen, einen Riegel von meiner Schokoladentafel ab. »Mein Name ist übrigens Jenny und ich liebe Zartbitterschokolade. Du auch? Ganz bestimmt, sonst hättest du die ja nicht eingepackt. Wie heißt du eigentlich?«
»Julian«, stotterte ich.
Eigentlich wollte ich noch viel mehr sagen. Zum Beispiel, dass man sich nicht ungefragt an fremden Schokoladen bedient und dass sie mit ihren Kopfhörern gar nicht hatte hören können, was die alte Dame ihr erzählt hatte. Aber dazu war ich einfach zu perplex, weil sie so unverschämt war. Außerdem passierte genau in diesem Augenblick etwas Seltsames. Ein silberner Zug raste an uns vorbei. Viel schneller als normale ICEs oder andere Schnellzüge. Schneller als jeder Zug, den ich je gesehen hatte. Die Scheiben klirrten und unser Wagen wurde so kräftig durchgeschüttelt, dass mir die Luft wegblieb. Aber nur ganz kurz, dann war es auch schon wieder vorbei und von dem silbernen Blitz war nichts mehr zu sehen.
»Was war das gerade?«, fragte ich verwundert.
»Was?«, fragte Jenny zurück.
»Na das, was da gerade in einem irren Tempo an uns vorbeigerast ist!«
»Irgendein Schnellzug, was sonst?!«, schmatzte Jenny, weil sie sich die Schokolade in den Mund geschoben hatte. Den ganzen Riegel auf einmal.
»Hier fahren keine Schnellzüge«, erwiderte ich. »Das ist eine Regionalstrecke. Dafür sind die Gleise hier gar nicht geeignet. Außerdem war der schneller als ein Schnellzug, das war eher so eine Art Rakete auf Schienen.«
Jenny zuckte nur mit den Schultern, weil sie der silberne Blitz nicht weiter zu interessieren schien. Stattdessen griff sie ein zweites Mal nach meiner Schokolade.
»Hey! Die gehört mir!«, rief ich.
»Stimmt«, sagte Jenny. »Du und ich, wir zwei haben echt eine Menge gemeinsam.«
»Wir? Was denn?«, fragte ich.
»Wir sind mit dem Zug unterwegs ans Meer und mögen beide Zartbitterschokolade. Hast du noch mehr davon? Ich habe schon lange keine mehr gegessen.«
Ich schüttelte den Kopf und schaute aus dem Fenster, um mich nicht weiter mit ihr unterhalten zu müssen. Das Mädchen war mir unheimlich, weil sie überhaupt keine Hemmungen zu kennen schien. Draußen vor der Scheibe flogen Bäume, Felder und Bauernhöfe an uns vorbei. Immer nur Bäume, Felder und Bauernhöfe und das war furchtbar langweilig. Ich tat trotzdem so, als wenn ich noch nie etwas Spannenderes gesehen hätte, und hoffte, dass wenigstens der silberne Raketenzug noch einmal auftauchen würde. Aber das tat er nicht. Ich konnte nicht mal das Meer sehen und so zogen sich die letzten Kilometer meiner Reise wie ein alter Kaugummi, der einem an einem heißen Sommertag unter der Schuhsohle klebt.